Projektanträge für DFG-Schwerpunktprogramm "Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert"

Projektanträge für DFG-Schwerpunktprogramm "Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert"

Institution
Deutsche Forschungsgemeinschaft
Ort
-
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2003 -
Bewerbungsschluss
25.10.2002
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Von
vom Bruch, Rüdiger

Schwerpunktprogramm "Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert: Personen, Institutionen, Diskurse"

Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat dieses vom Unterzeichneten federführend beantragte Schwerpunktprogramm, beginnend mit dem Jahr 2003, für sechs Jahre einzurichten beschlossen. Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, der Präsident der DFG, hat in seinem Begleitschreiben zu dieser Ausschreibung an einen größeren Adressatenkreis ausdrücklich eine weitere Bekanntmachung empfohlen und auch darauf hingewiesen, dass Anträge auch von jüngeren, selbständig arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gestellt werden können. Mit H-SOZ-U-KULT dürfte ein Großteil potentieller Interessenten erreicht werden.

Anträge sind gelocht und in 10-facher Ausfertigung spätestens bis zum 25. Oktober 2002 in der Geschäftsstelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Angabe des Aktenzeichens 322 1143 einzureichen.

Für weitere Auskünfte steht Ihnen Herr Dr. Guido Lammers (Tel.: 0228/885 2295) gerne zur Verfügung.

Bitte beachten Sie beim Aufbau Ihres Antrages das beigefügte Merkblatt mit Leitfaden für Anträge auf Sachbeihilfen, das Ihnen auch im Internet unter http://www.dfg.de/foerder/formulare (Vordruck 1.02) zur Verfügung steht. Zusätzlich bitte ich darum, den Text der Zusammenfassung (max. 15 Zeilen) als Word-Datei an die Email-Adresse angelika.stuebig@dfg.de zu senden.

Auch bei Projekten von mehrjähriger Dauer werden grundsätzlich jeweils nur Mittel für vorerst zwei Jahre bewilligt. Die Förderung kann voraussichtlich ab April/Mai 2003 beginnen.

Beteiligte an einem Sonderforschungsbereich sollten berücksichtigen, dass ein Vorhaben nicht gleichzeitig in mehreren Verfahren gefördert werden kann.

Die Anträge werden mit allen Antragstellern und den Mitgliedern einer Prüfungsgruppe besprochen und anschließend von dieser in einer Klausur beurteilt werden. Die Besprechungs- und Prüfungsgruppensitzung wird voraussichtlich im Januar 2003 stattfinden.

Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch

Zusammenfassung

Das Schwerpunktprogramm macht auf vordringliche Forschungsfragen in der Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum aufmerksam. Es zielt damit erstens auf eine inhaltliche Orientierung auf zentrale Fragestellungen und zweitens auf eine Verstärkung der internationalen Vernetzung dieses Problemgebiets. Das Programm zielt ferner auf eine breite disziplinäre und interdisziplinäre Anschlussfähigkeit. Wissenschaftshistorisch interessierte Fachvertreter aus Geistes-, Sozial-, Kultur- und Rechtswissenschaften, aus Medizin, Mathematik, Natur- und Technikwissenschaften werden zur Mitwirkung ermuntert.

Vorrangig im Schwerpunkt sollen die folgenden Fragestellungen sein:

Welche strukturellen Besonderheiten (oder Anschlussfähigkeiten) weisen das deutsche Wissenschaftssystem und die deutsche Wissenschaftskultur sowie die in ihnen agierenden Einzeldisziplinen in internationaler Perspektive auf?

Wie beeinflussten kulturell geprägte Themenstellungen, Forschungsstile oder strukturell bzw. politisch bedingte Entwicklungspfade längerfristig wirksame Verhaltens- und Verfahrensmuster in den Wissenschaften über mehrfache politische Systembrüche hinweg?

Wie sind fachspezifische Entwicklungen in disziplinenübergreifenden Perspektiven zu gewichten und auf transdisziplinäre Problemhaushalte zurückzubeziehen?

