Cover
Titel
Geschichte Palästinas.


Autor(en)
Krämer, Gudrun
Reihe
Beck'sche Reihe 1461
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Lukas Kieser, Historisches Seminar, Universität Zürich

Bei einem politisch und religiös so geladenen historischen Thema wie "Israel/Palästina" ist es wichtig, dass Fachpersonen mit profunden Kenntnissen der Großregion über Einzelstudien hinaus Gesamtdarstellungen vorlegen. Binnen einem Jahr sind von Gudrun Krämers Palästina-Buch vier unveränderte Auflagen erschienen. Die Aktualität des Themas ist gegeben, das Bedürfnis nach Hintergrundinformation jenseits eingespielter ideologischer Grabenkämpfe offensichtlich akut. Diesem Bedürfnis mit einer umfassenden, multiperspektivischen "Beziehungsgeschichte" nachzukommen, hat sich die Autorin, Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, zur Aufgabe gemacht.

Eine kleine Internetrecherche zeigt, dass das neue Buch rezipiert und diskutiert wird. Ihr auf die osmanische und die Mandatsperiode konzentriertes, aber auch sachkundig in biblische Zeiten und aktuelle historiographische Debatten ausgreifendes Werk, ist bei aller Gelehrsamkeit lesefreundlich gestaltet. Es verdient das positive Echo, das ihm zuteil wurde. Einzelne Disqualifikationen aus Kreisen, die Zionismuskritik mit Antisemitismus assoziieren wollen, vermögen dem keinen Abbruch zu tun. Die folgende Besprechung würdigt das Werk und reflektiert Folgerungen daraus, kritisiert aber auch einzelne Gewichtungen, Interpretationen und Unschärfen.

Die Behandlung des osmanischen Palästinas umfasst etwas über 100 Seiten. Über Palästina von der osmanischen Eroberung 1516 bis Mitte des 18. Jahrhunderts erfährt man wenig; der überwiegende Teil betrifft die spätosmanische Epoche vom ägyptischen Intermezzo in Syrien und Palästina 1831-40 und den zentralistischen Reformbestrebungen der Tanzimat bis zum jungtürkischen Weltkriegsregime. Fast 200 Seiten nimmt die Darstellung der drei Jahrzehnte von der britischen Eroberung bis zur israelischen Staatsgründung 1948 ein. Dies mag auf den ersten Blick disproportioniert erscheinen, hängt indes mit der Quellendichte, der Intensität der wissenschaftlichen Diskussionen und der Relevanz für die Gegenwart zusammen. Zwar ist nicht zu übersehen, dass die Autorin mit dem 20. Jahrhundert vertrauter ist als mit den vorhergehenden und dass sie arabische Quellen und Literatur besser kennt als osmanische. Ihre Informationen zur osmanischen Zeit sind gleichwohl gründlicher als in Gesamtdarstellungen älteren und neueren Datums 1.

In ihrem Bestreben, denk- und handlungswirksame Bilder aus Kultur- und Religionsgeschichte aufzudecken, führt Krämer kompetent jüdische, christliche und muslimische Traditionsfäden zusammen. Auch eine kurze, aber relevante Einführung in den frühen Zionismus und seine Bilder von "Eretz Israel" gelingt ihr, kundig eingebettet in die Schilderung lokaler osmanisch-arabischer Realitäten. Etwas vage bleibt die Beschreibung des "musha"-Systems dörflichen Grundbesitzes in Palästina, das eine existenziell tragfähige Landwirtschaft für Kleinbauern ermöglichte, aber später namentlich der Landreform unter dem britischen Mandat zum Opfer fiel. Was die Absenz von Krieg, das gewaltlose religiöse Nebeneinander und die individuelle Bewegungsfreiheit in der Großregion betrifft, war die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg eine wahre Belle Epoque. Anders als die Historiographie im Banne des jüdischen Nationalstaates liest Krämer die Geschichte weder von ihrem "Ende" her noch stellt sie das vorzionistische Palästina als zivilisatorische Finsternis dar.

