K. Behrens: Soziale Bedeutung der Scham im spätmittelalterlichen England

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Titel
Scham – zur sozialen Bedeutung eines Gefühls im spätmittelalterlichen England.


Autor(en)
Behrens, Katharina
Reihe
Historische Semantik 20
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Scholl, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Menschen im Mittelalter kannten keine Scham: Sie frönten ungeniert der Völlerei, waren trinksüchtig, vulgär, rülpsten, furzten und lebten ihre Sexualität ohne jede Hemmungen in der Öffentlichkeit aus. Dieses Bild vom schamlosen Mittelalter, das so oder so ähnlich in einer Reihe von populären Darstellungen und insbesondere auf der Kinoleinwand anzutreffen ist, fußt nicht zuletzt auf Norbert Elias' wegweisendem Werk „Über den Prozess der Zivilisation“. Darin vertritt Elias die Ansicht, dass es erst im Zuge der Ausbildung des Obrigkeitsstaates im Laufe der Frühen Neuzeit zu einem „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle“ kam, da die Konzentration der Macht beim Herrscher die Personen in dessen Umfeld zu einer verstärkten Triebdisziplinierung und -regulierung gezwungen habe. Vom Umfeld des Herrschers habe sich das Schamgefühl schließlich auf die Gesamtgesellschaft ausgeweitet.1 Während die Scham im Laufe des Zivilisationsprozesses von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne also immer mehr zugenommen habe, sei sie im Mittelalter wenn überhaupt nur sehr schwach ausgeprägt gewesen.

Vor dem Hintergrund dieser Meistererzählung befasst sich Katharina Behrens in ihrer Göttinger Dissertation mit dem Gefühl der Scham im spätmittelalterlichen England. Im Zentrum ihrer Studie steht dabei die Frage nach der sozialen Bedeutung der Scham, wobei Behrens, den drei Bedeutungen des mittelenglischen Wortes shame folgend, über die individuelle „Scham“ hinaus auch deren negative Entsprechung, die „Schande“, sowie die Tugend der „Schamhaftigkeit“ in den Blick nimmt (S. 16). Indem Behrens' Dissertation gezielt die Zusammenhänge zwischen Scham, Schande und Schamhaftigkeit untersucht, ist sie nicht nur für die neuere Emotions- und Werteforschung, sondern auch für die Ehrforschung von Interesse, die sich mit der Schande als dem Gegenteil von Ehre auseinandersetzt.

Behrens' Darstellung ist zweigegliedert: Der erste Teil „Von Scham reden“ (Kapitel I bis IV) richtet den Fokus auf die sprachlich-diskursive Ebene und untersucht anhand von vier verschiedenen Quellencorpora (Historiographie, religiös-didaktische Texte, Rechts- und Verwaltungsschriftgut, fiktionale Literatur) die Verwendung des Wortfeldes um Scham, Schande und Schamhaftigkeit sowohl in mittelenglischen als auch anglonormannischen und lateinischen Texten des späten 14. Jahrhunderts. Dabei richtet sie ihr Augenmerk auf die Kontexte und Gebrauchssituationen, in denen von Scham die Rede ist, um davon ausgehend mögliche zeitgenössische Konzepte und Vorstellungen von der Scham abzuleiten.

Die sprachlich-diskursive Analyse führt allerdings zu dem Ergebnis, dass es im spätmittelalterlichen England kein einheitliches Schamkonzept gab. Wenn in den von Behrens untersuchten Textgattungen von Scham die Rede ist, dient sie in rhetorischer, didaktischer oder appellativer Funktion als Instrument der Bewertung: Entweder markiert sie in Gestalt der Schande menschliches Fehlverhalten oder sie mahnt in Form von Schamhaftigkeit eine besondere Tugend an. Im erstgenannten Kontext begegnet die Scham beispielsweise häufiger in Chroniken, wenn ein Autor Antipathie erzeugen möchte und zu diesem Zweck einen Protagonisten als besonders schändlich porträtiert. Der letztgenannte Fall findet sich bevorzugt in religiös-moralischer Literatur, wenn etwa die sexuelle Reinheit und Tugendhaftigkeit bestimmter Frauen gepriesen werden soll. Die einzige Textgattung, in der mit keiner Silbe von Scham die Rede ist, sind die Fabliaux.