Unverzichtbar bei der Beantwortung dieser Fragen sind die Vergleichs- bzw. Bezugsperspektiven, die mit der im Titel genannten doppelten Trias einerseits in der Problemstellung - Wissenschaft, Politik, Gesellschaft -, andererseits im analytischen Zugriff - Personen, Institutionen, Diskurse - genannt sind. Erwartet wird nicht, dass alle Einzelprojekte des Schwerpunktprogramms auf alle dieser Kategorien im gleichen Masse bezug nehmen. Das Programm stellt mit ihnen ein Bezugsraster bereit, aus dem Themenfelder abgeleitet werden.

Solche Fragen schließen Spezialstudien in Teilbereichen keineswegs aus; dabei sind indes auf Transnationalität, Transepochalität und Transdisziplinarität zu achten. (Hier bitte die diskutierten Ausschlusskriterien einfügen!)

Die unten aufgeführten Themenfelder sollen Problemstellung und analytischen Zugriff des Schwerpunktprogramms für unterschiedliche Beziehungen von Wissenschaft und Gesellschaft verdeutlichen. Sie orientieren sich einerseits an Genese und Struktur von Wissenschaft in der Gesellschaft, andererseits an Wechselwirkungen in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft und vermitteln einen Eindruck der Spannbreite der Themenstellungen, die im Schwerpunktprogramm erforscht werden sollen.

Die Problemstellung: Wissenschaft, Politik und Gesellschaft

Ein Rückblick auf das abgelaufene Jahrhundert zeigt, wie durchgreifend wissenschaftliches Wissen sowohl die persönliche Lebensführung wie auch die Funktionsweisen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prägt. Bereits 1963 belegte der amerikanische Wissenschaftssoziologe Derek de Solla Price das exponentielle Wachstum des Wissenschaftsvolumens, das sich damals, gemessen in Manpower oder in Publikationszahlen, alle 10 bis 15 Jahre verdoppelte. Zudem berechnete er, daß rund 90 % aller Wissenschaftler, die jemals auf der ganzen Welt gelebt hätten, in seiner Gegenwart wirkten. In der Tat sprechen viele Indikatoren dafür, Zeitgeschichte neu über tiefgreifende Verwissenschaftlichungsprozesse in allen gesellschaftlichen Teilsystemen und allen Lebensbereichen zu definieren. Dies betrifft eine Verlagerung von arbeits- zu wissensbasierten Industrien ebenso wie ‚natürliche‘ und intime Vorgänge, sind doch auch Schwangerschaft und Geburt durchdrungen von Wissenschaft in Form biomedizinisch-genetischer Forschung.

Vor diesem Hintergrund wird seit den 1980er Jahren die Gesellschaft der Gegenwart oder Zukunft immer wieder unter Begriffen wie „Informations-”, „Wissenschafts-” oder „Wissensgesellschaft” konzeptionell erfasst. Freilich geschieht dies nicht mit ausreichender historischer Tiefenschärfe. Es ist daher eine historische Perspektive auf eine fortgeschrittene Gesellschaftsformation zu eröffnen, in der wissenschaftliches Wissen seine soziale Funktion kontinuierlich erweitert hat. Dieser Prozeß hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert in einzigartiger Weise beschleunigt. Vollzog sich im 19. Jahrhundert der Übergang von einer vorwiegend agrarisch zu einer industriell strukturierten Gesellschaft, so bietet sich für das 20. Jahrhundert eine Perspektive auf eine vorrangig informationsbasierte Gesellschaft an. Die zuvor vorrangig gesellschaftsstrukturierende und –organisierende industrielle Produktion wird in ihr maßgeblich auf das Teilsystem Wissenschaft als Faktor gesellschaftlichen Wandels hin erweitert.

Auf der anderen Seite ergeben statistische Untersuchungen, daß ein Artikel einer naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift heute im Schnitt nicht einmal mehr von vier Personen gelesen wird. Ferner scheint die Öffentlichkeit immer weniger in der Lage zu sein, ihrer Holschuld nachzukommen, nachdem eine im 19. Jahrhundert noch weitgehend selbstverständliche und in Sprache und Darstellung relativ unproblematische Bringschuld der Wissenschaft seither durch die Herausformung spezifischer Wissenschaftssprachen an ihre Grenzen stieß. Die das gesamte 20. Jahrhundert durchziehende Sorge um den Verfall der Wissensbasis ist in den letzten Jahren gerade in Deutschland mit Händen greifbar, wie die jüngsten Debatten um „Wissenschaft im Dialog” und „Public Understanding of Science (and Humanities)“ zeigen.

Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte beobachten wir eine Verwissenschaftlichung von Lebensführung, gesellschaftlichen Aushandelungsprozessen und staatlichem Ordnungshandeln unter Einschluss wissenschaftlich legitimierter Konstrukte seit den Entwicklungsschüben des späten 19. Jahrhunderts. Zunehmend schärfer nehmen wir das Deutsche Kaiserreich als eine unsere Gegenwart präformierende Scharnierphase wahr. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die offenkundige „Verwissenschaftlichung des Sozialen”, die, eng verknüpft mit der Herausbildung der modernen Leistungsverwaltung und eines ganzen Systems staatlicher und kommunaler Daseinsvorsorge, in eine breite wissenschaftliche Reformdiskussion eingebettet war, in der Experten aus Jurisprudenz, Nationalökonomie, Statistik, Medizin und den neuen Disziplinen Psychologie, Psychiatrie und Soziologie den Ton angaben. Gleichzeitig prägten kulturwissenschaftliche Deutungsmuster Entwürfe gesellschaftlicher und individueller Lebensführung, nationalkultureller Selbstverständigung und Legitimationsstrategien.

Daneben erlebten Natur- und Technikwissenschaften mit der Jahrhundertwende einen stürmischen Aufbruch, setzten Professionalisierungsprozesse in Gang, bewirkten disziplinäre und institutionelle Ausdifferenzierungen und drangen in zahlreiche, zuvor ‚wissenschaftsfreie‘ Bereiche ein. So belegen die Entstehung industrieller Forschungslaboratorien und der Aufstieg der sogenannten „science-based industries” wie die chemische, die pharmazeutische und die Elektroindustrie, daß wissenschaftliche Forschung seit den 1880er Jahren in Deutschland eine neuartige Rolle für den Produktionsprozeß und das wirtschaftliche Wachstum zu spielen beginnt.

Solche besonderen deutschen Entwicklungspfade konkretisieren die Problemstellung. Das hier vorgeschlagene Konzept einer historischen Untersuchung von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft verhindert jedoch vom Ansatz her jede nationalstaatliche Verengung. Es fordert den internationalen Vergleich sowie die Berücksichtigung transnationaler Transferbeziehungen, die vermeintlich geschlossene Nationalkulturen zueinander in Beziehung setzen. Befunde zur Internationalisierung des Wissens stehen damit in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zu Ergebnissen historischer Forschungsprojekte zu nationalen Arbeits- und Denkstilen bzw. nationalen Innovationskulturen.

Gerade im Hinblick auf eine solche internationale Perspektive ist etwa zu fragen, inwiefern die bereits im Ersten Weltkrieg hohen, im Nationalsozialismus weiter gesteigerten Ausgaben für eine autarkiepolitisch orientierte Forschung und Entwicklung das deutsche Innovationssystem in den sprichwörtlichen „Käfig“ (Ulrich Wengenroth) und das Land in die politisch-ökonomische Isolation geführt haben. Vieles deutet darauf hin, daß diese Tendenz auch über die politisch gesetzte Zäsur von 1945 hinaus gewirkt hat. Die kollektive Erfahrung des ‚brain drain’ der deutschen Wissenschaftselite, alliierter Forschungsverbote und restriktiver Eingriffe der Besatzungsmächte verlängerte die Politik der Abkoppelung von internationalen Entwicklungen bis weit in die Nachkriegsjahrzehnte hinein. Es läßt sich diskutieren, ob nicht erst die Debatten um die „amerikanische Herausforderung“ und die „technologische Lücke“, die zunehmende Europäisierung der Wissens- und Technikmärkte und die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung das bundesdeutsche Innovationssystem – nicht dagegen das der DDR – endgültig aus dem Käfig der Autarkie herausgeführt haben.