Eine weitere Stärke ihres Buches liegt im Einbezug westlicher wie östlicher Christen; sie weist auf den (vordergründig) überraschenden Befund hin, dass letztere Stiefkinder der historischen Forschung des 20. Jahrhunderts sind. Gäbe es nicht das akademische Werk des im Dezember verstorbenen Alex Carmel, wäre dies wohl auch mit jenen westlichen Christen der Fall, die - meist von der Idee der Heimkehr und Umkehr der Juden ("restoration of the Jews") beseelt - den Aufbruch im Palästina des 19. Jahrhunderts stark mitprägten. Darunter gab es zahlreiche deutsche protestantische Bauern, von denen Theodor Herzl seinen Romanhelden in "Altneuland" sagen lässt, die Zionisten hätten es "diesen Tüchtigsten der Tüchtigen" nachgetan. Von einem deutschsprachigen Palästina-Geschichtsbuch dürfte man vielleicht einen deutlicheren Einbezug dieses spezifischen Erfahrungsschatzes erwarten, und sei es nur der bibliografische Hinweis auf die Bücher über die Familien Steinbeck 2und Fallscheer-Zürcher 3.

Das Kapitel über den Ersten Weltkrieg vermag nicht ganz zu befriedigen. Die damaligen Geschehnisse, Stimmungen und Traumata bleiben - im Gegensatz zur Diplomatiegeschichte - konturlos, die regionale Beziehungsgeschichte im Dunkeln. Nablus erscheint fälschlich als unberührt von Cemal Paschas Terrorregime. Die Lektüre des Buches "Zeytindagi" [Ölberg], das Cemals Sekretär verfasst hatte, vermöchte da weiterführende Anregungen zu liefern (Cemal Pascha, der Kommandant der Vierten Armee und Gouverneur von Syrien mit Einschluss Palästinas, hatte auf dem Ölberg bei Jerusalem sein Stabsquartier) 4. Wilsons 14-Punkte-Erklärung, die der Selbstbestimmung der tatsächlichen Einwohner das Wort redete, stand im Gegensatz zur Balfour-Erklärung vom 2. November 1917, die sich für die Einrichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina aussprach. Dass Wilsons einflussreiche Deklaration "vom Januar 1919" (anstatt 1918) datiert wird, muss korrigiert werden. Was der Satz von der US-Truppenentsendung, die "nicht auf jüdischen Druck" hin geschah, im Kapitel über die Balfour-Erklärung bedeuten soll, ist mir rätselhaft geblieben (bekanntlich wahrten die USA trotz Kriegseintritt die Neutralität gegenüber dem Osmanischen Reich).

Mit ihrer differenzierten Darstellung der Mandatszeit widersteht Krämer von vornherein der Versuchung, das britische Scheitern verächtlich zu machen, vielmehr zeigt sie die wirklichen Probleme auf (nur die pauschale Gleichung Mandatssystem = Kolonialherrschaft, S. 195, passt nicht ganz hinein). Sie macht deutlich, wie dieses System die Grundlage für die staatsbildenden Maßnahmen der jüdischen Nationalisten aus Europa lieferte. So sehr diese sich auch an ihm rieben, war es doch gleichsam auf sie zugeschnitten, während die palästinensische Gesellschaft sich erst auf die andere politische Kultur einzustellen hatte und ihr zudem das europäisch-atlantische Beziehungsnetz als Basis zum Erfolg fehlte. Die Autorin weist auf den zentralen Umstand hin, dass jene Epoche die Trennung der palästinensischen und jüdischen Gesellschaft zunehmend zementierte. Sie zeigt, dass dies nicht etwa nur die Folge arabisch-islamischen Misstrauens gegenüber jüngeren Zionisten war, die sich als "Angehörige einer höheren Rasse" und "Herren in diesem Land" (Peel-Bericht 1937) aufführten, sondern zionistischer Regelungen, die - im Gegensatz zu alternativen Konzepten - auf einen ethno-nationalen Judenstaat, nicht eine jüdisch-palästinensische Zivilgesellschaft zielten.

