Geschichtskulturen und Erinnerungen in Nordeuropa

Bjerg, Helle; Claudia Lenz, Erik Thorstensen (Hrsg.): Historicizing the Uses of the Past. Scandinavian Perspectives on History Culture, Historical Consciousness and Didactics of History Related to World War II. Bielefeld 2010 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-1325-4 306 S. 32,80 €

Rathkolb, Oliver; Imbi Sooman (Hrsg.): Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum und ihre aktuellen Symptome. . Göttingen 2011 : V&R unipress, ISBN 978-3-86234-803-9 214 S. 29,90 €

Stenius, Henrik; Mirja Österberg; Johan Östling (Hrsg.): Nordic Narratives of the Second World War. National Historiographies Revisited. Lund 2011 : Nordic Academic Press, ISBN 978-91-85509-49-2 176 S. 37,21 €

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, Institut für Geschichte, Universität Oldenburg

Europa ist ein Gedächtnisraum. Dieser Feststellung Natan Sznajders1 lässt sich kaum widersprechen. Aber bildet Europa damit auch eine Erinnerungsgemeinschaft? Oder muss man mit Claus Leggewie nicht eher von einem „Schlachtfeld“ der Erinnerung sprechen2, auf dem der Kampf um passende Geschichtsbilder ausgetragen wird? Und ist es nicht gerade diese ständige Auseinandersetzung um Erinnerungen, in dem sich letztlich eine europäische Gemeinschaft konstituiert? Den europäischen Gedächtnisraum haben bereits zahlreiche Studien vermessen und dabei etliche Fenster geöffnet, durch die wir auf die identitätsstiftende Funktion von Erinnerungen, auf die Transformation von Deutungsmustern seit 1945 oder auf transnationale Wechselbeziehungen zwischen den Europäern blicken.3 Bislang standen bei diesen Erkundungen West- und Osteuropa im Vordergrund, was Robert Bohn, Christoph Cornelißen und Karl Christian Lammers vor Kurzem angeregt hat, den „ausgeblendeten Norden Europas“ als Bestandteil der europäischen Geschichtskultur intensiver zu erforschen.4 Tatsächlich legen ihre Ergebnisse nahe, dass Nordeuropa einen ergiebigen Untersuchungsgegenstand bildet. Immerhin sahen sich Nationen in Skandinavien und im Baltikum mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen konfrontiert, zogen sich die Fronten des Zweiten Weltkriegs und später die Mauern der Blockkonfrontation quer durch diese Region.

Gleich drei Sammelbände nehmen sich jetzt dieses „ausgeblendeten Nordens“ in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen an. So bieten Oliver Rathkolb und Imbi Sooman in ihrem Band zur „Geschichtspolitik im erweiterten Ostseeraum“ einen Überblick mit einem Fokus auf dem Baltikum. Die hier versammelten Aufsätze beschäftigen sich außerdem nicht nur mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs, wie die beiden anderen rezensierten Bände. Bei Rathkolb und Sooman spielen ebenso die Deutungen der sowjetischen Vergangenheit eine zentrale Rolle, vor allem in den Beiträgen zur DDR (Dieter Segert), zu Finnland (Kimmo Rentola) und zu den baltischen Staaten (Elena Zubkova, Karsten Brüggemann, Joachim Tauber) oder zu Schweden (Klas-Göran Karlsson).

Weiterführend sind diese zwei Blickachsen aus mehreren Gründen. Zum einen erschließen sich im Blick auf den Umgang mit der sowjetischen und der deutschen Vergangenheit spezifische nordeuropäische Auseinandersetzungen, die in dieser Region bis heute „das stärkste Konfliktpotenzial“ bergen (S. 17). Zum anderen wurden im Ostseeraum beide Vergangenheiten häufig aufeinander bezogen oder sogar gegeneinander ausgespielt, wie der Aufsatz von Karsten Brüggemann am lettischen Beispiel nachweist. In Lettland diente demnach die geschichtspolitische Distanzierung von der Sowjetunion auch als touristisches Argument sowie als Ausdruck lettischer Westbindung, was in der EU durchaus auf Resonanz stieß, selbst wenn (oder weil?) mit solchen Erinnerungen behauptet wurde, dass „die Sowjet-Verbrechen […] weitaus schlimmer gewesen [seien] als die Nazi-Missetaten“ (S. 132). Dass derartige Parallelisierungen und Relativierungen sowohl baltischen Verdrängungsneigungen als auch einem kollektiven Opfer-Selbstbild geschuldet waren, das aus der langen Zeit der sowjetischen Besatzung resultierte, zeigt Eva-Clarita Pettai in ihrer vergleichenden Studie zu Estland und Lettland: „The Holocaust, i.e. the suffering and extermination of a local minority with the help of members of the majority population, did not fit into a general narrative of national victimhood“ (S. 162).

