Th. Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit

Titel
Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz


Autor(en)
Welskopp, Thomas
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 54
Erschienen
Anzahl Seiten
839 S.
Preis
€ 65,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lengwiler, Universität Zürich

Die Debatte zwischen Kulturgeschichte und Sozialgeschichte gehört heute zweifellos zu den einflussreichsten geschichtstheoretischen Kontroversen. Leider verlief die Diskussion bisher vor allem auf theoretischer Ebene. Empirische Studien, an denen sich der praktische Erkenntnisgewinn der "historischen Kulturwissenschaften" überprüfen liesse, besitzen wir erst wenige, einmal abgesehen von den alltagsgeschichtlichen und mikrohistorischen Untersuchungen, die streckenweise vergleichbare Anliegen verfolgen.
Nun legt einer der profiliertesten Vertreter der kulturalistischen Wende, Thomas Welskopp, eine Untersuchung vor, die sich gut als empirischer Testfall für die Frage nach dem kulturgeschichtlichen Innovationspotential eignet. "Das Banner der Brüderlichkeit" ist die überarbeitete Fassung von Welskopps Habilitationsschrift und schliesst zunächst eine wichtige Forschungslücke. Die Arbeit untersucht die Frühgeschichte der deutschen Sozialdemokratie von 1848 bis 1878, ein Zeitraum, der im Vergleich zu den angrenzenden Epochen, dem Vormärz und der Zeit des Sozialistengesetzes, nur sehr oberflächlich untersucht ist. Weil die Geschichte der Sozialdemokratie zu den klassischen sozialhistorischen Gegenständen gehört, bietet das Buch auch eine direkte Konfrontation zwischen dem Erklärungswert der Kultur- und dem der Sozialgeschichte.

Mit rund 800 Seiten ist die Untersuchung umfangreich geraten. Dies liegt zum einen an der Argumentationsbreite, zum andern an der Fülle des verarbeiteten Quellenmaterials. Im Verlauf von zwanzig Kapiteln untersucht Welskopp nicht nur die soziale und organisatorische Basis der frühen Sozialdemokratie (Teil I), sondern ebenso die kulturellen Alltagspraktiken der sozialdemokratischen Vereinsbewegung (Teil II), sowie das Zusammenspiel zwischen politischer Praxis und Theoriediskurs, von Lassalle bis zu Marx & Engels (Teil III). Ebenso breit ist die verarbeitete Quellenbasis, die neben den einschlägigen Archivalien auch eine grosse Zahl gedruckter Quellen (darunter viele Periodika) umfasst. Beispielhaft für die Materialdichte ist das dritte Kapitel, in dem der Autor das Führungspersonal sozialdemokratischer Organisationen kollektivbiografisch untersucht. Aufgrund zeitgenössischer Statistiken lässt sich errechnen, dass die sozialdemokratische Bewegung zwischen 1848 und 1878 insgesamt rund 5000 Aktivmitglieder umfasste. Von dieser Gruppe hat Welskopp eine Auswahl von knapp 2300 Einzelbiografien erhoben - ein Sample, das man schon fast nicht mehr als Stichprobe zu bezeichnen wagt (S. 145f.).

