Titel
Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914


Autor(en)
Sarasin, Philipp
Reihe
stw 1524
Erschienen
Frankfurt a.M. 2001: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
DM 33,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Walter, Universität Konstanz Sonderforschungsbereich 511 "Literatur und Anthropologie"

Philipp Sarasins Habilitationsschrift "Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914" beschäftigt sich ausgehend von einem breiten Korpus hygienischer Schriften deutscher, französischer und englischer Sprache mit der Frage, wie Körper, Gesundheit und Sexualität in der Übergangszeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne wissenschaftlich konzipiert und als Erfahrung angeeignet wurden: Die hygienische "Sorge um sich" (Michel Foucault) wirkte laut Sarasin dabei als der phantasmatische Kern moderner Subjektivität (452-465). Im Zentrum seines Interesses stehen folglich nicht Verhältnisse der "Repression", sondern die Produktion einer bestimmen, historisch kontingenten Körperlichkeit. Indem sie Praktiken der Selbstreflexion und des Selbstregiments entwarfen, seien die Hygieneschriften dem aufklärerischen 'Sapere aude' verpflichtet gewesen. Sarasin erschließt den damit konstruierten Zusammengang medialer Absichtserklärungen und (mutmaßlicher) Folgen für die Subjekte auf semiotischem und medienanalytischem Wege, wobei er sich stark an der Theoriebildung Foucaults orientiert. Im Anschluß an Foucault kann man diesen Vorgang auf zweierlei Weise verstehen: (negativ) als "Gouvernmentalität", durch die Subjekte den Anforderungen der Macht freiwillig entgegenkommen, und (positiv) als "Selbstsorge", durch welche die Subjekte die Maßstäbe ihrer Existenz selbst bestimmten - durch diese Überlegungen entpuppe sich Foucault selbst als ein "großer Hygieniker" (28). Grundlegend für Sarasins Darstellung ist weiterhin das psychoanalytische Denken Jacques Lacans. Ihm entnimmt er die Überlegung, daß sich menschliche Erfahrung durch produktive Akte der sprachlichen Symbolisierung konstituiere. Das "Reale" des Körpers bestehe im Vorsymbolischen oder Nichtsymbolisierbaren, es sei dem Verständnis aber per definitionem als Reales nicht zugänglich. Menschliches Bewusstsein, menschliche Sprache und menschliche Kultur formiere daraus Erfahrungs- und Handlungswelten, geschichtliche Dispositive konkreten humanen Verhaltens und Erlebens.
"Hygiene" war nach Sarasin eines der "Zauberworte der Moderne" (17). Der Hygienediskurs drehte sich vor allem um die Frage nach der alltäglichen Lebensqualität: "Was für einen Sinn hat das eigene Leben, was für einen Zweck haben politische Bestrebungen, wenn der Körper von Krankheiten gequält wird und vor der Zeit stirbt?" (19) Diese Überlegung lässt sich unschwer auf die grundlegende Kritik beziehen, mit der ein Protagonist der "historischen Sozialforschung", H.U. Wehler, seit Jahren die kultur- und diskursgeschichtliche (Körper-)Forschung überzieht: Der Vorwurf lautet, sie sei irrelevant und beliebig, doch es wird am Ende wohl offen bleiben, was lebensweltlich und wissenschaftlich als entscheidend bewertet werden muss - die großen strukturellen Zusammenhänge politisch-gesellschaftlicher Systeme oder das individuelle Regiment der Lebensführung? Sarasins uneingeschränkt lesenswerte Studie liefert gewichtige Argumente für die zweite Lesart. Im ersten Kapitel "Regulation, Irritabilität, Individualität. Zur Genealogie des hygienischen Diskurses im 18. Jahrhundert" (32-94) versucht er zu zeigen, daß die Hygiene eine zentrale Technik der Reflektion und Ausarbeitung des bürgerlichen Subjekts gewesen ist, er möchte "darlegen, dass die Hygiene als Randdisziplin der Medizin zwar nicht gerade eine 'Lebenskunst' war, doch zu einem wesentlichen Teil eine Anleitung zu sorgfältigen, aufmerksamen Umgang mit sich selbst." (23f.) Neuzeitliche Hygieneschriften zeichnete ein Hybridcharakter aus, indem sie uralte humoralmedizinische Argumente und neuartige wissenschaftliche Terminologien miteinander verknüpften (27). Wesentlich wirkte einerseits das Denken der "sex res nonnaturales", mit dem seit der Hippokratischen Medizin der Umgang mit Speisen, Lebensweisen und Bewegungsformen, dem Klima, den Orten usw. beschrieben wurde (33-51) und andererseits aufklärerische Konzepte der Irritabilität, Sensibilität und des Vitalismus (51-71). Am Ausgang des 18. Jahrhunderts dienten sie den Hygienikern als intellektuelle Auswege aus einem religiösen, animistischen oder Descarteschen Dualismus von Körper und Seele (vgl. auch 91). Nicht die körperlose Seele, "sondern das, was auf der freigelegten Oberfläche der sezierten Gewebe als Zucken und Zusammenziehen sich zeigt," war für Hygieniker das "Wesen des Lebendigen" (56). Das Fleisch galt als Inbegriff der Conditio humana - damit präsentierte sich das hygienische Schrifttum letztlich als ein "Under cover-Materialismus" (64).