Allerdings konnten minderheitliche Träger integrativer Projekte - Kulturzionisten und andere - kaum Dialogpartner finden, was den radikalen nationalistischen Sozialtechnologen entgegenkam und den Konflikt bis heute fast unlösbar machte. Krämer betont zutreffend, dass die revisionistischen Anhänger Großisraels, die einer erbarmungslosen Verdrängung der Nichtjuden das Wort redeten, schon 1935 keineswegs minderheitliche Querköpfe waren. Doch bleibt ihre Interpretation der detailreich dargestellten arabischen Reaktionen untief. Zu Recht stellt sie zwar Amin el-Husaini, den Mufti von Jerusalem und Repräsentanten eines zunehmend islamisierten palästinensischen Widerstands von der Realität Palästinas in der Zwischenkriegszeit und nicht von seinem Berliner Aufenthalt im Zweiten Weltkrieg her dar. Doch bedarf Husainis faschistische Option und sein Versagen einer breit gefassten kritischen Kontextualisierung. Vom Beginn seiner von den Briten beförderten Karriere an, noch vor dem provokanten Auftreten antiarabischer Revisionisten, lehnte er eine "jüdische Heimstätte" kategorisch ab.

Husaini stand nicht allein. Über lokale Probleme hinaus hatten solche Abwehrreflexe mit der Abkoppelung der Eliten von historischen Dynamiken und theologiegeschichtlichen Entwicklungen zu tun. Sie neigten dazu, das unverstandene Geschehen als globale Verschwörung zu deuten und sich einer Historisierung der eigenen, namentlich imperial islamisch geprägten Position zu verweigern. In diesem Zusammenhang vermisst man den gebührend kritischen Blick auf die spätosmanische islamische Reform- bzw. Restaurationsbewegung und den arabischen Nationalismus (der, wie Krämer zwar zu Recht betont, viel stärker vom sunnitischen Islam beeinflusst war, als bisher viele meinten). In einem prägnanten Abschnitt stellt die Autorin Izz al-Din al-Qassam vor, der postum zum Mythos palästinensischer Revolution wurde. Bei diesem aus Nordsyrien stammenden Aktivisten, der 1935 ca. 53jährig im Kampf mit den Briten in Palästina fiel, ging das palästinensische Engagement Hand in Hand mit Bemühungen um eine islamische Restauration. Deren Akteure träumten von der Vernichtung des jüdischen Projektes, das sie als Stachel im eigenen Fleische empfanden. Zugleich gingen sie mörderisch gegen Dissidente in den eigenen Reihen vor. Der Mangel an Pragmatismus und Vision verhinderte ein Eingehen auf zwar schmerzliche, aber langfristig lohnende Kompromisse wie den britischen Teilungsplan von 1937 oder den UN-Teilungsbeschluss von 1947. Nach dem militärischen Erfolg 1948 war es indes der Sieger, der sich an der Lausanner Nahostkonferenz 1949 als unzuständig für die von seinem Boden Entwurzelten deklarierte.

Im Konkurrenzkampf seit dem Ende der osmanischen Herrschaft fiel es der muslimisch-arabischen Seite ebenso schwer wie der jüdischen, die Anderen als prinzipiell gleichberechtigte politische oder gar heilsgeschichtliche Akteure einer gemeinsam zu gestaltenden Zukunft anzuerkennen. So sehr sie auch dem Zionismus kritisch gegenüberstanden, waren die palästinensischen Christen nicht bereit, bei einer islamistischen Militanz mitzumachen, die an das Gewaltmuster spätosmanischer antichristlicher Pogrome in Syrien und Anatolien erinnerte - dieser Befund ist nicht "auffällig" (S. 334), sondern logisch. Die islamistische Kooperation mit den Nationalsozialisten - so sehr sie primär den antibritischen Verbündeten suchte - war ideologisch nicht akzidentell. Bezeichnenderweise betrachtete Husaini sich allerdings in erster Linie als arabisch-islamischen, nicht palästinensischen Repräsentanten. Dieser Umstand wurde indes später fälschlicherweise pauschal mit dem europäischen Begriff "Antisemitismus" unterlegt und zur Diskreditierung berechtigter palästinensischer Anliegen missbraucht.