Obgleich der Band insgesamt einen guten Überblick bietet, und vor allem über die in Deutschland vergleichsweise wenig untersuchten Geschichtspolitiken baltischer Staaten wichtige Ergebnisse zu Tage bringt, wird sein Potenzial nicht immer ganz ausgeschöpft. Das ist wohl auch auf das ihm zugrunde liegende Veranstaltungsformat, eine Ringvorlesung an der Universität Wien, zurückzuführen. Zumindest fällt beim Lesen ins Auge, dass selbst Aufsätze mit gemeinsamem Untersuchungsgegenstand sich nicht aufeinander beziehen, was gewisse Redundanzen mit sich bringt. Dies ist umso bedauerlicher, als beide Einführungen der Herausgeber keine ausführliche Auseinandersetzung mit den Ausgangsfragen und Erkenntnisinteressen der Aufsätze, geschweige denn einen Überblick über deren Ergebnisse bieten. Äußerst anregend sind daher in Rathkolbs Einführung weniger seine umfassenden Darstellungen bekannter Erinnerungskonzepte von Aby Warburg, Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Jan und Aleida Assmann (S. 34-40), als seine (leider sehr viel knapperen) Überlegungen zum Zusammenhang von Globalisierung, „Kulturräumen“ und Erinnerungen, mit denen er ein „europäisches Modell zur Analyse“ kollektiver Erinnerungen skizziert.

Demgegenüber blickt der Band von Stenius, Österberg und Östling stärker Richtung Westen und Norden, auf Island, Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland, während die baltischen Staaten allenfalls in der Einführung sowie im abschließenden Überblicksaufsatz von Bo Stråth gestreift werden. Stråths Beitrag ist auch insofern besonders hervorzuheben, als er die „nordic foundation myths after 1945“ in das „European Pattern of Memory Construction“ (S. 161) einordnet und auf Grundlage seiner zahlreichen Forschungen Vergleiche zwischen Nord-, West- und Osteuropa anstellen kann.5

Dass solche transnationalen Bezüge auf grundsätzliche Entwicklungen in Europa zurückzuführen sind, dass etwa eine zunehmende Universalisierung der europäischen Erinnerungen bzw. ein „shifting from patriotism to universalism“ (S. 16) festzustellen ist, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung feststellen, legen auch die einzelnen Beiträge nahe. So kann Johan Östling im Falle Schwedens nachweisen, dass nach dem Fall der Mauer „the Moral Narrative“ als „new universalistic narrative“ (S. 139) zum geschichtspolitischen Leitmotiv avancierte. Solche skandinavischen Impulse für eine Universalisierung der Erinnerung, von denen das Internationale Holocaust-Forum in Stockholm im Jahr 2000 nur der bekannteste ist, entfalteten demnach eine gesamteuropäische, sogar internationale Wirkungsmacht. Diese letzte Bemerkung verweist noch einmal auf die Folgen jener feinmaschigen Netzwerke nordeuropäischer Erinnerungen, wie sie von Henrik Meinander mit einer „Holocaustification“ des Zweiten Weltkriegs (S. 74) auf den Punkt gebracht werden. Ob in Schweden, Dänemark, Finnland oder in Norwegen: Seit den 1990er-Jahren finden sich immer häufiger jene gemeinsamen „transnational discourses on the war“ (s. 119), wie sie Synne Corell für Norwegen beschreibt.

Während die zwei bisher genannten Bände vorwiegend auf der nationalen Ebene verharren, gibt sich der dritte Band vielschichtiger. Helle Bjerg, Claudia Lenz und Erik Thorstensen zielen weniger auf eine erschöpfende Analyse kollektiver Gedächtnisse in Nordeuropa, sondern unterscheiden drei Felder bzw. Ebenen der Erinnerung, mit denen sich ihr Band in drei Kapitel zu Geschichtskultur („History Culture“), Geschichtsbewusstsein („Historical Consciousness“) sowie zur praktischen Vermittlung von Geschichte bzw. zur politischen Bildung („Mediation of History in Practice“) gliedert.

Das erste, umfangreichste Kapitel zu nationalen Geschichtskulturen widmet sich in jeweils zwei Aufsätzen Finnland und Norwegen, während Schweden mit einem Beitrag, Dänemark sogar nur am Rande in Cecilie Felicia Stokholm Bankes instruktiver Überblicksdarstellung zu „Small and Moral Nations“ bedacht wird. Stokholm Banke, um nur einen Aufsatz aus diesem Abschnitt herauszugreifen, eröffnet erstens einen facettenreichen Überblick über den Norden, der zweitens neue Akzente in der Geschichtskultur ganz Europas setzt. So ist etwa ihr Hinweis auf die Bedeutung der Jugoslawienkriege als Erinnerungsimpuls in den 1990er-Jahren ertragreich auch für Forschungen zu den Niederlanden und Deutschland. Und drittens zeigen sich in diesem Beitrag generelle Stärken der Fallstudien des Bandes, da Stokholm Banke nicht allein eine vergleichende Perspektive einnimmt, sondern die Erinnerungs- als eine Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte beschreibt. So kann sie nachweisen, dass sich Norwegen und Dänemark seit den 1990er-Jahren vermehrt an Schwedischen Erinnerungsinitiativen orientierten. Einerseits hatte das mit dem „Stockholm process“ zu tun, also mit jener Universalisierung der Erinnerung, die oben bereits beschrieben worden ist. Andererseits gehorchte diese Angleichung der Holocaust-Erinnerung neuen außenpolitischen Standards bzw. sich wandelnden diplomatischen Ambitionen, wie Banke hervorhebt: „Addressing crimes of the past and demanding historical justice is a way to get access to the international political scene. The past become a moral guidepost which aids countries to access to the international community“ (S. 108).