Im zweiten Kapitel "Diskurse, Bücher und Lektüren" (95-172) geht Sarasin von folgender Überlegung aus: "Vielleicht besteht Wissenschaft generell in nichts anderem, als Begriffe und Klassifikationen zu erfinden und von ihnen dann mit einigem Erfolg zu behaupten, sie würden die unschuldige Wahrheit der Dinge zum Vorschein bringen." (99). Das Schema der "sex res nonnaturales" diente folglich als "eine diskursive Maschine, um Wissen zu produzieren". (108) Die Hygienebewegung richtete sich zwar gegen den Katholizismus und den Aberglauben (134), sie stand jedoch nicht für den aufklärerischen Glauben an eine allgemeine Vernunft, vielmehr führte für sie "der private Vernunftgebrauch die Laien nun in die Irre" (140). Hygiene als Ordnungsdenken kannte keine Subjekte des Wissens, sondern berief sich mit ihren Aussagen auf die Gültigkeit allgemeiner Naturgesetze (144). Doch welche Relevanz hatten solche Konzepte im Alltag? Hygiene war eine "Populärwissenschaft" (124-136) und stand in kritischer Distanz zur "Schulmedizin" (125). Ein wesentlicher Verdienst Sarasins besteht darin, seine Ausführungen an diesem Punkt nicht bloß (wie diskursanalytisch üblich) als theoretische Überlegungen zu konzipieren, sondern sie durch empirische Nachforschungen untermauert zu haben (147-172). Die Betrachtung des (französischen) Buchmarktes zeige, so Sarasin, dass 95% der Autoren Ärzte waren (157). Zu den Leserschichten könnten allerdings nur Vermutungen geäußert werden (164).

Für Hygieniker war nur derjenige Tod, der eintritt, wenn die Lebenskraft eines Lebewesens von selbst erlischt, "natürlich" (73). Gesundheitliche Gefährdungen entstanden für sie durch Stockungen, Verengungen oder Blockaden der Säfte (74). Hygiene beschrieb ein "Mittelstandsprogramm für den Körper" (236), wobei keine "genauen" Normen anzugeben waren (240) - sie für sich festzulegen, war die selbstverantwortliche Aufgabe der (bürgerlichen) Subjekte. Die Thermodynamik und das Sprechen vom "Stoffwechsel" wirkten jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts als neue Ordnungsmuster des Diskurses (242f.), während zeitgleich Bakteriologie als Sprache des gestörten äußeren Gleichgewichts herhielt (247). Diese neuen, experimentell gewonnenen Formen des Wissens ermöglichen endlich exakte Angaben des Gleichgewichtszustandes (248). Damit einher ging die Biologisierung der Geschlechtsunterschiede: Nerven und Sensibilität, aber auch Muskeln und Gewebe von Mann und Frau wurden als grundlegend unterschiedlich konzipiert (92).

Das dritte Kapitel "Der Körper des Subjekts" (173-259) nimmt die Diskurse und Praktiken, über die sich das Bürgertum in Abgrenzung von Aspekten des Geschlechts, der Klasse und der Hautfarbe körperlich konstituiert hat, näher in den Blick. Schmutzige Haut, ungesunde Ernährung und eine ungeregelte Sexualität - Horrorszenarien in den Augen der Hygieniker - schrieb man ebenso "Wilden" wie Arbeitern und Adligen zu. Die konkrete Arbeit am bürgerlichen Körper begann an dessen Oberfläche (260-355). In Abgrenzung vom sprichwörtlichen Schmutz des Ancient régimes, zeigte sich die Kulturhöhe der bürgerlichen Gesellschaft an ihrem erhöhten Seifenverbrauch (260). Aus dem Schmutz des Adels und dem Schmutz der Arbeiter wurde das bürgerliche Subjekt herausgewaschen, eine neuartige Körperoberfläche sichtbar gemacht (310). Geregelte Körperbewegungen (313-344) repräsentierten ein weiteres bürgerliches Ideal. Ein nie ermüdender Körper erscheint dabei als eine "nineteenth-century utopia (Anson Rabinbach, zit. nach 314). Regelmäßige Arbeit und Bewegung nobilitierten den Menschen, aber Proletarier arbeiteten andererseits zu viel (319). Als Vorbild galt demgegenüber ein athletischer Körper (328); die Hygieniker waren vom körperlichen Training geradezu fasziniert (333), und trainiert werden sollten auch die Nerven: eine defensive Hygiene sollte sie vor Überreizung schützen (354).

