Cover
Titel
Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden


Autor(en)
Sheehan, James
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kleßmann, Potsdam

Das für heutige Verhältnisse relativ schmale Buch des renommierten amerikanischen Historikers Sheehan ist keine Geschichte Europas im herkömmlichen Sinne. Dieser große, glänzend geschriebene Essay zeichnet vielmehr zwei signifikante Erfahrungen Europas im 20. Jahrhundert nach: in der ersten Hälfte ein Übermaß an Gewalt, aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Weg zur Absage an Gewalt und zum Frieden als „Normalzustand“. Damit unterscheidet sich Europa deutlich von den USA. Was Sheehan als Amerikaner und Kenner der deutschen und europäischen Geschichte interessiert, ist die spezifische Differenz Europas zu den USA.

Das Titelbild zeigt das berühmte Zusammentreffen amerikanischer und sowjetrussischer Soldaten in Torgau an der Elbe 1945. Das Bildmotiv führt aber eher in die falsche Richtung. Denn diese aus der gemeinsamen Kriegserfahrung gespeiste Verbrüderung hielt bekanntlich nicht lange, sondern mündete in einen auf beiden Seiten ziemlich heftig geführten Kalten Krieg. Dennoch veränderte die wechselseitige Bedrohung der atomaren Supermächte die Einstellung der Europäer zu Krieg und Gewalt.

Zwar stammten die ersten Überlegungen zu diesem Buch schon aus dem Jahr 2001, doch erst der 15. Februar 2003, mit dem es einsetzt, gab dem Autor offenbar den eigentlichen Schub: der Tag der Demonstration gegen den drohenden Irak-Krieg, der größten in der europäischen Geschichte. Niemand zeigte hier die geringste Sympathie für die irakische Seite, aber einig waren sich alle in der Ablehnung des Kriegs als Mittel. Jacques Derrida und Jürgen Habermas beschworen einige Monate später die „Wiedergeburt Europas“ und markierten damit zugleich eine folgenreiche Distanz zu Amerika. James Sheehan leitet aus dieser Konstellation die beiden zentralen Thesen seines Buches ab: Die Ablehnung und Überwindung des Krieges als Ergebnis der spezifischen Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert und die darauf fußende Begründung eines neuen internationalen Systems in Europa, die einer langsamen und lautlosen Revolution gleichkam.

Wie wenig selbstverständlich das war, zeigen die ersten Kapitel des Buches mit Analysen der Kriegsbereitschaft aller Staaten sowie parallel entstehenden pazifistischen Strömungen und Organisationen. „Ohne Krieg gäbe es gar keinen Staat“ hatte Heinrich von Treitschke konstatiert und damit eine im 19. Jahrhundert weithin akzeptierte Maxime zum Ausdruck gebracht. Alle Mächte gaben vor 1914 gewaltige Mittel für ihre Armeen aus. So üblich die Präsenz und der Ausbau des Militärs sowie die Bereitschaft zum Krieg waren, so sehr versuchten Pazifisten, deren vielfach vergessene Ideen und Aktionen Sheehan ausführlich in Erinnerung ruft, etwas dagegen zu unternehmen. „Pazifismus und Militarismus existierten nebeneinander in einem Europa, das im Frieden lebte, aber den Krieg vorbereitete. Wem würde die Zukunft gehören?“ (S. 68).

Mit der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs begann die Phase einer „vom Krieg geschaffenen Welt“, die bis 1945 dauerte. Ihr ist der zweite Teil der Darstellung gewidmet. Wie denn der Siegespreis aussehen könne, der so viel Blut und Tränen rechtfertige, fragte Walther Rathenau bereits drei Monate nach Kriegsbeginn, als sichtbar wurde, dass die auf allen Seiten vertretenen Offensivstrategien nicht den erhofften Effekt hatten, auch wenn der zermürbende Stellungskrieg erst später begann. Am Ende der entfesselten Energien mit riesigen Opfern stand kein pazifizierender Friedensvertrag. Die fatalen Langzeitwirkungen des Krieges trafen während des „zwanzigjährigen Waffenstillstands“ in der Phase zwischen den Weltkriegen nahezu alle Staaten. Das sensible Gleichgewicht zwischen Krieg und Hoffnung auf Frieden war gestört. Stattdessen öffnete sich ein „Graben zwischen zivilen und militärischen Werten und Institutionen“ (S. 122). Für Sheehan ist dennoch das Erstaunliche an diesen Jahren, dass die Deutschen trotz der empörten Ablehnung des Versailler Vertrags Stresemanns Verständigungsdiplomatie unterstützten. Es gab somit bis zur Weltwirtschaftskrise durchaus Chancen einer europäischen Versöhnung. Aber mit der Weltwirtschaftskrise zeigte sich schnell, wie nachhaltig der Krieg die vor 1914 noch existierenden Hürden gegen Extremismus eingerissen und so dem Nationalsozialismus mit Hitlers Fixierung auf Kampf und ungeheure Steigerung der Gewalt im Zweiten Weltkrieg den Boden bereitet hatte.