Krämer schildert eindringlich und auf der Grundlage neuester Forschungsergebnisse die Jahre von 1945 bis 1948; sie macht deutlich, wie in gefährdeter Situation, aber auch im Schatten des Entsetzens der Welt über die Shoah, in Palästina Fakten geschaffen wurden, die für die einen den Triumph in Form eines Nationalstaates und eines militärischen Sieges, für die anderen jedoch bis heute eine Katastrophe bedeuten. Die systematische illegale Einschleusung von "displaced persons" und der Terror von Organisationen, denen die späteren Ministerpräsidenten Yitzhak Shamir und Menachim Begin angehörten, trugen zum überstürzten Ende des britischen Mandates und zum offenen jüdisch-arabischen Krieg, die Ermordung des UN-Bevollmächtigten Graf Bernadotte durch einen jüdischen Terroristen zum Scheitern gerechter Vermittlung bei. Mit Verweis auf Benny Morris und andere "neue Historiker" aus Israel wie auch auf palästinensische Forscher stellt sie dem Mythos "selbstverschuldeter" Massenflucht die Fakten der Vertreibung gegenüber. Nichts drückt die gegenwärtige Perspektivlosigkeit im israelisch-palästinensischen Verhältnis indes deutlicher aus als Benny Morris' kürzlich formulierte Meinung, die 1948 unterlassene Totalvertreibung der Palästinenser sei eine verpasste Chance für die Schaffung künftiger Stabilität gewesen 5. Der Ausgewogenheit abträglich wird Krämers Erzählduktus, wenn sie gleichsam bedauernd schreibt, dass sich "ausgerechnet" die schlagkräftige Arabische Legion in ihrer territorialen Strategie an den UN-Teilungsplan und nicht den (maximalistischen) arabischen Schlachtplan hielt (S. 370).

Trotz der genannten Einwände ist Gudrun Krämers Buch gelungen und hilfreich. Es kann dazu beitragen, die aktuelle politische Debatte mit präzisen historischen Argumenten zu beleben. In formaler Hinsicht bleibt die Absenz eines Sachindexes sowie die Zumutung zu beklagen, dass intensiv Lesende den unübersichtlichen Anmerkungsapparat am Ende des Bandes mit Zetteln bestücken müssen, um sich rasch zurecht zu finden. Mit seinem Schwerpunkt macht das Werk deutlich, dass hinter der gegenwärtigen Perspektivlosigkeit in "dem Nahostkonflikt" nicht erst die Zäsur von 1948, sondern unverheilte Traumata der Zwischenkriegszeit stehen. Es fällt bis heute auch der Wissenschaft schwer, sie unverkrampft zu thematisieren.

Anmerkungen:
1 Z. B. Laurens, Henry, La question de Palestine, Bd. 1: L'invention de la Terre sainte, 1799-1922, Bd. 2: Une mission sacrée de civilisation, 1922-1947, Paris 1999-2002; Morris, Benny, Righteous Victims. A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881-2001, New York 2001; Perrin, Dominique, Palestine: une terre, deux peuples, Villeneuve-d'Ascq 2000. - Der Balkan, nicht Anatolien, beinhaltete vor Ende des 19. Jahrhunderts (wenn schon) die "Kernprovinzen" des Osmanischen Reiches (S. 74); auch gilt weiterhin, dass die französische Ägypten-Expedition von 1799 für den osmanischen Raum eine Zäsur bedeutete, S. 80.
2 Eisler, Jakob (Hg.), Deutsche Kolonisten im Heiligen Land. Die Familie John Steinbeck in Briefen aus Palästina und USA, Stuttgart 2001.
3 Sdun-Fallscheer, Gerda, Jahre des Lebens. Die Geschichte einer Familie in Palästina um die Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989.
4 Atay, Falih Rifki, Zeytindagi, Istanbul 1981 (Erstausgabe 1932).
5 The Guardian 21.2.2002 und 2.10.2002. Zu Recht stellt Krämer bereits in Morris' ansonsten innovativem Werk einzelne nationalistische Befangenheiten heraus, S. 411.

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