Nach diesen fundierten Fallstudien zu skandinavischen Geschichtskulturen sorgt das zweite Kapitel zum Geschichtsbewusstsein beim Leser zunächst für Erstaunen. So sind die beiden deutschen Autoren Andreas Körber und Bodo von Borries fraglos Experten für „Historical Consciousness in History Didactics“. Für den geographischen Schwerpunkt des Sammelbandes jedoch sind sie bislang eher selten mit eigenen Studien hervorgetreten. Die Funktion ihrer Aufsätze erschließt sich nach der Gesamtlektüre, nehmen die Aufsätze zum Kompetenzstrukturmodell (von Körber) und zum „Coping with Burdening History“ (von von Borries) gemeinsam mit Klas-Göran Karlssons grundlegendem Aufsatz „On the Manifestations and Activiations of Historical Consciousness“ tatsächlich eine Brückenfunktion zwischen dem ersten und dritten Kapitel ein, wie die Herausgeber in ihrer Einführung behaupten: „The concepts of historical consciousness represents the theoretical linkage between the studies of history cultures and didactics of history“ (S. 12). Fast alle Aufsätze des dritten Kapitels schließlich nehmen explizit Bezug auf die in den vorangegangenen Aufsätzen geleisteten theoretischen Fundierungen. So arbeitet Erik Thorstensen in der von ihm vorgestellten Analyse von Propaganda-Quellen mit den Überlegungen Körbers zur Kompetenz „deconstructing the images and texts“ (S. 227), während Helle Bjerg in seiner Studie zur Erinnerung von Dänen der „dritten Generation“ auf Karlssons Typologie unterschiedlicher Instrumentalisierungen von Geschichte Bezug nimmt (S. 253). Eine besonders gelungene Umsetzung des Körberschen Kompetenzmodells beschreibt abschließend Claudia Lenz anhand ihres Modells zur Analyse von Geschichtsdarstellungen in Gedenkstätten, das mit Narrativitäts- und Dekonstruktions-Prinzipien arbeitet und auf „(self-)reflective historical consciousness“ (S. 261) von Schülern zielt. Alles in allem folgt dieser stimmig komponierte Band einer gelungenen Dramaturgie, die sowohl enge Bezüge zwischen den Aufsätzen fördert als auch unterschiedliche Felder der Erinnerungsforschung, von den nationalen Geschichtskulturen bis in einzelne Schulklassen, in den Blick nimmt.

An diese Beobachtung schließt sich zugleich ein Plädoyer für zukünftige Forschungen an, das über Nordeuropa hinausweist. Wegweisend ist in dem Band von Bjerg, Lenz und Thorstensen das Operieren auf unterschiedlichen Ebenen kollektiver Erinnerungen oder, geschichtsdidaktisch gesprochen, die Multiperspektivität, die er eröffnet. Sie könnte Anstoß geben, zukünftig noch stärker auch unterhalb der nationalen Ebene auf regionale und kommunale Erinnerungsgemeinschaften, auf neue Medien, auf transnationale ebenso wie auf transregionale Netzwerke der Erinnerung zu blicken, in denen sich die Europäer ihre Geschichtsbilder malen. Dieser Blick auf Erinnerungsprozesse „vor Ort“, wie sie Bjerg, Lenz und Thorstensen im letzten Kapitel präsentieren, eröffnete damit zugleich Gelegenheiten, Geschichtskulturen und Geschichtsbewusstsein als soziale Praxis zu untersuchen: als einen alltäglichen, situationsbedingten Aushandlungsprozess über die zeitgemäßen Geschichten zur europäischen Geschichte.

Anmerkungen:
1 Natan Sznajder, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus, Bielefeld 2008.
2 Claus Leggewie, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.
3 Vgl. u.a. Norbert Frei, Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 4), Göttingen 2006; Kerstin von Lingen, Erfahrung und Erinnerung. Gründungsmythos und Selbstverständnis von Gesellschaften in Europa nach 1945, in: AfS 49 (2009), S. 149-184; Aleida Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012; Wolfgang Stephan Kissel; Ulrike Liebert (Hrsg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989 (Europäisierung. Beiträge zur transnationalen und transkulturellen Europadebatte; 7), Münster 2010.
4 Robert Bohn; Christoph Cornelißen; Karl Christian Lammers (Hrsg.), Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien seit 1945, Essen 2008, S. 11; vgl. dazu auch meine Rezension, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009],: <http://www.sehepunkte.de/2009/12/15534.html> (16.05.2012).
5 Vgl. u.a. Bo Stråth (Hrsg.), Myth and Memory in the Construction of Community. Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel 2000 sowie zuletzt Małgorzata Pakier; Bo Stråth (Hrsg.), A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, Oxford 2010.

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