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Titel
Reliquientranslationen in Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter


Autor(en)
Röckelein, Hedwig
Reihe
Beihefte der Francia 48
Erschienen
Stuttgart 2002: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
484 S., Karten, Tafeln
Preis
€ 65
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Oberste, Institut für Geschichte der TU Dresden

Mit der Hamburger Habilitationsschrift Hedwig Röckeleins liegt jetzt eine umfassende Studie zu einem lange bekannten und lange ungehobenen Schatz karolingerzeitlicher Überlieferung vor: zu den hagiographischen Texten sächsischer Autoren des 9. Jahrhunderts, welche die aus dem alten Frankenreich und Italien nach Sachsen transferierten Heiligenreliquien zum Gegenstand haben. In einer Serie von Artikeln hatte in den 1960er Jahren bereits der Paderborner Historiker Klemens Honselmann auf die Dichte und den politischen Impetus der einschlägigen Überlieferungen aufmerksam gemacht. Die Translationsberichte, Viten und Predigten entstanden nach der fränkischen Eroberung Sachsens und zielten darauf, wie Helmut Beumann 1987 formulierte, das Trauma der gewaltsamen Missionierung „zu bewältigen“. Hagiographie im Dienste einer fränkisch-christlichen Akkulturation der Sachsen; dies implizierte nicht zuletzt die Umdeutung des großen Karl vom Sachsenschlächter zum „Apostel der Sachsen“ (so der anonyme Autor der Paderborner Liborius-Translation um 900).

Noch im Paderborner Ausstellungskatalog „Karl der Große und Leo III.“ aus dem Jahre 1999 hat Rudolf Schieffer diese Texte erneut als vorzügliche Quellen der fränkisch-sächsischen Geschichte des 9. Jahrhunderts gewürdigt, ohne über die bekannten politischen Implikationen hinauszugehen. Konkret geht es dabei um die verschiedenen Viten des 836 von Le Mans nach Paderborn gebrachten Manceller Lokalheiligen Liborius, die Translation des heiligen Vitus von Saint-Denis nach Corvey, die Translation der heiligen Pusinna von Châtillon in das Damenstift Herford, die Überführung des heiligen Alexander von Rom nach Wildeshausen und die Essener Predigt zum heiligen Marsus. Das Beispiel der Translatio s. Alexandri aus Rom in das sächsische Kloster Wildeshausen im Jahre 851 macht die politische Konnotation am deutlichsten. Die Überführung und auch der entsprechende Bericht darüber wurden veranlasst durch den Adligen Walbert, einen Enkel des legendären Sachsenherzogs Widukind, dessen Widerstand gegen Karl den Großen im Jahre 785 mit seiner spektakulären Taufe in Attigny endete. Die Familie blieb trotz des – aus sächsischer Sicht – verräterischen Abfalls Widukinds als fränkische Günstlinge in hohen Ämtern. Die Alexander-Vita für das von Walbert gegründete Familienkloster in Wildeshausen stilisiert nun die Widukinde ihrerseits als frühe Bannerträger des neuen christlichen Glaubens.

Hedwig Röckelein stellt diese Texte aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts nicht allein in einen politischen Kontext. Sie wählt einen kommunikationshistorischen Ansatz und erschließt damit der politischen und religiösen Kultur des frühen Mittelalters neue Horizonte. Über Reliquien wurde verhandelt; ihre Suche, Erhebung und Überführung musste sorgfältig vorbereitet werden; die fränkischen Herrscher waren zu unterrichten und um Erlaubnis zu fragen; bei römischen Reliquien hatte der Papst das letzte Wort. Von der feierlichen Erhebung am Ursprungsort bis zur Wiederbeisetzung am Bestimmungsort wurden Reliquien in einer Kette kultisch-zeremonialer Inszenierungen der Öffentlichkeit präsentiert, die die Autorin unter dem Stichwort „Semiotik der Translationshandlungen“ einer eingehenden Interpretation unterzieht. Die Architektur des neuen Heiligengrabes, die Wundertätigkeit und die liturgische Verehrung in der neuen Gemeinde schufen innere Netzwerke und sowohl verbale als auch non-verbale ‚Medien‘, die aus dem fremden einen einheimischen Heiligen machten.

Mit dem Kommunikations- und Mobilitätsaspekt erfasst die vorliegende Studie im übrigen ein wesentliches Kennzeichen der Christianisierungsstrategien des 8. und 9. Jahrhunderts. Sie ordnet sich damit in eine Forschungsrichtung ein, die zuerst Patrick Geary (Furta sacra, Princeton 1978) eingeschlagen hatte, indem er Reliquien primär als kulturelle Symbole untersuchte, die ihre Wirkung in je spezifischen Deutungskontexten entfaltete. In zahlreichen Artikeln hat die Verfasserin diesen Aspekt selbst weiter ausgeführt. Der sächsische Verfasser der Translatio der heiligen Pusinna, deren Reliquien um 860 von Châtillon in das Damenstift Herford überführt worden waren, legt beispielsweise dar, zuerst hätten die Sachsen den christlichen Glauben nur widerwillig angenommen, „weil sie ihre Vorfahren nicht ins Unrecht zu setzen wünschten“. Dann aber seien sie „durch die Wunder vieler Heiliger“, deren Überzeugungskraft er mit „Belagerungsmaschinen“ vergleicht, für den rechten Glauben gewonnen worden (Kap. 1). Die wundertätigen Lokalheiligen und die animistischen Naturgottheiten treten hier in eine mehr als nur zufällige funktionale Verwandtschaft zueinander.

Die quellennahe, jederzeit anschauliche und mit modernen soziologischen oder anthropologischen Ansätzen abgestimmte Darstellung (so deutet Röckelein etwa Reliquiengeschenke im Sinne des ‚Gabentauschs‘ von Marcel Mauss) überzeugt durch ein klares methodisches Konzept, in dem zwischen einer Diskurs- und einer Handlungsebene sinnvoll unterschieden wird. In den Kapiteln über die „Kommunikationsnetze“ (Kap. 3) und „Kommunikation der Gelehrten über die Mobilität der Heiligen“ (Kap. 4) werden zunächst die theoretischen Bedingungen für einen überregionalen Transfer von Informationen, Gaben und Botschaften geklärt. Im gelehrten Diskurs scheint überdies jene oft beschworene Deutungshoheit mittelalterlicher Kirchenleute für historisch-politische Zusammenhänge auf. Auf der Handlungsebene des Translationsgeschehens werden Reliquien dann in ihrer öffentlichen Wirksamkeit und Mobilität als wesentliche Medien der religiösen und laikalen, der gelehrten und populären Kultur des frühen Mittelalters beschrieben. Genealogische Tafeln, die Quellen und Stemmata der grundlegenden Texte, die Stationen der Vitus- bzw. Liborius-Translation (beide 836) sowie ein umfassendes Literaturverzeichnis und Register runden diese magistrale Studie zur Kultur der späteren Karolingerzeit ab.

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