J. Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats

Titel
Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich


Autor(en)
Osterhammel, Jürgen
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 147
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Bathmann, HU-Berlin

Der Titel des hier angezeigten Sammelbandes von Jürgen Osterhammel, in dem er 14 Aufsätze aus den 1990er Jahren - drei davon sind Neuveröffentlichungen - zusammengefaßt, stellenweise überarbeitet, ergänzt und in den Anmerkungen aktualisiert hat, ist gleichsam Forschungsprogramm als auch Diskussionsgegenstand. Denn „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats“ ist, sicher bei je unterschiedlicher Betonung, bereits seit der Herausbildung von Nation und Nationalstaat geschrieben worden. Auch wenn man bei den Aufsätzen eines deutschsprachigen Historikers an die Geschichtswissenschaft des „deutschen“ Nationalstaats denkt, erscheint die Reduktion der Geschichtswissenschaft auf „deutsche Geschichte“ nicht sofort einleuchtend.

Schon die Renaissance der Landes- und Regionalgeschichte nach 1945, mit dem zeitlichen Schwerpunkt auf der Frühneuzeit, bedeutete eine Distanznahme zu den „national-völkischen“ Kategorien der Geschichtswissenschaft des „Neuen Deutschland“ 1. Waren dann nicht die langen und manchmal kämpferischen Bemühungen um den Paradigmenwechsel von einer staats- zu einer gesellschaftszentrierten Perspektive des Politischen in Gestalt der „Historischen Sozialwissenschaft“ ein neuer Weg der historischen Forschung jenseits der „deutschen Geschichte“ à la Treitschke? Und auch die Neuerungen durch die Alltags- und Mikro-Geschichte suchten sich abseits der „nationalen“ Ebene ihre Bahn, den „Nationalstaat“ allenfalls als Hintergrund oder Kontrastbild der „dichten Beschreibung“ heranziehend. Schließlich steht auch seit den 1990er Jahren die „Europäische Geschichte“ als eine Alternative zur nationalstaatlichen Perspektive hoch im Kurs, sei es in einer eingeschränkt westeuropäischen Perspektive auf die Geschichte der „Europäischen Integration“, sei es in der erweiterten Form, die auch Mittel- und Osteuropa mit einbezieht.

Jürgen Osterhammels „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats“ meint angesichts dieser vielfältigen Genres ein „Jenseits“, daß ebenfalls seine Geschichte hat, die er kenntnisreich nachzeichnet: es geht um die Universalgeschichte. Osterhammel schwebt ganz klar eine Renaissance der „Weltgeschichte“ vor. Und da er um die Vorurteile und Mißstimmungen weiß, mit der eine große Zahl der Spezialisten historischer Forschung in Deutschland der „Weltgeschichte“ begegnen (vgl. S. 342), setzt er sich um so sprachgewandter und sachkundiger für sie ein. Die zentrale Denkfigur ist dabei nicht die der „Alternative“, sondern die der „Erweiterung“. Osterhammel plädiert: „An die Seite einer Historie mit nationalgeschichtlicher, auch nationalpädagogischer Selbstbeauftragung und einer solchen, die sich die historische Identitätsstärkung Europas vornimmt, muß eine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht treten.“ (S. 9, Hervorhebung im Original)

Diese „Weltgeschichte“ sei jedoch nicht dadurch charakterisiert, daß sie das Wort „Welt“ im Titel trage. Im Gegenteil, Universalhistoriker analysieren vielmehr Analyseeinheiten, die unter der „Welt“ lägen, wie etwa „Großraum“, „Kontinent“, „Nation“, „Region“, „Gemeinde“ und auch „Haushalt“, „Familie“ und „Individuum“. Folgt man den vielfältigen Aussagen Osterhammels in seinen Aufsätzen, so verbindet „Weltgeschichte“ dreierlei: zum ersten hat sie sich um eine Typologie und Methodologie universalhistorischer Phänomene bzw. Konstellationen wie etwa den Kulturkontakt (Eroberung Amerikas, Nordamerikanische Kolonisation, Handelsmissionen in Ostasien), die imperiale Intervention, die Sklaverei oder - „jenseits“ meint nicht „abgesehen von“ - den europäischen Nationalstaat zu kümmern. Mit dem Schwerpunkt auf die Methodik führt Osterhammel dies in Aufsätzen zur „Transkulturell vergleichenden Geschichtswissenschaft“ (S. 11-45) und zur „Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich“ (S. 47-72) vor, Beispiele für universalhistorische Phänomene gibt er in Aufsätzen zu „europäischer Expansion“ (S. 203-239), „imperialer Intervention“ (S. 283-321), zur „Modernisierung“ in Asien (S. 266-282), zum „europäischen Nationalstaat“ (S. 322-341) und zur „neuzeitlichen Sklaverei“ (S. 342-369) an.