Damit werden die nach wie vor einschneidenden politischen Zäsuren 1918, 1933 und 1945 keineswegs ausgehebelt, doch stellt sich die Frage nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten über politische Systembrüche hinweg neu. Zum einen decken sich wissenschaftliche Bruchzonen nicht mit politischen Zäsuren. Auf der anderen Seite zeichnet sich beispielsweise das Gefüge wissenschaftlicher, wissenschaftspolitischer und wissenschaftsfördernder Institutionen seit dem späten Kaiserreich durch Dauerhaftigkeit und Kontinuität aus. Gerade für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist danach zu fragen, welchen spezifischen Interdependenzen Staatsverfassung, Gesellschaftssystem, Wissenschaftsorganisation, Forschungsprogramme und intellektuelle Dispositionen in langfristiger Perspektive unterlagen. Dabei besaß Wissenschaft für die Politik nicht nur eine instrumentelle, sondern zunehmend auch eine legitimatorische Funktion. Wiederum zielten langfristige Strategien von Wissenschaften und Wissenschaftlern auf Deutungskompetenz und Ressourcennutzung in geschmeidiger Indienstnahme politischer Erwartungsinteressen, während politische Systeme wissenschaftliche Ressourcen und individuelle Karrierehoffnungen instrumentalisierten. Nach der Erfahrung des Dritten Reichs stellt sich daher in Deutschland die Frage der politischen Verantwortung von Wissenschaft mit besonderer Schärfe.

Der analytische Zugriff: Personen, Institutionen, Diskurse

Die Trias „Personen, Institutionen, Diskurse“ verweist auf mögliche Schwerpunkte, die sich je nach leitender Fragestellung ergeben. Bei den Zusammenhängen von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft geht es um eine Vielfalt komplexer Interaktionsformen. Mit diesem dreifachen Perspektivenraster wird vorgeschlagen, im zu untersuchenden Thema jeweils die Dominante zu bestimmen. So liegt es z.B. nahe, die deutsche und internationale Eugenik bzw. Rassenhygiene als vor allem diskursiv bestimmt in den Blick zu nehmen und im internationalen Vergleich etwa die Institutionenbildung in Abhängigkeit von der jeweils nationalspezifischen diskursiven Formation zu untersuchen. Andererseits sind Entwicklungen über historische Brüche hinweg häufig von institutioneller Persistenz geprägt, die das Verhalten von Personen und die Entwicklung der Diskurse dominieren kann. Nicht selten kommt Einzelpersonen (z.B. Fritz Haber) und Personengruppen (etwa in der NS-Wissenschaftspolitik der späten dreißiger Jahre) eine dominante Rolle zu. Die Trias „Personen, Institutionen, Diskurse“ erfordert also die Identifikation der leitenden Vermittlungsinstanzen in der Interaktion von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sie sind zudem auf jeweilige kulturelle Gegebenheiten in unterschiedlichen Deutungskulturen zu beziehen.

Auf Personen beziehen sich biographisch oder kollektivbiographisch geprägte Fragestellungen, die das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Determinierung wissenschaftlichen und politischen Handelns in den Blick nehmen müssen. Für die Prägung, Sozialisierung und Handlungsmöglichkeiten von Personen spielt immer eine Vielfalt von diskursiven Räumen, Institutionen und Personenkonstellationen eine Rolle. Die Wissenschaften halten sich im kognitiven Bereich weitgehend offen für das Neue, fördern Innovationsbereitschaft und Kritik, doch gibt es auch hier durchaus Grenzen. Diese Grenzen sind nicht zuletzt den politisch-sozialen Bindungen und normativen Vorgaben wissenschaftlicher Institutionen und der in ihnen wirkenden Personen geschuldet. Auf der anderen Seite sind es aber gerade auch Personen, die sich bis zu einem gewissen Grade nonkonform verhalten und in Gegensatz zum Wissenschaftssystem und seiner politischen Einbettung geraten können.

Auf Institutionen zielen zunächst historische Untersuchungen zu wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Hochschulen oder Forschungsinstituten. Institutionen im engeren Sinne wie z.B. die DFG entwickeln Verhaltens- und Diskursregeln, die auf Stabilität und Selbsterhaltung angelegt sind und denen sich die individuellen Akteure weitestgehend unterwerfen müssen. Damit ist eine Tendenz zur Autonomie wie zur Anpassungsfähigkeit angelegt, die durchaus spannungsvoll sein kann. Für wissenschaftliche Institutionen ist diese Spannung konstitutiv für ihr Verhältnis zur Politik wie auch ihr konkretes politisches Handeln. Wenn unter Institutionen im weiteren Sinn auch etablierte soziale Zusammenhänge mit formalen Regeln verstanden werden, dann kann der Untersuchungsgegenstand auch das Netzwerk einer forschungspolitischen Elite sein, die verschiedene Institutionen verknüpft, deren Tätigkeiten und Orientierungen abgleicht und die Rekrutierung von Nachwuchs im Netzwerk und in den Einzelinstitutionen kontrolliert. Die Art der Stabilisierung oder Destabilisierung eines solchen Systems läßt sich besonders gut in politischen Umbruchsituationen greifen.

