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H-Soz-Kult
 

Das Historische Buch 2004

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Offene Kategorie
Geschichte der Geschichtsschreibung
Thematischer Schwerpunkt 2006
Publikumspreis

Europäische Geschichte

Essay von Matthias Middell für H-Soz-Kult

1. Rang (33 Punkte, 10 Voten)

Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004.

So bleibt Reinhards historische Anthropologie nahe am Menschen. Seine Lebensformen handeln von Körpern und Gefühlen, von Kleidung und Essen, von Beziehungen und Bindungen, von Arbeit und Ethik, auch von Krieg, Gewalt und Tod. Sie berichten davon, wie Menschen in immer wieder neuen Formen und zu sich über die Jahrhunderte hinweg kaum verändernden Zwecken Gruppen bilden. Wie damit innerer Zusammenhalt bewirkt und zugleich äußere Abgrenzung markiert sein sollen: Eigenes und Fremdes, "wir" und "die". Sie zeigen, wie wenig "natürlich" Natur sein kann, seitdem sie Gegenstand menschlicher Bearbeitung und Reflexion ist. Und sie verkörpern so aufschlussreiche Muster und Widerspiegelungen alltäglichen Lebens, die sich wie Folien nebeneinander und übereinander legen lassen. Ein ebenso facettenreicher wie kompakter Überblick eines umfassend gebildeten Historikers. http://www.zeit.de/2004/14/P-Reinhard

Es handelt sich um die Selbstdarstellung einer neuen Art der Historiographie, um eine Programmschrift, die mit Recht davon ausgeht, daß es nicht die methodologischen Fanfarensignale sind, die zählen, sondern die geduldige und fruchtbare Durchführung. Der Verfasser kennt den mißtrauischen Blick seiner Historikerkollegen; sie verlangen Belege, keine Konfessionen. Er nimmt darauf so viel Rücksicht, wie es sein Mammutprojekt überhaupt duldet; er bringt Details über Details; er zitiert eine ganze historische Bibliothek. Und für die Nichtfachleute transformiert er den gewaltigen Stoff in ein kulturhistorisches Lesebuch, wie weiland Oswald Spengler. Der Verfasser ist zu bewundern: Er hat keinen historischen Wälzer geschaffen, keinen Wackerstein, der im Bauch des Bildungsbürgers rumpelt und pumpelt; er faßt seine Ergebnisse elegant zusammen und stellt zugleich sein Verfahren in einem einzigen Anlauf dar.
Wenn es für dieses Buch einen Vergleich gäbe, dann wäre es eine Ballonfahrt. Wie ein Ballon gleitet es im energischen Tempo über die europäische Kulturlandschaft, besichtigt so gut wie alle ihre Felder, streift auch einmal Afrika oder Asien und erlaubt einen Blick auf die Zukunft in den Vereinigten Staaten. Ein Ballon fliegt bekanntlich nur, wenn er aufgeblasen und abgehoben ist; kein Ballon kann ständig wieder landen, um am Boden neue Erkundungen zuzulassen.
http://www.buecher.de/w1100485faz3406517609


 

2. Rang (32 Punkte, 8 Voten)

Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2004.

Im übersichtlich strukturierten und flüssig geschriebenen Buch "Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus" nähert sich der Autor in fünf thematisch und chronologisch angelegten Kapiteln dem Thema. Die neue Literatur zum Thema ist verarbeitet, die relevanten russischen Archivbestände ausgewertet. Terror und Stalinismus sind für Baberowski Synonyme, die Geschichte des Stalinismus nicht mit der Geschichte der UdSSR identisch. "Der Stalinismus war eine Zivilisation, die aus dem sowjetischen Imperium kam und mit dem Tod Stalins zugrunde ging", stellt der Autor einleitend, im Rahmen einer ebenso lesenswerten wie informativen Polemik gegen Auffassungen von Autoren des Schwarzbuches und die so genannten "Revisionisten" fest. Wladislaw Hedeler für H-Soz-Kult

Herausgekommen ist ein engagiertes Buch, dessen Autor sich nicht scheut, Stellung zu beziehen, Urteile zu fällen - und das ist gut so, selbst wenn man mitunter heftig widersprechen möchte. Baberowski liebt die dicken Striche, die kräftigen Akzente, die zugespitzten Formulierungen ([..]). Will man Baberowskis Darstellung im Streit der Schulen und Deutungsversuche zuordnen, tut man sich schwer. Obwohl seine zentralen Begriffe vom Bolschewismus als "politischer Religion", von der Partei als "Orden", vom "Terror" als Mittel der Politik und anderes mehr dem Vokabular derer entstammen, die das Gesamtsystem - mit guten Gründen - als "totalitär" beschrieben, verwirft Baberowski dieses Erklärungsmodell ebenso wie den Gegenentwurf ihrer sozialgeschichtlichen, revisionistischen Kritiker. http://www.buecher.de/w1100485faz342105486X


 

3. Rang (31 Punkte, 7 Voten)

Haupt, Heinz-Gerhard: Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2003.