Exemplarisch wirkten hier die Überlegungen zur potentiellen Gefährlichkeit des Sexes, denn auch geschlechtliche Lüste und Exzesse störten das liebseelische Gleichgewicht (211-248). Die Moral der Hygieniker verwies deshalb nicht auf religiöse Normen (219), sondern begriff die Lust als "ein Zeichen, das immer schon metonymisch auf ein anderes verweist, nie zur Ruhe kommt und immer neue Lust fordert: Lust auf Lust" (219f). Auch Fortpflanzung war für Hygieniker nicht der entscheidende Punkt für legitime sexuelle Betätigung, sondern der Verweis auf die ursprüngliche "Natur" und die "Instinkte" des Menschen (389). Sexualität war dabei eingebunden in ambivalente Taktiken des Verschweigens und des Aussprechens: "Das Reden über den Sex blieb, anders als heute, heikel, und bis zum Ende des Jahrhunderts überwogen insgesamt die Hygieneschriften, die sich auf Andeutungen und Allgemeinheiten beschränkten." (386; auch 366-368). Die Angst vor dem Exzess, der zivilisationsbedingten "Künstlichkeit" sexueller Reize kulminierte in der Furcht vor dem körperlich schädlichen Wirkungen der Masturbation (230). Onanie symbolisierte prototypisch den Gebrauch der Organe "über Gebühr" (233). Diese "phantastische Angst" vor der Onanie (404) führte im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem Generalverdacht gegen alle und jeden. Diskursiv erzeugte sie "eine wirkliche Sexualisierung des gesamten Lebens [..., die] dabei gleichzeitig aber dem Sex erst sein modernes Gewicht gab" (416). Nicht nur Sigmund Freuds Sexualtheorien (422), sondern auch die modernen Gender troubles nahmen nach Sarasin hier ihren Anfang (430).

Im Abschnitt "Von der Degenerationsangst zur Rassenhygiene" (433-451) verweist Sarasin schließlich auf Folgen des hygienischen Denkens für die politische Geschichte Deutschlands. Ängste vor Erbkrankheiten waren bei den Hygienikern nicht dominant (440), doch das Ergebnis hygienischer Bemühungen schien diesbezüglich doppeldeutig: Indem sie den Schwachen und Kranken das Überleben erleichterte, behindere sie die "natürliche Selektion" (442). Mit der Verbreitung des Darwinismus schwand der optimistische Glauben an die perfectibilité des Menschen zugunsten phantastischer Untergangsszenarien der "Rasse" (443), und neue hygienische Deutungsmuster wurden etabliert: Das rassenhygienische Denken verband sich mit der sexualhygienischen Bewegung dahingehend, dass man jedem Menschen zwar ein Recht auf geschlechtliche Lust zuerkannte, aber zugleich die Fortpflanzung individueller Verantwortlichkeit zu entziehen suchte. So drängte am Ende die kollektive Verantwortung zur Gesunderhaltung der "Rasse" das ältere subjektzentrierte hygienische Denken in den Hintergrund (450).

Sarasin hat eine grundlegende Arbeit vorgelegt, die weit mehr beschreibt als einen diachronischen Aufriss des deutschen, englischen und französischen Hygieneschrifttums vom Ausgang des Ancient Regimes bis zum Ersten Weltkrieg. Er entwickelt in überzeugender Weise ein Modell dafür, wie ein (populär-)wissenschaftliches Körperregime innerhalb des Bürgertums in eine gelebte Praxis übersetzt wurde. Seine Studie wird in den kommenden Jahren ohne Zweifel für Körperhistoriker eine unverzichtbare Lektüre darstellen. Doch wäre es wünschenswert, dass seine Überlegungen auch im Bereich der politischen Geschichte nicht übergangen werden. Dann wird die Frage, was entscheidend war - Strukturen, Theorien oder ein leiblich erlebter Alltag - vielleicht auch dort in neuem Licht gesehen werden. Zu fragen z.B., ob nicht auch Adolf Hitler ausgehend von seinen Vorstellungen über jüdische und arische, gesunde und entartete Körper, Volksgenossen und Rassekörpern wie ein verhängnisvoller Hygieniker wirksam war.

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