Sheehan will keine neuen Forschungsergebnisse präsentieren, sondern der Kriegsgeschichte als Ursache der „lautlosen Revolution“ nachgehen. In das Gerüst der politik- und sozialgeschichtlichen Erzählung streut er in alle Kapitel nüchtern und eindrucksvoll die erschreckenden Zahlen über Verluste und Kriegsmaterial ein. Das Töten war in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs gesichtslos geworden. So konnten beispielsweise etwa 300.000 der 1,3 Millionen französischen Gefallenen nicht identifiziert werden. Im Zweiten Weltkrieg stiegen nicht nur die Opferzahlen, sondern auch die Produktionsziffern von Kriegsgerät ins bis dahin Unvorstellbar an. Warum kämpften trotz dieses mörderischen industrialisierten Krieges auf allen Seiten und an allen Fronten die Soldaten weiter, während Desertion und soziale Desintegration die Ausnahme blieb? Diese für beide Kriege zu stellende Frage beantwortet Sheehan vor allem mit dem Hinweis auf eine ungebrochene und stärker als Patriotismus und Nationalismus wirksame „Loyalität zur Primärgruppe“, also die Bindung an die Kameradschaft im Schützengraben oder wo auch immer.

Diesen Teil beschließt die Darstellung des „letzten europäischen Krieges“, der schon in den ersten Wochen beim Angriff auf Polen das Gesicht des totalen Krieges zeigte, das nun sechs Jahre lang weite Gebiete Europas bestimmte. Vernichtung der Eliten, verschwimmende Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten und Beginn des Völkermords waren seine Merkmale.

Wie aber konnte nach dieser nie erlebten Steigerung globaler Gewalt ein „Leben nach dem Tod“ – so der Titel einer amerikanischen Aufsatzsammlung von 2003 – aussehen? Das war die entscheidende Frage, die Europa verwandelte. Deutschland war wie nach dem Ersten so auch nach dem Zweiten Weltkrieg der Schlüssel zur Sicherheit Europas. Ob die Antwort der Supermächte auf die deutsche Frage wirklich den „Eckpfeiler der Nachkriegsordnung“ (S. 195) bildete, lässt sich sicherlich diskutieren. Dennoch ist es wichtig, sich die Gefahren einer Konfrontation der Supermächte in Deutschland in Erinnerung zu rufen. Daneben ist der Prozess der Entkolonialisierung zu nennen. Sheehan führt ihn nicht nur auf die aus dem Weltkrieg resultierende militärische Schwäche zurück, sondern auch auf den fehlenden Willen, die Kolonien zu halten. De Gaulle ist ein sprechendes Beispiel für diesen Bedeutungswandel. Der General stand für Frankreichs nationale Größe und setzte dennoch den Verzicht auf Algerien durch. Die Entmilitarisierung der Gesellschaft war somit ein europäisches, nicht nur ein deutsches Phänomen.

Sheehan überzieht als nüchterner Beobachter seine Thesen nicht, er lässt die entgegenstehenden Befunde von anhaltender Gewalt und Terror besonders im östlichen Nachkriegseuropa nicht unerwähnt und verharmlost sie nicht. Aber sie bestimmten nicht mehr dauerhaft den Ablauf der Dinge – diese Diagnose ist sicher richtig. Selbst der Übergang der Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien verlief erstaunlich friedlich. Noch überraschender war dieser Übergang für den Kommunismus. Hier misst Sheehan vor allem Gorbatschow als Person die Schlüsselrolle zu, ebenso wie Lenin für die Begründung der bolschewistischen Diktatur.

Der von massiven Gewaltausbrüchen begleitete Zerfall Jugoslawiens in den neunziger Jahren ist der Fall, der nicht recht in Sheehans Argumentation zu passen scheint. Er sieht die Bedeutung für das übrige Europa aber wohl zu Recht eher „in dem, was nicht geschah, als in dem, was geschah.“ (S. 242) Insofern wird die aus historischer Erfahrung gewonnene Distanz zum Krieg als Mittel in ihrer problematischen Dimension sichtbar. Eine geeinte und energische Außen- und Sicherheitspolitik konnten die Europäer weder hier noch in den Krisensituationen in Afghanistan und im Irak entwickeln. Darin sieht Sheehan einen der Hauptgründe, warum Europa auf absehbare Zeit keine Supermacht werden wird. Er plädiert jedoch am Schluss dieses spannend zu lesenden und gedankenreichen Buches dafür, dass Europa sich aus dieser gefährlichen Welt voller Gewalt nicht zurückzieht.