O. Ashkenazi: Weimar Film and Modern Jewish Identity

Titel
Weimar Film and Modern Jewish Identity.


Autor(en)
Ashkenazi, Ofer
Reihe
Studies in European Culture and History 25
Erschienen
New York 2012: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
$95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wedel, Medienwissenschaft, Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“, Potsdam-Babelsberg

Anfang der 1980er-Jahre rief der Zeitzeuge Hans Feld in einem Überblicksbeitrag für das Jahrbuch des Leo-Baeck-Instituts die Bedeutung jüdischer Filmschaffender für die Entwicklung des Films in der Weimarer Republik in Erinnerung. Feld – vor 1933 einer der wichtigsten Filmkritiker in Deutschland, später selber Emigrant – schrieb über eine „verlorene Generation“ von Filmemachern, deren oft verschlungene Wege ins Exil in den meisten Fällen längst die Spuren ihres früheren Schaffens verwischt hatten.1 In der akademischen Filmgeschichtsschreibung ist dieser Ruf seinerzeit ungehört geblieben. Lediglich das Hamburgische Centrum für Filmforschung CineGraph hat den von Feld gegebenen Impuls, viele Namen im Schatten von Ernst Lubitsch dem Vergessen zu entreißen, aufgenommen und zwischen 1988 und 1991 die Regisseure und Produzenten Reinhold Schünzel, Richard Oswald, Joe May und Ewald André Dupont mit Kongressen und dazugehörigen Tagungsbänden gewürdigt.2 Erst als 2004 das Centrum Judaicum in Berlin eine Ausstellung mit umfangreichem Begleitbuch3 der Rolle jüdischer Filmpioniere in Deutschland widmet, erhöht sich auch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, wie nicht nur die im darauffolgenden Jahr erschienene Monografie des britischen Germanisten Siegbert S. Prawer belegt.4

Gegenüber Prawers locker gefügter Betrachtung, der es um eine Erfassung des hohen kreativen Anteils und die Darstellung der vor 1933 als beispielhaft beschriebenen Integration jüdischer Filmschaffender in die deutschsprachige Filmbranche geht, bedeutet Ofer Ashkenazis Ansatz eine deutliche Akzentverschiebung, methodisch nicht weniger als einen Quantensprung. Hervorgegangen aus einer Dissertation an der Hebrew University of Jerusalem von 2006, reflektiert „Weimar Film and Modern Jewish Identity“ erstmals grundsätzlich die Frage, inwiefern sich aus der Thematisierung von Kernproblemen jüdischer Identitätsbildung in Filmen der Weimarer Zeit Rückschlüsse auf den Platz der „German-Jewish co-constitution“ (Steven Aschheim) in der modernen Kultur und Gesellschaft ziehen lassen.

Für Ashkenazi ist die prägende Präsenz jüdischer Filmemacher im deutschen Film bis 1933 in diesem Zusammenhang nicht End- sondern Ausgangspunkt der Argumentation. Obwohl er nicht soweit geht, Film als ein Medium zu beschreiben, das von Juden „erfunden“ wurde und per se als „jüdisch“ zu gelten hätte5, weist er doch zu Recht darauf hin, dass kein anderes Massenmedium es auf vergleichbare Weise gestattet hat, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen und ihn entscheidend mitzuprägen: „A reading of Weimar film as a Jewish endeavor will therefore disclose key features of the German Jewish self-perception, and the manner in which these were negotiated within the German public discourse.“ (S. 11)

In mehreren Arbeitsgängen unterzieht Ashkenazi eine erfreulich breite Palette von Beispielfilmen einer Lektüre, die dominante Figuren- und Handlungskonflikte als symptomatisch für die Ambitionen, Befürchtungen und Selbstwahrnehmung von Juden in der Weimarer Moderne versteht. Auf dieser Interpretationsfolie wird das Weimarer Genrekino insgesamt zu einem „wichtigen symbolischen Ort“ (S. XV), an dem sich die Komplexität der deutsch-jüdischen Identitätsbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kristallisiert. Das erste, in die Methode einführende Kapitel („Weimar Film and Jewish Acculturation“) begründet diesen Ansatz. Es geht exemplarischen Karrierewegen von jüdischen Filmemachern nach und verfolgt zugleich, wie ein kultureller Anpassungsprozess dazu geführt hat, dass sich ihr Bestreben nach Artikulation der eigenen gesellschaftlichen Position in einen sinnbildlichen Diskurs verwandelt, „a cinematic encoding of Jewish urban experience in the pre-Nazi era“ (S. 13). Diesen Kodierungsformen geht Ashkenazi im weiteren Verlauf des Buches anhand von virulenten Motiven des Weimarer Kinos auf drei Ebenen nach: Einmal steht das komplexe Verhältnis zwischen verborgener Identität und performativer Selbstinszenierung im Mittelpunkt. Zum anderen werden filmische Formen der metaphorischen Visualisierung variabler Identitätsformationen an der Grenze von Privatsphäre und Öffentlichkeit betrachtet. Eine dritte Achse der Argumentation verläuft entlang der Entfremdungs- bzw. Annäherungsbewegungen der individuellen Protagonisten an ihr jeweiliges gesellschaftliches Umfeld.