Studien, die sich auf Handlungs-, Deutungs- und Orientierungsfelder beziehen, fokussieren auf Diskurse, die als begrenzte, aber keineswegs scharf abgegrenzte Kommunikationsfelder verstanden werden, in deren Konstitution und Funktion auch materielle Dinge und Praktiken eine Rolle spielen. Besondere Bedeutung wird dabei der Analyse interdiskursiver Elemente zukommen, die mehrere kommunikative Felder miteinander verbinden. Beispielsweise zentriert sich die Luftfahrtforschung in Deutschland in ihrem historischen Selbstbild wesentlich um die Aerodynamik und damit um einen grundlagenwissenschaftlichen Spezialdiskurs. Dieser ist wiederum an eine bestimmte Praktik gebunden, nämlich an die Forschung am Windkanal, einem Großgerät, an dem sich Industrielle, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Politiker mit ihren Interessen begegnen. Eine diskursorientierte Perspektive wird, wenn es um das Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik geht, gerade die Überschneidungsbereiche in den Blick nehmen müssen. Ein anderes Beispiel ist die Vorwortideologie wissenschaftlicher Abhandlungen, die deren Substanz ansonsten unberührt läßt und die sich ausgeprägt im Nationalsozialismus oder im Marxismus-Leninismus findet. Ein interdiskursives Element anderer Art ist der Rassebegriff, der in verschiedenen kommunikativen Feldern sehr unterschiedliche Bedeutungen gewinnen und damit in einer verhängnisvollen Weise ubiquitär und machtvoll werden konnte.

Themenfelder

Von besonderem Interesse sind Projekte, die von ihrem methodisch-thematischen Zugang her sich im Raster der Themenfelder mehrfach verorten lassen. Dazu zählen beispielsweise Forschungsvorhaben, die internationale Vergleiche angehen und auf diese Weise Parallelitäten identifizieren und/oder nationale Spezifika herausarbeiten. Darunter fallen ferner Projekte, die verschiedene politisch-gesellschaftliche Systeme übergreifen oder vergleichen. In ihren Fokus geraten Spezifika wie auch signifikante Kontinuitäten und Brüche, an deren Analyse dem Schwerpunktprogramm besonders gelegen ist.

Bereich 1: Genese und Strukturierung von Wissenschaft in Gesellschaft

In aller Regel entstehen neue Bereiche der Wissenschaft im Spannungsfeld von Öffentlichkeit, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in einem Wechselspiel. Es ist jedoch sinnvoll, nach dominanten Triebkräften zu fragen. Forschungsprojekte, in denen Bereiche mit wechselnden Dominanzen oder relativem Gleichgewicht der Kräfte konfrontiert werden, sind hier als themenfeldübergreifend anzusehen und ggf. gerade darum positiv zu bewerten.

6.1. Die gesellschaftliche Institutionalisierung, Strukturierung und Steuerung des Wissenschaftssystems
Dieses Themenfeld zielt auf die Analyse der Generierung von wissenschaftlichen Institutionen, Themen und Projekten durch staatliche Politik und andere gesellschaftliche Kräfte. Es stellt sich hier u.a. die Frage, wie gestaltungsfähig die politischen oder anderen Interessen in Hinsicht auf das Wissenschaftssystem sind und von welchen politisch-sozialen und kulturellen Bedingungen diese Fähigkeit abhängig ist. Ein Beispiel sind wissenschaftsbasierte Industrien wie insbesondere die chemische Industrie. Sie scheiterte zwar im Kaiserreich mit dem Projekt einer Chemisch-Technischen Reichsanstalt, war jedoch von großem Einfluß auf die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und verfügte schließlich im NS-Staat mit dem Reichsamt für Wirtschaftsausbau über eine eigene, quasi halbstaatliche wissenschaftspolitische Institution. Ein weiteres Beispiel ist der – allerdings aufgrund Resistenz der Einzelwissenschaften weitgehend erfolglose Versuch der nationalsozialistischen „Bewegung“, „Wehrwissenschaft“ an Hochschulen zu etablieren. Diesem Themenfeld sind insgesamt die Entwicklung, Binnengestalt und Wirksamkeit explizit wissenschaftspolitischer Institutionen zuzuordnen.