Welchen Erkenntnisgewinn bringt also der kulturgeschichtliche Ansatz? Im Mittelpunkt von Welskopps Studie steht die Kritik am sozialhistorischen Klassenbegriff. Die Grundthese des Buches ist, die frühe Sozialdemokratie nicht als Klasse sondern als radikaldemokratische Volksbewegung zu interpretieren, ein Argument, das sich unmittelbar aus der kulturalistischen Untersuchungsperspektive ableitet. Ausgangspunkt der Studie ist zwar weiterhin die Sozialstruktur der frühen Sozialdemokratie (Vereinsorganisation, soziale Herkunft und Status der Mitglieder), doch anschliessend konzentriert sich Welskopp auf die Analyse der sozialdemokratischen Organisationskultur. Dieses "Parteimilieu", ein Schlüsselbegriff bei Welskopp, zeigt, dass die deutsche Sozialdemokratie ursprünglich eine viel bürgerlichere Bewegung als bisher angenommen war. Zwar wusste schon die bisherige Forschung, dass die Sozialdemokratie, zumal in Deutschland, weder proletarische noch gewerkschaftliche sondern handwerksnahe und assoziationspolitische Wurzeln besass, womit sie teilweise die historische Nachfolge der zünftischen Standesorganisationen antrat. Welskopp geht jedoch einen Schritt weiter und zeigt überzeugend auf, dass das assoziationsdemokratische Parteimilieu einen sozialen Integrationsanspruch besass, der mit einem Klassenmodell nicht zu verstehen ist. Die sozialdemokratischen Vereine agierten als Teil einer radikaldemokratischen Sammlungsbewegung, mit dem Verein als Minirepublik und Kernorganisation einer umfassenden Volksbewegung. Die sozialdemokratischen Arbeiter verstanden sich als "citoyens" und nicht als Proletarier (S. 255ff.). Das macht die frühe Sozialdemokratie auch zum "bürgerlichen" Phänomen, bürgerlich im Sinne des radikaldemokratischen Bewegung im Vormärz. Das "Banner der Brüderlichkeit" steht letztlich in der Tradition des "liberté, égalité, fraternité". Das ist der Hintergrund, vor dem Wilhelm Liebknecht noch 1872 behaupten konnte, dass die Sozialdemokratie neun Zehntel ihrer Mitgliedschaft den Demokraten zu verdanken habe (S. 565).
Mit der radikaldemokratischen Interpretation der frühen Sozialdemokratie verbindet Welskopp eine Historisierung des Klassenbegriffs. Die klare Trennung in Arbeiterklasse und Bürgertum trifft für die Zeit vor 1870 nicht zu (S. 34ff.). Erst nach der Reichsgründung 1871 und der gesellschaftlichen Ausgrenzung durch das Sozialistengesetz radikalisiert sich die Sozialdemokratie und gerät in klare Opposition zum liberalen Bürgertum. Anhand einer Fülle alltagskultureller Beispiele zeigt Welskopp zudem, wie die Assoziationsbewegung nicht Produkt sondern vielmehr Motor dieses Klassenbildungsprozesses war. Damit stellt er in überraschender doch überzeugender Weise eine sozialhistorische Kernthese auf den Kopf. Die Klassenspaltung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum ist nicht Ausgangspunkt, sondern teilweiser Folgeeffekt der sozialdemokratischen Assoziationsbewegung. Die Sozialdemokratie geht mit andern Worten der Arbeiterklasse historisch voraus.
In ähnlicher Weise relativiert das Buch von Welskopp eine zweite sozialhistorische Grundannahme: die vieldiskutierte These des deutschen Sonderwegs. Ein Bestandteil der Sonderwegsthese ist, dass Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert eine unterentwickelte Zivilgesellschaft aufweise, als Folge der missglückten demokratischen 1848er Revolution sowie der erfolgreichen monarchisch-obrigkeitlichen Nationalstaatsgründung. Zumindest für das radikal- und sozialdemokratische Parteimilieu trifft diese These nach Welskopps Untersuchung nicht zu. Die vielfältige Assoziationskultur zeugt vielmehr von einer ausdifferenzierten zivilgesellschaftlichen Bewegung trotz den politischen Enttäuschungen von 1848 und 1871. Allerdings will auch Welskopp nicht abstreiten, dass die zivilgesellschaftliche Option durch die gesellschaftliche Polarisierung zwischen liberalem Bürgertum und sozialdemokratischer Arbeiterschaft nach 1870 zunehmend wegfiel. Damit stellt sich neu die Frage, weshalb der Erfolg einer radikaldemokratischen Sammlungsbewegung, also des zivilgesellschaftlichen Modells, in den 1860er und 1870er Jahren gleichwohl ausblieb. In seiner Antwort verweist Welskopp auf die Spaltung des Bürgertums durch die Verfassungs- und die nationale Frage in den 1860er und 1870er Jahren, die eine erfolgreiche radikaldemokratische Koalition wie etwa in der Schweiz vereitelte (S. 771f.). Das Wilhelminische Konstrukt einer Nation ohne Demokratie bedeutete auch für die Sozialdemokratie, deren politisches Anliegen gerade die demokratische Nation war, eine schwere Hypothek, die einiges zur Selbst- und Fremdausgrenzung der Arbeiterbewegung beitrug (S. 746f.).