Im Zentrum der besprochenen Filme müssen daher keineswegs explizit als jüdisch gekennzeichnete Themen oder Protagonisten stehen. Ganz im Gegenteil geht es Ashkenazi darum, aus der Analyse von Beispielen bekannter Filmgenres der Weimarer Zeit ästhetisch-dramaturgische Grundmuster zu ermitteln, in denen sich relevante Motive deutsch-jüdischer Identität spiegeln. Das erste auf diese Weise in Kapitel 2 genauer in den Blick genommene Genre ist die Großstadtkomödie mit Beispielen von Lubitsch und Schünzel aus den späten 1910er- und frühen 1920er-Jahren, deren ironisch-spielerischer Umgang mit antisemitischen Klischees zum Katalysator für einen Neuentwurf des bürgerlichen Helden wird: „the young man who feels that the cultural tradition and the social order he inherited are incompatible with the new urban experiences, but who nevertheless fights to preserve these traditions and to adapt them to a new reality“ (S. 40). Im Unterschied zu den Großstadtkomödien von Lubitsch und Schünzel verzichten die in Kapitel 3 behandelten urbanen Familienmelodramen in der Regel auf direkte, gar stereotype Verweise auf jüdische Milieus. Wie Ashkenazi unter anderem am Beispiel von Karl Grunes „Die Straße“ (1923) und Paul Czinners „Nju“ (1924) zeigt, ist ihren Raumordnungen wie auch der wiederkehrenden Figur des „Fremden“ auf andere, allegorische Weise die Assimilationsproblematik, einschließlich der mit ihr einhergehenden Hybridisierungserscheinungen, eingeschrieben. Um die Konstruktion des „biologisch Anderen“ im fantastischen Horrorfilm geht es im folgenden Kapitel am Beispiel von Henrik Galeens und Richard Oswalds „Alraune“-Verfilmungen der Jahre 1928 und 1930. So akribisch Ashkenazi die Transformationen des Stoffes im Adaptionsprozess von Hanns Heinz Ewers’ Roman zum Stummfilm und vom Stummfilm zum Tonfilm nachzeichnet, seine Umdeutung im Sinne einer symbolischen Verarbeitung von sich in der Endphase der Weimarer Republik zuspitzenden Besorgnissen des liberalen Judentums (vgl. S. 109) erscheint stellenweise doch etwas gewaltsam vorgenommen. Der übergreifende Zusammenhang ist aber auch hier ebenso wenig von der Hand zu weisen wie im Falle der exotischen Abenteuer- und der Kriegsfilme, die im abschließenden Kapitel untersucht werden. Stellvertretend für diese Genres werden vor allem Joe Mays „Herrin der Welt“ (1920) und Richard Oswalds „Dr. Bessels Verwandlung“ (1927) herangezogen. An beiden Filmen arbeitet Ashkenazi überzeugend ein utopisches Potenzial heraus, das mit ihnen bisher nicht in Verbindung gebracht worden ist: „Alongside May’s extravagant series, Oswald’s minor war-fairytale constitutes the most radical attempt in pre-1933 German film to imagine a progressive, urban middle-class society, transnational in nature and based on shared values and habitus, in which modern Jewish identity is not a ‚problem‘, but a solution.“ (S. 133)

Man mag dem von Ashkenazi gewählten Ansatz insgesamt skeptisch gegenüberstehen und in Einzelaspekten der Filminterpretation Einspruch erheben. Die Präzision seiner Arbeit an den Filmen und die Souveränität, mit der er sie auf ihre zeithistorischen Kontexte hin öffnet, machen „Weimar Film and Modern Jewish Identity“ ganz fraglos zu einem wichtigen Beitrag zur Film- und Kulturgeschichtsschreibung der Weimarer Republik. Dass – fast schon nebenbei – in der Beschäftigung mit den Filmen auch ihren Regisseuren und Autoren Gerechtigkeit widerfährt, deren verborgene Anliegen und Absichten sichtbar gemacht werden sollen, ist ein weiteres und nicht das geringste Verdienst des Buches.

Anmerkungen:
1 Hans Feld, Jews in the Development of the German Film Industry. Notes from the Recollections of a Berlin Film Critic, in: Leo Baeck Institute Yearbook 27 (1982), S. 337-368, hier S. 364.
2 Jörg Schöning (Hrsg.), Reinhold Schünzel. Schauspieler und Regisseur, München 1989; Helga Belach / Wolfgang Jacobsen (Hrsg.), Richard Oswald. Regisseur und Produzent, München 1990; Hans-Michael Bock / Claudia Lenssen (Hrsg.), Joe May. Regisseur und Produzent, München 1991; Jürgen Bretschneider (Hrsg.), Ewald André Dupont. Autor und Regisseur, München 1991.
3 Irene Stratenwerth / Hermann Simon (Hrsg.), Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004.
4 Siegbert S. Prawer, Between Two Worlds. The Jewish Presence in German and Austrian Film, 1910–1933, New York 2005.
5 So die mit Blick auf die Anfänge des klassischen Hollywoodkinos entwickelte These von Neal Gabler, An Empire of Their Own. How the Jews Invented Hollywood, New York 1989.

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