6.2. Positionierung und Selbstverständigung der Wissenschaften in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
Komplementär zu 6.1. geht die historische Analyse hier von der Wissenschaft aus, die sich in Anpassung an und Auseinandersetzung mit ihrem Umfeld konstituiert und weiterentwickelt. Dabei sind weniger die weitestgehend autonomen Bereiche der Forschung wie z.B. die theoretische Mathematik oder Physik von Interesse als vielmehr solche, in denen sich Anpassung an und Auseinandersetzung mit der jeweils gegebenen historischen Lage zur Untersuchung anbieten. Eingeschlossen sind dabei auch die Frage nach der kulturellen Einbettung von Themen „reiner“ Wissenschaft, wie die bekannte These von Forman zum Einfluß der Weimarer Kultur auf die Akzeptanz der Quantenmechanik, ebenso wie die Frage nach der Ausdifferenzierung von Subdisziplinen oder lobbyartigen Institutionen. Diese dienten politisch auch dem Schutz der Autonomie „reiner“ Gebiete, wie es mit der Entstehung von Professuren angewandter Mathematik im Kaiserreich oder dem Mathematischen Reichsverband 1923 der Fall war. Offensichtliche Untersuchungsgegenstände sind Anpassungsprozesse bei politischen Systemwechseln. Hier treten häufig Kontroversen und Umbrüche in der Selbstdefinition der Wissenschaften auf, die im Zusammenhang mit dem Wandel des politischen und gesellschaftlichen Kontextes untersucht werden können.

6.3. Gesellschaftliche Selbstentwürfe und Selbstkonstruktion durch Wissenschaften
In diesem Themenfeld geht es um Diskurse, in denen Gesellschaften sich ein handlungsorientierendes „Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen“ (Jürgen Mittelstraß). Der Blick richtet sich auf geistes- und naturwissenschaftlichen Institutionen, in denen Wissenschaft und Technik Deutungsmacht bezüglich der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung bzw. „Selbstkonstruktion“ erhalten. Dies betrifft gleichermaßen die kognitiven Strukturen gesellschaftlicher Selbstentwürfe durch „gedachte Ordnungen“ in wissenschaftlichen Kategorien. So geht aus der Dauerspannung von Innovation und Ideologie eine „Sozialrelevanz“ hervor, wie sie sich etwa in der Gründungsgeschichte der „Volkskunde“ besonders deutlich niedergeschlagen hat. Hier kann der wissenschaftsgeschichtliche Förderschwerpunkt an das ablaufende Schwerpunktprogramm „Ideen und ihre soziale Gestaltungskraft im neuzeitlichen Europa“ methodisch anknüpfen. Denn es geht ebenfalls um Fragen, welche Wissenschaftsbereiche „leitkulturelle“ Funktionen übernehmen und welche wissenschaftlichen Experten sich in den öffentlichen Debatten als dominant erweisen. Dieses Themenfeld hat enge Bezüge zum Komplex „Medien und Öffentlichkeit“, ist damit aber nicht deckungsgleich.

