K. Nathaus: Deutsche und britische Vereine

Titel
Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Nathaus, Klaus
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 181
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
39,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Heyer, Geschichte/Political Culture and National Identity, Leiden University

In den letzten Jahrzehnten haben Vereine als Keimzellen politischen und demokratischen Handelns verstärkte akademische Aufmerksamkeit erfahren. Das vielfältige gesellschaftliche Engagement in sehr unterschiedlichen Assoziationsformen wurde als essentiell für die Entstehung einer funktionierenden (und) demokratischen Staatsstruktur angesehen. Klaus Nathaus schlägt in seinem Buch nun eine andere Richtung ein und postuliert, dass Vereine nicht nur als Brutstätten politischer Kultur, sondern hauptsächlich als Anbieter „Organisierte[r] Geselligkeit“ zu erforschen seien. Dieser Annahme folgend legt Nathaus den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Analyse unpolitischer Assoziationen und untersucht vergleichend die Vergesellschaftung in britischen und deutschen Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert. Den unpolitischen Aspekt der Vereine bekräftigt der Autor mit dem für die Studie zentralen Begriff der Geselligkeit, den er als die Zusammenkunft von Individuen, die ihre sozioökonomischen Unterschiede, Interessen und Persönlichkeitsattribute zurückstellen, um auf triviale und unterhaltende Art gemeinsam Zeit zu verbringen, definiert. Um die Geselligkeit in Vereinen und ihre gesellschaftliche Relevanz zu analysieren, unterscheidet Nathaus zwischen markt- und staatsbasierten Ressourcenstrukturen in den beiden Nationen. Der Autor beruft sich hierbei auf die von der Organisationssoziologie 1 vertretene These, dass Assoziationen durch die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen entscheidend in ihrer Entwicklung geprägt werden. So wird die Vergesellschaftung in britischen Vereinen als von Wirtschaftsunternehmen dominiert interpretiert. Für deutsche Vereine wird im Gegensatz dazu nachgewiesen, dass ihre Entwicklung unter dem Schirm staatlicher Kontrolle und Zuwendung stattfand.

Nathaus präsentiert seine Forschungsergebnisse in chronologischer Reihenfolge und unterteilt diese in sieben aufeinander folgende Kapitel, die den deutschen und britischen Verlauf im Vergleich beschreiben. Die Forschungsleistung des Autors liegt hier nicht nur in der eigenen umfassenden Archivarbeit – wie beispielsweise einer Lokalstudie über das Vereinswesen der Stadt Essen –, sondern auch in der kritischen Einordnung der umfangreichen Sekundärliteratur. Die Analyse weiterer Quellen, die auf der individuellen Erfahrung verschiedener Vereinsmitglieder beruhen (Ego-Dokumente), hätte allerdings einen zusätzlichen interessanten Schwerpunkt setzen können. Trotz dieses Kritikpunktes wird durch die breite Auswahl unterschiedlicher Vereine, die den Bogen von Kleingärtnern und Chorgruppen über Sportvereine bis zu Saving Societies spannt, ein vielfältiger und detaillierter Überblick anhand einer durchdachten und wohl begründeten Analyse geboten. Die Mehrzahl der Kapitel endet mit einer Zusammenfassung, die auf die zentrale Frage des Buches nach dem Vergesellschaftungspotential verschiedener Assoziationen Antwort gibt. So untersucht die Studie, welche Bevölkerungsgruppen Zugang zu Vereinen hatten, wie sich Beziehungen innerhalb von Vereinen entwickelten und welcher gesellschaftliche Einfluss von ihnen ausgeübt wurde.

Der Studienfokus auf die gesellschaftliche Relevanz deutscher und britischer Vereinslandschaften spiegelt sich schon in den ersten Kapiteln wider. Nathaus weist hier nach, dass die sozialintegrative Funktion der untersuchten Assoziationen als eher geringfügig einzuschätzen ist. Der Autor zeigt, dass sich britische Vereine ab Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Initiative der Mittelschicht, die versuchte, die arbeitende Bevölkerung in Assoziationen einzugliedern, entwickelten. Allerdings scheiterte dieser bürgerliche Versuch und die Arbeiterschaft engagierte sich lieber in eigenen Vereinigungen, die ein stark populärkulturelles Angebot hatten. So kristallisierte sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in Großbritannien ein Vereinswesen heraus, das die Studie als schichtenspezifisch definiert (S. 47-104). Im Gegensatz dazu war das deutsche Vereinswesen ab 1850 durch schichtenübergreifende Lokalvereine geprägt. Was die Vergesellschaftungsbilanz angeht, so förderten deutsche Vereine soziale Differenzierung innerhalb der Vereinsorganisation und garantierten so letztendlich auch die soziale Trennung ihrer Mitglieder. Ab den 1890er-Jahren agierten deutsche Vereine in einem Spannungsfeld zwischen Patronage und Populärkultur, das Nathaus mit den bildungspolitischen und moralischen Vorstellungen bürgerlicher Förderer und den gegensätzlichen Wünschen der Arbeiterschicht nach einem populärkulturellen Angebot begründet (S. 105-143).

Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges setzt Nathaus eine Zäsur und zeigt, wie Vereinsverbände in Zusammenarbeit mit staatlichen Strukturen Vereinen materielle Sicherheiten boten, die die kulturpolitischen Abhängigkeiten der Vereine förderten. Der Autor wendet hier im Besonderen den Begriff der Gemeinnützlichkeit an, der deutsche Vereine mit steuerlichen Vorteilen köderte, die oft nur durch einen Verbandsanschluss zu erreichen waren (S. 145-204). Für die britischen Vereine zeigt die Studie, dass ihre Entwicklung weiterhin nach einem schichtenspezifischen Muster erfolgte. Staatliche Förderung spielte hierbei eine untergeordnete Rolle und so waren in Großbritannien hauptsächlich Zeitungen, Eisenbahngesellschaften und Brauereien die Hauptsponsoren verschiedener kultureller Vereinigungen. Weiterhin grenzte sich die Middle Class von der Working Class durch die Vereinswahl ab und verschärfte so die gesellschaftliche Polarisierung. Eine Politisierung nach klassenspezifischen Mustern war aber Nathaus zufolge sowohl in den Vereinen der Mittel- als auch in den Assoziationen der Arbeiterschicht aufgrund des gepflegten, leichten Vergesellschaftungsstils nicht möglich (S. 205-250).

Die letzte untersuchte Periode bezieht sich auf das Vereinsleben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nathaus illustriert hier überzeugend, dass der Einfluss der staatlichen Förderung weiterhin ein relevantes Element deutscher Vereine blieb, die steuerliche Zuwendungen durch ihre gesellschaftliche Relevanz zu untermauern versuchten. Der Begriff der Gemeinnützlichkeit wurde von staatlichen Institutionen solange erweitert, bis der überwiegende Teil aller Freizeitgestaltungsassoziationen miteinbezogen werden konnte. In Großbritannien hingegen wurden Freizeitgestaltung und Kultur vom Staat zwar gefördert, ohne dabei jedoch Vereine als Träger von Kultur anzuerkennen. Trotzdem kann die Studie die Existenz einer vielfältigen Vereinslandschaft in Großbritannien nachweisen, die sich durch einen starken Unterhaltungscharakter und unternehmerische Förderer auszeichnete (S. 251-287).

Nathaus hat mit „Organisierte Geselligkeit“ eine detaillierte und gut strukturierte Studie vorgelegt. Der Autor hat überzeugend gezeigt, dass die Geselligkeit innerhalb von Vereinen bestehende soziale Strukturen nicht nur verändern, sondern auch erhalten kann. Somit liefert Nathaus einen notwendigen, durchdachten und detaillierten Beitrag, der den wissenschaftlichen Ansatz der Vereinsforschung erweitert und bereichert. Die Studie überzeugt durch ihre anschaulichen Beispiele sowie durch die Unterscheidung von markt- und staatsorientierten Vereinslandschaften und zeigt, dass unpolitische Vereine die gleiche wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienen wie ihre politischen Gegenstücke. Trotzdem bleiben übergeordnete Fragen, wie beispielsweise was die verschiedenen Vergesellschaftungsbilanzen für die Erforschung unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Prozesse bedeuten, letztendlich teilweise offen. Besonders weil es Nathaus so überzeugend gelingt darzulegen, dass die sozialintegrative Wirkung von Vereinen und ihr Einfluss als Vermittler politischer Kultur begrenzt sind, hätte eine systematischere Identifizierung der Argumente und Schwächen des von Nathaus kritisierten theoretischen Ansatzes, der Vereinsmitgliedschaft mit politischer Kultur und Demokratie verbindet, seine Schlussfolgerungen bereichert. So hätte die Studie genauer zeigen können, welche spezifischen Verbindungen zwischen Vereinsaktivitäten und demokratischer Staatsstruktur sie empirisch widerlegen kann. Nathaus entwickelt hierfür verschiedene Ansatzpunkte und argumentiert unter anderem, dass Vereine nur bedingt als Vermittler demokratischer Kultur, sozialer Inklusion oder politischer Emanzipation zu verstehen sind. Der Vergleich und die kritische Diskussion dieser in ihrer Wirkungsweise doch sehr unterschiedlichen Dimensionen hätten dazu beigetragen, Nathaus’ Ergebnisse sowohl in den Geschichts- als auch in den Sozialwissenschaften noch deutlicher herauszustellen.

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass eine genaue Erläuterung des Begriffs der Vergesellschaftung fehlt. Vergesellschaftung scheint im Kontext dieser Studie weit mehr als der einfache Sachverhalt des Zusammenkommens von Individuen zu sein und sich klar von dem Weberschen Element „rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage“2 abzugrenzen. So ist Vergesellschaftung in der Argumentation der Studie eng mit der Überbrückung von Barrieren zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten verbunden. Nathaus definiert zwar den Begriff der Geselligkeit klar und ordnet ihn in seine empirische Arbeit und den theoretischen Ansatz ein, um zu zeigen, dass Geselligkeit für das Vergesellschaftungspotential in Vereinen relevant ist. Wie sich jedoch dieses Vergesellschaftungspotential genau ermitteln lässt und an welchen Kriterien es auszumachen ist, wird von der Studie nur indirekt durch die historische Analyse gezeigt.

Trotz dieser Kritikpunkte ist das vorliegende Buch eine inhaltlich und akademisch beeindruckende und gelungene Vergleichsstudie, die durch ihren kritischen Ansatz und ihre vielfältigen Fallbeispiele die Vereinsgeschichtsforschung in Deutschland und Großbritannien bereichert.

Anmerkungen:
1 Nathaus bezieht sich hierbei unter anderem auf Heinz-Dieter Horch, Strukturbesonderheiten freiwilliger Vereinigungen, Frankfurt am Main 1983.
2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 2006, S. 50.