Zum zweiten muß sich „Weltgeschichte“ ihrer Genretradition und der Wirkmacht von Diskursen, von „Kommunikationsmißverständnissen“ und der für die seriöse Forschung gefährlichen Nähe zum kulturphilosophischen Essay bewußt sein. Daher handeln auch 6 Aufsätze von den verschiedenen Formen des „Redens“, „Forschens“ und „Denkens“ über „Differenzwahrnehmung“, „Neue Welten“, „Nation und Zivilisation“, „Raumerfassung“, „Kulturkontakt“, „universalhistorische Denkstile“, sowie von „Wissen als Macht“. „Weltgeschichte“ muß sich ihrer disziplinären Vorbilder, über die Asienliteratur der Aufklärung, die Makrosoziologie eines Karl Marx, Max Weber, Barrington Moore oder Jack Goldstone bis zur „Zivilisationstheorie“ eines H. G. Wells, Oswald Spengler oder Arnold J. Toynbee, und der über die Jahrhunderte hinweg schwankenden Konjunkturen der Universalgeschichte bewußt sein, um nicht, wie Marc Bloch die Arbeit H. G. Wells kritisierte, mit mangelndem kritischen Bewußtsein, mit „methodischer Sorglosigkeit“ (S. 172) Universalgeschichtsschreibung zu betreiben.

Die Beachtung dieser Traditionen führt Osterhammel zu einer überaus interessanten Feststellung und Forderung. Die Feststellung identifiziert in den Konjunkturen von Weltgeschichtsschreibung eine besondere Haltung Europas zur „außereuropäischen“ Welt: „Niemals vor etwa 1830 und kaum je wieder nach 1920 ist die Auffassung derart mächtig, die farbigen Völker in Übersee seinen ‘geschichtslos’ oder besäßen allenfalls eine Geschichte, die das Studium nicht lohne. Auf dem Höhepunkt der europäischen Weltstellung verdunkelt sich der beherrschte Rest der Menschheit. Diese Ausgrenzung der Anderen bleibt Episode. Sie ist kein irreversibler Modernisierungsertrag in der Entwicklung historischen Denkens.“ (S. 91-92) Demgemäß bedeutet die heutige Wiederbelebung von „Weltgeschichte“ weniger eine Tribut an die aktuellen Diskussionen über „Globalisierung“, als vielmehr eine Abkehr von der temporären „nationalstaatszentrierten“ Fixierung bei der Formulierung von historischen Problemen und historischen Zusammenhängen im 19. Jahrhundert. „Weltgeschichte“ bedeutet also die Erweiterung des historischen Horizonts und die Sensibilisierung für neue historische Konstellationen und Periodisierungen. Dies läßt sich aber nur dann umsetzen, wenn dafür nicht „wissenschaftliche“ Maßstäbe preisgegeben werden. Daher lautet eine der zentralen Forderungen Osterhammels: „Die Anerkennung von Weltgeschichte nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Geschichtswissenschaft beruht weniger auf der Plausibilität von Grundsatzüberlegungen als auf Ergebnissen. Gelungene Weltgeschichtsschreibung ist (a) so forschungsnah wie möglich; (b) multiperspektivisch, (c) synthetisch, nicht additiv-enzyklopädisch, und (d) kategorial konsistent auf der Grundlage einer universalistischen Begrifflichkeit [...].“ (S. 344)