Die Konsumgeschichte etabliert sich. Noch vor einem Jahrzehnt Spielwiese für Außenseiter, hat die junge Teildisziplin ihre Leistungsfähigkeit derweil sowohl für die notwendige Innovation der "Sozialgeschichte der Väter" (Welskopp) als auch für die Orientierungsfunktion der Geschichtswissenschaft in einer dynamischen Massenkonsumgesellschaft unter Beweis gestellt. Höchste Zeit also für erste Zusammenfassungen. Uwe Spiekermann für H-Soz-Kult


 

4. Rang (30 Punkte, 8 Voten)

Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters. München 2004.

Wer wir sind, bestimmen die anderen. Sie sind es, die uns den Namen, den sie uns gegeben haben, nennen müssen, damit wir uns selbst kennen. Wenn sie uns unter diesem Namen verleugnen und hartnäckig behaupten, wir seien andere, haben wir keine Chance der Selbstbehauptung. Glücklich ginge die Sache aus, wenn sie uns eine andere Identität anböten, aber heillos würde unsere Lage, wenn sie kein Wissen von uns hätten noch annähmen. Weniger radikal hat diese "conditio humana" Joyce Carol Oates ausgedrückt: "For what is ,identity' but our power to control others' definitions of us?"
Das Zitat stammt aus der brillanten Studie des Luzerner Mediävisten Valentin Groebner über die Geschichte des Identifizierens zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Jahrhundert, die von Bezügen auf die Gegenwart ihre Brisanz bezieht. Dabei geht es um das Erkennen von Personen, die man noch nie gesehen hat, anhand von Zeichen, Bildern und schriftlichen Dokumenten, vor allem der Steckbriefe und Pässe.
Michael Borgolte in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2004, Nr. 233 / Seite L32

Groebner schreibt eben keine Erfolgsgeschichte der staatlichen Personenidentifikation, sondern hat über das gesamte Buch hinweg auch das unsichtbare Andere im Blick, das in der alternative Bedeutungsebene von ‚Schein’ zum Ausdruck kommt: Unwirklichkeit, Fiktion, Simulation. [...] Mit der zunehmenden bürokratischen Erfassung der Einzelperson betritt im späten 16. Jahrhundert die Figur des Hochstaplers die literarische Bühne, der eine falsche soziale Rolle spielt und die "Grenzen menschlicher Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit" aufzeigt. [...] Gerade diese Passagen sind es, die den stärksten Leseeindruck vermitteln und den größten analytischen Wert aufweisen. Aber nicht nur diese, das ganze Buch liest sich spannend wie ein Roman und bietet den notwendigen kulturwissenschaftlichen Chic auf, um auch ein breiteres Publikum anzusprechen. Christian Jaser für H-Soz-Kult


 

5. Rang (24 Punkte, 6 Voten)

Conze, Eckart (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln [u.a.] 2004.

Der vorliegende Sammelband, [...], steckt sich ein ehrgeiziges Ziel, nämlich Adel und Adeligkeit, deren Veränderungen und Kontinuitäten durch die zahlreichen und multidimensionalen Brüche und Umbrüche des 19. und 20. Jahrhunderts zu verfolgen und dabei die europäische Perspektive nicht außer Acht zu lassen. Er reiht sich damit in eine jüngere Forschungstradition ein, die seit einigen Jahren die lange vernachlässigte Adelsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte, welche bis dahin weithin als kontinuierlicher Prozess des Abstiegs interpretiert worden war, mit dem Instrumentarium unterschiedlicher theoretischer Ansätze und methodischer Zugänge aufarbeitet. Dabei rekurrieren viele Beiträge auf die Strategien des "Obenbleibens" beziehungsweise gehen der Frage nach der Eigen- und Fremddefinition und -perzeption von Adel und Adeligkeit überhaupt nach. Besonders fruchtbar erwies sich hierfür das Habituskonzept Bourdieus mit seiner Unterscheidung von ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital. Und, dies sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, diese Pluralität, deren Pole mit dem politik- beziehungsweise sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Zugriff einerseits, mit dem der neuen Kulturgeschichte andererseits zu benennen sind, spiegelt sich in der Gesamtheit der Beiträge dieses Bandes wider. Einige von ihnen zeigen darüber hinaus eindrucksvoll, wie nutzbringend eine Kombination dieser Ansätze sein kann. http://www.sehepunkte.historicum.net/2005/01/6383.html