A. Unterkircher: Ich hab gar nichts erreicht

Titel
Ich hab gar nichts erreicht. Carl Dallago (1869–1949)


Autor(en)
Unterkircher, Anton
Reihe
Edition Brenner-Forum 9
Erschienen
Innsbruck 2013: StudienVerlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Graz

Carl Dallagos Leben und Werk – bis zum Erscheinen dieses Bandes wohl nur einer kleinen Gruppe von Interessierten bekannt – ist in seiner Gesamtheit vielfältig, breit angelegt und für so manche Überraschung gut. In jedem Fall aber steht es beispielhaft für die Existenz eines Nonkonformisten, der stets unabweichlich einem Grundprinzip gefolgt war, nämlich sein Dasein nach eigenen Überzeugungen zu leben. Ein Angepasster ist Dallago wahrlich niemals gewesen, hingegen ein Außenseiter in vielerlei Hinsicht, der durch klingende Begriffe wie Rebell, Prophet vom Berge, Gottsucher et cetera bezeichnet worden ist.

1869 in Bozen als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren, schließt Carl Dallago 1888 seine Schulausbildung mit Absolvierung der dreiklassigen Handelsakademie in Innsbruck ab und ist als engagierter Radsportler Mitglied des Tiroler Radfahrer-Verbandes. Das elterliche Geschäftslokal ist in der Bozener Laubengasse situiert, einem höchst angesehenen Standort, deren Kaufleute auch gerne „Laubenkönige” genannt werden. Nach dem Tod seines Vaters geht das Manufakturwarengeschäft seiner Mutter und deren minderjähriger Kinder auf Carl Dallago über. Dieser und Adelheid Auckentaler hatten im August 1892 geheiratet, in rascher Folge kommen fünf Kinder zur Welt. Der scheinbar gesicherten bürgerlichen Existenz eines Kaufmannes kann Dallago allerdings nichts abgewinnen: Im Mai 1900 verkauft er das Geschäft und verlässt seine Frau samt Kinder, um mit der Welt Bozens, die ihn durch ihre bürgerliche Eingeschränktheit irritiert, abzurechnen. Die Mentalität dieses Milieus lehnt er ab und deren Bewohner bezeichnet er als Philister. Er widmet sich nun ganz der Kunst und lebt als freier Schriftsteller. Durch verschiedene juristische Winkelzüge gelingt Dallago 1902 die Scheidung von seiner Frau (man musste dazu die ungarische Staatsbürgerschaft besitzen, in der österreichischen Reichshälfte gab es keine Zivilehe), um Franziska (Fanny) Moser heiraten zu können. Aus dieser Ehe sollten drei weitere Kinder hervorgehen.

Dallago arbeitet nach der Jahrhundertwende bei mehreren Zeitschriften mit, schreibt Rezensionen und beginnt 1908 einen Briefwechsel mit der Übersetzerin Marie Franzos, der Tochter von Bertha Franzos und gleichfalls Übersetzerin. Das Jahr 1910 ist für Dallago von entscheidender Bedeutung, da nicht zuletzt durch seine Anregungen die Gründung der Zeitschrift „Der Brenner“ durch Ludwig von Ficker erfolgt. Er ist von Anfang an wichtiger Mitarbeiter dieses Periodikums und löst durch seine literarischen und weltanschaulichen Beiträge Diskussionen und Disputationen aus, die beispielsweise zur Konfrontation mit Georg Trakl führen. Albin Egger-Lienz, Max von Esterle, Karl Kraus oder Hermann Broch zählen zu jenen Persönlichkeiten, mit denen Dallago in dieser Periode in Kontakt tritt. 1915 publiziert Dallago im „Brenner-Jahrbuch“ den „Versuch einer Wiedergabe des Taoteking“, Resultat seiner intensiven Beschäftigung mit altchinesischen Schriften.

Seit 1912 lebt Dallago mit seiner Familie im heute italienischen Nago; den Kriegsdienst leistet er 1915–1918 als Waffenunfähiger an der Südfront bei der „Geniedirektion“ (Militärbehörde für Befestigungsanlagen). Nach Ende des Ersten Weltkriegs schlägt Dallago sich als Almaufseher in Schwaz in Tirol durchs Leben, 1919 erfolgt die Wiederaufnahme der Mitarbeit am „Brenner“, 1922 erhält er schließlich die italienische Staatsbürgerschaft. Wegen Verschuldung ist Carl Dallago jedoch gezwungen, sein Haus in Nago zu verkaufen und übersiedelt samt Familie nach Varena.

Durch seinen 1914 im „Brenner“ veröffentlichten Essay „Der Christ Kierkegaards“ unternimmt er den Versuch, Laotse und Kierkegaard auf eine gemeinsame Ebene zu bringen und gerät damit in heftigsten Meinungskontrast mit anderen Autoren des „Brenner“, welcher die weitere Existenz der Zeitschrift gefährdet. 1924 erscheint Carl Dallagos umfangreichstes Buch und Hauptwerk „Der Große Unwissende“. Es ist dies eine Existenzbekundung, die abseits einer Weltordnung, deren Frucht der Weltkrieg ist, um Dallagos Vorstellungen des Reinen Menschen kreist.