Nicht nur aus sozialhistorischer Sicht bietet das Buch einige grundlegende Neueinsichten. Auch für die heute beliebte Diskursanalyse bietet die Arbeit eine kritische und notwendige Korrektur. Welskopps Analyse der sozialdemokratischen Theoriedebatten ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass Diskursanalyse nicht nur auf diskursiver Ebene zu betreiben, sondern auf sozial- und kulturhistorische Verhältnisse zu beziehen ist. Indem Welskopp die Sozialdemokratie als Assoziationsbewegung deutet, räumt er letztlich der assoziationssozialistischen Politik Ferdinand Lassalles mehr Gewicht ein als den revolutionären Postulaten von Marx und Engels. Diese Deutung ist allerdings nicht unproblematisch. Insbesondere stellt sich die Frage, wie der tatsächlich wachsende Einfluss der Marxschen Revolutionsmetaphorik nach 1870 innerhalb einer lassalleanischen Bewegung zu erklären ist? Welskopp behilft sich an diesem Punkt mit einem dialektischen Trick, der Diskurs- und Realgeschichte in gelungener Weise verknüpft. Der Aufstieg von Marx erklärt sich danach durch die politische und gesellschaftliche Isolation der Sozialdemokratie nach 1870 und den damit verbundenen steigenden Bedarf an Utopieproduktion (S. 722ff.). Die monarchische Einigung Deutschlands entzog dem assoziationsdemokratischen Nationalismus Lassalles den Boden unter den Füssen. In dieser Situation bot die Marxsche Lehre ein geeignetes Rezept, um den drohenden Legitimationsverlust der Lassalleaner abzuwenden. Marx brachte mit dem Projekt einer proletarischen Revolution das gewünschte politische Radikalkritik, während er gleichzeitig die Ankunft der Revolution in eine ferne Zukunft verschob, was wiederum den Weg freimachte für den gegenwartsbezogenen politischen Pragmatismus der Lassalleaner. Gerade weil die Sozialdemokratie im politischen Alltagsgeschäft weiter den Weg Lassalles beschritt, musste Marx zur populären Revolutionsikone aufsteigen - eine "Hinwendung zum Attentismus bei fortgesetzt revolutionärer Attitüde" (S. 738). Diese Deutungsweise ist nicht zuletzt methodisch beachtenswert. Angesichts der heutzutage zahlreichen monistischen und selbstreferentiellen Diskursanalysen wünscht man sich entschieden mehr dialektischen Geist, so wie ihn Welskopp hier beispielhaft vorführt.

Dies sind nur die Hauptergebnisse einer Studie, die in ihrer argumentativen Breite und inhaltlichen Fülle kaum angemessen zusammenzufassen ist. Die wenigen Schwächen der Arbeit haben mehr mit der immanenten Problematik des untersuchten Gegenstands denn mit dem methodischen Ansatz zu tun. Insbesondere die Frage, wieweit die sozialdemokratischen Vereine ihrem eigenen radikaldemokratischen Ansprüchen alltagspraktisch tatsächlich nachlebten, bleibt auch nach Welskopps Arbeit schwer zu beantworten. Die Beispiele undemokratischer Alltagspraktiken, die die Untersuchung selbst vorbringt, sind Legion: vom charismatischen Status der sozialdemokratischen Führungsfiguren (etwa der Lassalle-Kult), über die schlagende Dominanz der Rhetorik gegenüber rationalen Argumenten im Versammlungsalltag, bis zum vielleicht gewichtigsten Demokratiewiderspruch, dem strukturellen Ausschluss von Frauen aus der Vereinsbewegung. Natürlich entgeht dieser Widerspruch zwischen demokratischer Theorie und bisweilen exklusiver, elitärer oder charismatischer Praxis auch Welskopp nicht. Seine Interpretation ist wiederum dialektisch. Weil sich die Sozialdemokratie in Auseinandersetzung mit ständisch-zünftischen Sozialstrukturen konstituiert, steht ihr radikaldemokratischer Anspruch für einen schrittweisen Prozess der Demokratisierung und nicht für ein vollendetes politisches System (S. 541ff.). Deshalb auch die zentrale Rolle der aus heutiger Sicht unglaublich monotonen Organisationsdebatten in der frühen Sozialdemokratie. Die zahllosen Debatten über Traktandenordnung, Rednerlisten und Abstimmungsverfahren stehen für einen alltagspraktischen Demokratisierungsprozess. Lassalles Assoziationssozialismus ist damit gerade das Gegenteil einer inhaltslosen Vereinsmeierei. Diese Deutung vermag die Widersprüche zwischen sozialdemokratischer Theorie und Praxis sicher teilweise aufzulösen. Ob sie auch die strukturell ausserordentlich zählebigen Demokratiemängel erklären kann, vor allem die Diskriminierung von Frauen in der sozialdemokratischen und später in der Gewerkschaftsbewegung, bleibt doch fraglich.
Solche offenen Fragen schmälern keineswegs die Leistung dieser ansonsten sehr gelungenen Arbeit. Welskopps Untersuchung zeigt in aller empirischer Deutlichkeit, dass die Kulturgeschichte, nicht zuletzt in Ergänzung zu anderen Ansätzen, eine wesentliche Bereicherung der historischen Forschung bringt.

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