Im zweiten Teil „Mit Scham handeln“ (Kapitel V bis VII) wechselt der Fokus auf die performativ-institutionelle Ebene. Darin richtet Behrens den Blick auf verschiedene Formen des Strafens, die spätmittelalterliche Armenfürsorge sowie die Beichte und Buße, da der Scham bei diesen Praktiken und Institutionen eine besondere Bedeutung zukam. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Schandstrafen wie der Prangerstrafe, die für entehrende Vergehen wie Beleidigung, Fälschung, Lüge und Betrug verhängt wurde. In diesen Strafen kam nicht allein das Prinzip des quid pro quo zum Tragen – wer jemanden beschämt hatte, wurde anschließend selbst beschämt. Mittels der Prangerstrafe und sonstigen entehrenden Bestrafungen konnte die Obrigkeit über das Medium der Scham auch deutlich machen, dass ihr die letztgültige Entscheidungsgewalt über ehr- und schandhaftes und somit ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Verhalten oblag. Insofern kam der Bewertung von und der Bestrafung mit Scham auch eine herrschaftsstabilisierende Funktion zu. Von ehr- oder schandhaftem Verhalten hing ferner ab, wer Zugang zu den im späten Mittelalter in England aufgekommenen Armenhäusern hatte: Diese standen nämlich nur den „schamhaften“ Armen offen, die unter anderem daran zu erkennen waren, dass sie sich des Bettelns schämten. Wer beim Betteln dagegen keine Scham empfand, durfte weder Zugang zu den Armenhäusern noch Almosen erhoffen.

Im letzten Kapitel untersucht Behrens die Rolle der Scham in Beicht- und Bußritualen. In der ‚privaten‘ Beichte kam der Scham insofern eine ambivalente Rolle zu, als diese einerseits als konstitutives Merkmal einer ‚guten‘ Beichte, andererseits aber als Hindernis angesehen wurde, das auf dem Weg zur Beichte überwunden werden musste. Im Hinblick auf die ‚öffentliche‘ Buße, die sich von den in Kapitel V behandelten Schand- und Ehrstrafen insofern unterschied, als das Erstere auf Inklusion und Versöhnung und das Letztere auf Exklusion und Entehrung ausgelegt waren, zeigt Behrens schließlich, dass sich im späten Mittelalter zunehmend auch ‚weltliche‘ Obrigkeiten dieser ursprünglich kirchlichen Praxis bedienten. Insofern kann nicht eindeutig, wie es die Forschung bisher meist tat, zwischen von weltlicher Seite ausgesprochenen Schandstrafen auf der einen und kirchlichen Bußstrafen auf der anderen Seite unterschieden werden.

Insgesamt kommt Behrens zu dem Ergebnis, dass der Scham als Instrument der Bewertung, als Marker von ‚richtigem‘ und ‚falschem‘ Verhalten „sowohl auf sprachlich-diskursiver Ebene als auch auf der Ebene gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen eine zentrale Bedeutung im Bereich der Schaffung sozialer Ordnung zukam“ (S. 314). In schriftlicher und performativer Form wurde Scham also zu dem Zweck eingesetzt, das Verhalten von Menschen zu steuern, wobei stets vorgegeben wurde, wofür es sich zu schämen galt. Daran zeigt sich, dass es immer vom Betrachter abhing, was als ehr- und schandhaftes Verhalten angesehen wurde. Nicht zuletzt diese von Behrens aufgezeigte Relativität der Scham macht ebenso wie deren Mehrdeutigkeit (Scham, Schande, Schamhaftigkeit) deutlich, dass pauschale Aussagen über die Scham und die von Norbert Elias geprägte Meistererzählung von einem vermeintlichen Zunehmen von Schamschwellen ab dem 16. Jahrhundert nicht zu halten sind. Gegen solche Pauschalurteile spricht noch ein weiterer Befund von Behrens' Dissertation, dass nämlich die Scham als individuell verstandenes Schamgefühl zumindest in den spätmittelalterlichen Quellen nicht zu greifen ist.

All dies aufzuzeigen und zudem die soziale Bedeutung der Scham im spätmittelalterlichen England deutlich zu machen, gelingt Katharina Behrens vorbildlich. Somit bleibt zu hoffen, dass ihre Darstellung den Weg für weitere Studien im Bereich der Scham im Speziellen und der Erforschung von Gefühlen, Emotionen und Werten im Allgemeinen öffnet. Gerade die mediävistische Geschichtswissenschaft hat in diesem Bereich noch großen Nachholbedarf – was in der Tat Anlass zur Scham gibt.2

Anmerkungen:
1 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Basel 1939, S. 397–409, hier S. 397.
2 So bereits Gerd Althoff, Kulturen der Ehre – Kulturen der Scham, in: Katja Gvozdeva / Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne, Berlin 2011, S. 47–60.