6.4 Forschung und Entwicklung im politisch-ökonomischen Zusammenhang
Dieses Themenfeld wird von fast allen anderen mit berührt, verdient aber einen eigenen Platz, nicht zuletzt, weil es in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Herausbildung einer neuen Wissensordnung einen zentralen Platz einnimmt. Die These einer zunehmenden Verwischung der systemischen Grenzen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik („blurring of the boundaries“), die in der „Triple Helix“ der Wissensgesellschaft eine immer enger werdende Verbindung eingehen, bedarf dringend einer historischen Überprüfung. Dabei spricht manches für eine doppelte, als scheinbare Paradoxie zu beschreibende Annahme: Einerseits erfuhr gerade auch die deutsche Wissens- und Innovationskultur während und im Gefolge der beiden Weltkriege einen Politisierungs- und Ökonomisierungsschub. Andererseits verstärkte die kollektivbiographische Verarbeitung ihrer Verknüpfung mit Wirtschaft und Politik im NS-Staat bei den wissenschaftlichen Eliten das tradierte gesellschaftliche Leitbild einer Autonomie von Wissenschaft, das sich in der Vorstellung von Wissenschaft als politisch zweckfreien Handelns manifestierte.
Im Mittelpunkt dieses Themenfeldes steht die politische und/oder ökonomische Zweckorientierung von Forschung und Entwicklung, aber auch die Frage, wie der nationale, trans- und internationale politisch-ökonomische sowie kulturelle Kontext von Forschung ihren inhaltlichen Zuschnitt und ihre Ausrichtung prägt. Die autarkiepolitische Orientierung in Deutschland seit dem frühen 20. Jahrhundert ist ein derartiges Moment von zentraler Bedeutung. Gerade die wissensbasierten Industrien können hier als sensibler Gradmesser genutzt werden, wie das Bespiel der Präferenz der deutschen chemischen Wissenschaft und Industrie für hochdrucksynthetische Verfahren zeigt. Entstanden im künstlich abgeschirmten Schutzraum der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs unter Ausschaltung ökonomischen Rentabilitätszwangs und marktwirtschaftlicher Wettbewerbsmechanismen, gaben diese einen wissenschaftlich-technologischen Entwicklungspfad vor, der bis in die 1970er Jahre hinein etwa auf Kosten biotechnologischer Alternativen fortwirkte. Ein anders gelagerter Entwicklungspfad wäre, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auf die frühe Festlegung von DIN-Normen in Deutschland zurückzuführen.
Es ist daher zu untersuchen, welchen Einfluß diese und ähnliche Pfadabhängigkeiten und ihre strukturellen Folgen auf die deutschen Wissenschaftssysteme auch über 1945 hinaus hatten. Dies gilt analog in besonderem Maße für die Einbindung der beiden deutschen Staaten in gegnerische politisch-ideologische Blöcke und Wirtschaftsräume.

Bereich 2: Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft

Mit diesem Bereich geht es um Themenfelder, die auf spezifische Wechselwirkungen in der Trias Politik, Gesellschaft und Wissenschaft abzielen, welche in der Konzeption des ersten Bereiches nicht abgedeckt sind.

6.5. Nationalität - Internationalität - Globalität
In Kommunikation und Wanderungsbewegungen ist Wissenschaft seit der Renaissance in vielen Bereichen „international“. Im 19. Jahrhundert organisiert sich die in zunehmend getrennte Disziplinen gefasste Wissenschaft national (Gesellschaften, Kongresse) und wird zugleich institutionell an das tertiäre Bildungssystem gebunden. Damit entsteht ein Spektrum von stark nationalspezifischen Fächern (Volkskunde, Germanistik, Agrarwissenschaft) bis zu hoch international strukturierten Gebieten (theoretische Physik, Mathematik, theoretische Medizin). Daraus ergeben sich Spannungen vor allem zwischen der Notwendigkeit internationaler Kommunikation und der nationalen Orientierung (Bindung ins Bildungssystem, an die nationale Wirtschaft, an staatliche Ressourcenvergabe, an nationalspezifische Themen, an Militär und Rüstung). Internationale Organisationen bilden sich vor allem seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht nur in der Wissenschaft heraus. Der Bruch der internationalen Kommunikation nach dem Ersten Weltkrieg ist vor zwei Jahrzehnten intensiv untersucht worden. Seither ist für Deutschland das Thema aber nur unzureichend behandelt worden. Defizite bestehen vor allem für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg mit der unterschiedlichen Entwicklung in Ost und West. Für andere Länder liegen Einzelstudien vor, die weitergehende Vergleiche erlauben. Von großem Interesse wären hier z.B. Studien zu den Biowissenschaften, Public Health und zur Informatik.
„Globalität“ soll darüber hinaus erstens auf die sogenannte Globalisierung verweisen, d.h. vor allem die zunehmende Entnationalisierung der Wirtschaft, die für das Wissenschaftssystem eine erhebliche Rolle spielt. Zum zweiten aber geht es um den Zugriff auf den „Globus“, der kommunikativ und politisch seit der Jahrhundertwende keine weißen Flecken auf der Karte mehr hat. Vor diesem Hintergrund bedeutet „international“, daß relativ wenige Länder um den Besitz von Wissen über und den politischen Einfluß auf den Rest der Welt konkurrieren.