Die hier erwähnte „Forschungsnähe“ benennt den dritten Aspekt, den „Weltgeschichte“ neben universalhistorischer Typologie und Aufmerksamkeit für Diskurstraditionen vereinen muß. Der Historiker der „Weltgeschichte“ nimmt genauso Abschied von dem Ideal „universalen Wissens“, wie es der Spezialist der nationalen und Mikro-Geschichte tut. Doch bedeute ein verstärkter Rückgriff auf Forschungsliteratur und die dadurch bedingte Ferne gegenüber den Quellen keine Unschärfe der Forschungsleistung - ein Vorwurf, der übrigens auch dem „historischen Vergleich“, einer der Paradedisziplinen der „Weltgeschichte“ gemacht wird. Osterhammels Beiträgen sind gelungene Gegenbeispiele. Sie sind reich gefüttert mit Literatur und Quellen. Die Zahl an Namen und differenzierten Beschreibungsbegriffen machen die Lektüre bisweilen anstrengend und durchweg anspruchsvoll, aber sind alles andere als empiriefern. Erst diese Nähe zur Spezialforschung ist es, die „universalhistorische“ von anderen Perspektiven unterscheidbar macht, neue Fragen aufwirft und auch die Problemformulierung der Spezialforschung zu schärfen hilft (vgl. S. 343).

Die „Geschichtswissenschaft des Nationalstaats“ ist dabei kein Antipode, sondern Kooperationspartner in dem gemeinsamen Geschäft, die Gegenwart durch eine historische Perspektive besser zu verstehen. Der eigentliche Gegner ist daher eher die unilineare Erklärung, das vorschnelle Urteil, die holzschnittartigen Makromodelle historischer Entwicklung, allerdings auch die eher unscharfen Begriffspaare Europa/Außereuropa, Eigenes/Fremdes, Wir/die Anderen, die selektiven Periodisierungen entlang politischer Ereignisse in Europa. Das besondere Augenmerk Osterhammels gilt dagegen der differenzierten Wahrnehmung von historischen Beziehungen und Situationen des Kulturkontakts. Die Entdeckung Amerikas 1492, die Ankunft jesuitischer Missionare in Japan 1543, die Eroberung Indiens durch die East India Company waren durchaus unterschiedliche Formen des Aufeinandertreffens von Spaniern, Portugiesen und Briten mit Azteken, der Mogul-Herrschaft und Japans im feudalen Bürgerkrieg. Ebenso waren die neuen Grenzziehungen etwa in Afrika oder in Nordamerika im Zuge der Kolonisation von Zeitpunkt und Ablauf her durchaus unterschiedliche Prozesse. Es geht Osterhammel hier nicht um den Zusammenprall von „Kulturen“, „Nationen“ oder „Imperialmächten“, sondern um die konkrete Situationsanalyse, um dadurch wiederum einen historische Prozesse beschreiben zu können, in den jeweils beide Parteien dieser „Kontaktsituation“ einbezogen sind. Dies ist mit „Beziehungsgeschichte“ gemeint.

Die entscheidende Botschaft dieses Sammelbandes erscheint dem Rezensenten als das Fehlen eines Buchstaben im Untertitel zu sein. „Studien zu (und nicht ‘zur’) Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich“ heißt es da. Genauso wie universalhistorische Phänomene gibt es vielfältige Formen der Beziehungsgeschichte und des Zivilisationsvergleich, vielfältige Periodisierungsmöglichkeiten und Gegenstandsbereiche, es geht jedenfalls nicht um „die“ Weltgeschichte im Singular, sondern um die methodisch disziplinierter Pluralität - nicht Willkürlichkeit! - der Perspektiven. Daß man bei der Formulierung dieses Anspruchs in 14 unterschiedlichen Aufsätzen an mancher Stelle vieles mehr und ausführlicher lesen möchte, ist verständlich. Es dem Autor anlasten zu wollen, kann man jedoch nicht.

Anmerkung:
1 So Winfried Schulze in einem Interview vom 21.7.1999 über die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, in: Hohls, Rüdiger/Jarausch, Konrad (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart/München 2000, S. 422-423 u. 427.

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