Dallago veröffentlicht Polemiken gegen Mussolinis italienischen Faschismus und siedelt sich aus Angst vor Verfolgung durch das Regime in Nordtirol an, 1928 erhält er die österreichische Staatsbürgerschaft. Der endgültige Bruch mit dem „Brenner“, der sich zunehmend in eine katholische Richtung hin entwickelt und mit Ludwig von Ficker erfolgt 1931. Unterbrochen durch Phasen der Arbeitslosigkeit arbeitet Dallago während der 1930er-Jahre als Bauschreiber diverser Unternehmungen bei der Regulierung des Inns. Weiterhin ist er Mitarbeiter der von Wilhelm Kütemeyer in Berlin edierten Zeitschrift „Der Sumpf“, einer gegen den „Brenner“ gerichteten Schrift sowie seit 1935 bei der von Leonhard Ragaz in Zürich herausgegebenen Zeitschrift „Neue Wege“. An seinem letzten großen Werk „Der Begriff des Absoluten“ arbeitet Dallago bis 1945, es sollte erst posthum 1964 erscheinen. Die letzten Lebensjahre sind geprägt vom Briefwechsel mit Otto Basil; im Jahr 1949 kommt es ganz kurz vor Carl Dallagos Tod noch zur klärenden Aussprache mit Ludwig von Ficker.

Die Kunst war für Carl Dallago zum Lebensersatz geworden.1 Er entwickelt eine Philosophie, in welcher nicht die Erkenntnis das Wesentlichste ist, sondern die Mystik, die Welt als Rätsel, die ihm eine Heimat darstellt. Im theologischen Sinn sieht Dallago, der jede amtliche kirchliche Organisation ablehnt, im „Insichgehen“ die einzige religiöse Möglichkeit; nur aktives Handeln ist für ihn wahres Christentum. Diesbezüglich findet er durch Kierkegaards Abhandlungen eine solide Unterstützung. Seine Grundhaltung findet Dallago auch in der Beschäftigung mit dem „Taoteking“ bestätigt, wo das dem Menschen gestellte Gebot lautet, sich entweder für die Macht des Wissens oder jene des Unwissens zu entscheiden. Das heißt, wer Befriedigung in der intellektuellen Einsicht sucht, dem bleibt das wahre Leben verschlossen, denn beim wahrhaft Geistigen wird jede Erkenntnis nur neues und tieferes Nichtwissen erzeugen. Letztlich bleibt das Gefühl als einzige Realität, alles Geistige wird in die Ebene des Gefühls überführt. Alles Metaphysische ist nach Dallago an Materie gebunden, die Natur ist demnach das einzig Wahrnehmbare Gottes. Somit betreibt der Philosoph Wissenschaft, der Mystiker aber bleibt als Denker ganz im Ethischen, er ist unter den geistigen Menschen der stärkste. Die mystische Erkenntnis ist auch durch den Umstand, dass sie das Dogmatische und Theologische entbehrt, ausgezeichnet.

Dallagos Schriften weisen in weiten Bereichen die Verdeutlichung des Gegensatzes von Natur (der Schöpfung Gottes) und dieser Welt (der Schöpfung des Menschen) auf, das Humane siedelt er hoch über dem Sozialen an. Er ist überzeugt vom Unwert der Menge, glaubt aber nach Laotse an das Einende in allen Menschen. Vom Nationalen ist er überzeugt, dass es den Menschen nicht erreiche, die Rassenfrage, der stets ein Werturteil inhärent ist, hält er für verfehlt. Dallago ist sein Leben lang entschiedener Gegner des offiziellen Christentums und meint damit alles Weltliche, Institutionenhafte, Dogmatische und Theologische. Dies alles müsse weggeräumt werden, um den Weg zum eigentlich Religiösen freizumachen. Dallagos Kunstbegriff hat als Objekt die Natur, deren Ideen die Kunst wiedergibt. Leben und Natur bilden dabei eine Einheit. Wo ein Ding in Schönheit auftritt, stellt es etwas vollkommen Lebendiges dar, Kunst ist stets sublimiertes Leben. Somit ist der schöpferische Mensch auch ein tief erlebender Mensch.

Anton Unterkircher stellt mit Carl Dallago eine vollkommen autonome Persönlichkeit, ausgestattet mit Ecken und Kanten, einen Abweichler und Nonkonformisten in das Zentrum seiner Studie. Neben Dallagos Biographie erschließt sich dem Leser die geistige Welt Tirols von der Jahrhundertwende bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht allein hinsichtlich ihrer Mentalitäten, sondern auch ihrer Gruppen und Ideen. Damit weist der Autor entschieden darauf hin, wie der Mainstream des sogenannten Normalen alles ihm Unwillkommene ins Abseits drängt. Letztlich ist diese Studie auch ein Plädoyer dafür, sich all dem Vergessenen und Verdrängten zu stellen und die Konsequenz daraus zu ziehen.

Diese detailreiche, engagierte, kompetente und aufschlussreich gelungene Studie verdient Anerkennung!

Anmerkung:
1 Vgl. Hans Haller: Der südtirolische Denker Carl Dallago. Die Mystik seines Schrifttums (1936): <http://www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/VeroeffFerd_016_0527-0629.pdf> (25.02.2014).

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