6.6. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Bildungssystem
In diesem Feld tritt Gesellschaft ins Zentrum des Blickfeldes, wobei wissenschaftliche Selbstverständigung in den schlagwortartigen Begriffszusammenhang „Wissenschaft und Öffentlichkeit“ übersetzt werden könnte. Öffentlichkeit ist der Raum gesellschaftlicher Selbstverständigung, der von den Spezialdiskursen der großen sozialen Systeme wie Wissenschaft, Medizin, Politik zwar durchdrungen, aber nicht beherrscht wird. Da die Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenmedien der Ort der gesellschaftlichen Legitimierung von Wissenschaft und Politik ist, ist sie in ihrer jeweiligen historischen Strukturierung und ihrem Wandel von größter Bedeutung. In den diktatorischen Systemen ist Öffentlichkeit an sich und in Hinsicht auf Wissenschaft ein besonderes Problem, weil Aushandlungsprozesse kaum mehr stattfinden und in kleinere, weitgehend öffentlichkeitsferne Zusammenhänge verschoben werden.

Die in 6.5. erwähnte Bindung des Wissenschaftssystem an das tertiäre Bildungssystem bringt eine Spannung, die auch heute noch ein hochschulpolitisches Problem ist. Der Bildungsauftrag der Hochschulen ist an nationale Interessen und Bedürfnisse gebunden und zielt auf die Bildung nationaler Eliten, damit auf weit mehr als die fachliche Ausbildung allein. Insbesondere hier stellt sich die Frage der Berührung und Verknüpfung von politischer Ideologie und wissenschaftlichen Themen und Orientierungen, zu der sich vergleichende Untersuchungen anbieten. Wissenschaftshistorisch wenig untersucht ist zudem die Bedeutung der Lehrerbildung für das Wissenschaftssystem und seine Einbindung in gesellschaftliche Zusammenhänge. Weiter geht es hier wieder um die Entwicklung und Wirkung gesellschaftlicher Erwartungen an Bildung, wie sie beispielsweise in der Diskussion um „zwei Kulturen“ in Natur- bzw. Geisteswissenschaften zum Ausdruck kam. Auch die Bildungsfunktion der Medien mit ihrer Verbindung zum und ihrer Rückwirkung auf das Wissenschaftssystem könnte untersucht werden. Dabei spielen die Unterschiede der politischen Systeme gerade in diesem Themenfeld eine große Rolle und laden zu internationalen Vergleichen ein.

6.7. Hierarchische Strukturen und Ordnungsvorstellungen
Es gibt eine Vielzahl von Wert- und Ordnungskategorien, die Wissenschaft, Gesellschaft und Politik gleichermaßen durchziehen und damit strukturierend für deren Interaktionen sind. Unmittelbar einleuchtend ist der soziale Status, der z.B. Universitäten, Technische Hochschulen und Fachhochschulen differenziert und sich auf Personalrekrutierung und Themenwahl in der Forschung auswirkt. Statuswettbewerb und -wandel, exemplarisch die sogenannte Emanzipation der Technischen Hochschulen gegenüber den Universitäten bis 1900, markieren historisch höchst bedeutsame Indikatoren. Das Thema betrifft aber auch Hierarchien in den Wissenschaften, also die hier wissenschaftshistorisch zu wendende klassische Frage der Sozialgeschichte nach Ursachen, Formen und Wandel sozialer Ungleichheit. So haben auch die Wissenschaften ihre disziplinären und subdisziplinären Hierarchien, deren Zustandekommen und Wandel nicht allein ihre Sache ist. Diese spielen für die Ressourcenzuweisung eine wichtige Rolle, sind aber noch kaum untersucht. An dieser Stelle wären weiter der für Frauen lange versperrte Zugang zu den Universitäten, ihre Positionierung an Hochschulen und außer-universitären Wissenschaftseinrichtungen zu untersuchen sowie die arbeitsteilig organisierte Wissensproduktion von Männern und Frauen in den Fachdisziplinen im internationalen Vergleich. Ferner stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Geschlechterbildern in den wissenschaftlichen Diskursen (insbesondere der Lebenswissenschaften) für die Wissensproduktion selbst sowie für die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses in den Gesellschaften.

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Deutsch
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