Historikertag 2004: Wissenschafts- und Bildungsgeschichte

Von
Eckhardt Fuchs, Universität Mannheim

Besprochene Sektionen:

"Orte und Verknüpfung von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert"
"'Raum' und 'Bevölkerung' in den deutschen Geschichts- und Kulturwissenschaften, ca. 1918-1960"
"Wissenschaft, Politik und Krieg. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1933-1945"

Schon ein flüchtiger Blick auf das Tagungsprogramm des Historikertages verdeutlicht, dass Wissenschafts- und Bildungsgeschichte nicht zu den Dauerbrennern des historischen mainstream gehören. Es ist aber nicht allein die geringe Anzahl von insgesamt nur drei wissenschaftshistorischen Sektionen im Gesamtprogramm, die die marginale Bedeutung dieser Subdisziplin widerspiegelt, sondern auch die Tatsache, dass eine Woche nach der Kieler Tagung die Deutsche Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik in Mainz zu ihrer 87. Jahrestagung zusammentraf. Diese räumliche Trennung - und man könnte hier die Bildungshistoriker oder die Rechtshistoriker, die im September in Bonn zusammentrafen, ergänzen - unterstreicht eine institutionelle Ausdifferenzierung, in der Fächergrenzen kaum mehr überwunden werden können. Noch deutlicher wird die Limitierung der Wissenschaftsgeschichte auf dem Historikertag, wenn man auf die Themen der drei Kieler Sitzungen blickt, befassten sich doch zwei mit dem Nationalsozialismus, während die dritte zwar über den deutschen Raum hinausging, aber ebenfalls auf das 20. Jahrhundert beschränkt blieb.

In seiner Einleitung zu der Sektion mit dem Titel "Orte und Verknüpfung von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert" verwies Helmut Trischler (München) auf die ambivalente Haltung von Wissenschafts- und Technikgeschichte zum Raum, den selbige erst im Zuge des "spatial turn" in den letzten beiden Jahrzehnten wieder entdeckt habe. Trischler diagnostizierte dabei vier aktuelle Forschungsfelder: die Rekonstruktion lokaler Praktiken der Produktion von Wissen in Laborstudien; die Erforschung der Transferbeziehungen von Wissenschaft und Technik, in denen die Produktion, Diffusion, Rezeption und Nutzung von Wissenschaft, aber auch die Migration von Wissenschaft zwischen disziplinären und kulturellen Räumen untersucht werden; die historische Innovationsforschung und schließlich die Geo- und Raumwissenschaften, d.h. die Historisierung raumbezogener Forschung. Die einzelnen Beiträge in dieser Sektion gingen aus einer seit März 2000 in München und Regensburg bestehenden Forschergruppe hervor, die am Beispiel des deutsch-amerikanischen Vergleichs die Verknüpfung von Wissenschafts- und Technikgeschichte erforscht.

Martina Heßler (Aachen) untersuchte in ihrem Vortrag am Beispiel München/Garching das Phänomen von Städten als Orte des Wissens und zeigte im Kontext des Wechselverhältnisses von Wissenschaft und Technik im urbanen Raum nach 1945, wie die Topografie der räumlichen Organisation von Wissenschaften verschiedene Konzepte urbaner Wissenschaftspolitik schuf und vice versa Urbanität dabei als Metapher für Kreativität und für eine Integration von Wissenschaft in die Gesellschaft gesehen wurde, die allerdings, so die Referentin, zunächst nicht der Realität entsprach. Erst die Aufhebung der formalen Trennung von Wissenschaft und Stadt seit den 1990er Jahren führte zur Wiederentdeckung der Wissenschaftsstadt, wobei Urbanität nun quasi als Kulisse am Rande der Stadt imitiert und inszeniert wurde.

Michael Eckert (München) analysierte die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland am Beispiel des Technologietransfers in der Aerodynamik in der Zwischenkriegszeit. Er zeigte dabei, dass das pragmatische Interesse der amerikanischen Luftfahrtforschung an der führenden deutschen Aerodynamik bereits in den frühen 1920er Jahren zu einer Unterwanderung des offiziellen Boykotts deutscher Wissenschaft führte. Die deutschen Forscher wiederum sahen in der Kooperation eine Möglichkeit, die internationale Isolierung zu überwinden und insbesondere seit Ende der 1920er Jahre die Expansion der deutschen Luftfahrtforschung zu forcieren. Erst Ende der 1930er Jahre kam es zu einer Abkühlung der Beziehungen, die Eckert im Spannungsverhältnis von "Geheimhaltung" und "wissenschaftlichem Internationalismus" interpretierte.

Der dritte Vortrag von Carsten Reinhardt (Regensburg) wandte sich Zentren wissenschaftlicher Großforschung und ihren Instrumentarien in den USA und Europa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Diese Zentren, an denen sich die größten und kostspieligsten Apparaturen befanden, bildeten Marktplätze des Wissens und fungierten als Produktionsort von Instrumenten. Sie dienten und dienen der Steuerung von Zugangsmöglichkeiten zu den Instrumenten, als Entwicklungseinrichtung und Ort der Verbreitung der Instrumente und als Kristallisationspunkt für eine Expertengemeinschaft, wobei die Betreiberexperten vor Ort ihr Zugangs- und Bedienungsmonopol in vielfältiger Weise gegen die wissenschaftliche Konkurrenz nutzen konnten.

Behandelten diese Beiträge die von Trischler angesprochenen Gebiete der Labor- und Transferstudien, wandten sich die beiden letzten Vorträge der Historisierung der Raumforschung und dem Transfer von wissenschaftlichem in triviales Wissen zu. Ralph Boch (München) zeichnete ein Panorama der Geschichte der Geowissenschaften am Beispiel der Institute auf dem Potsdamer Telegrafenberg und legte dar, wie die politischen Brüche des 20. Jahrhunderts die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erdvermessung beeinflussten und insbesondere nach 1945 zu einer Vertiefung der fachlichen Fragmentierung führten. Ulrich Wengenroth (München) problematisierte anhand des Konzepts von Rationalitätsfiktionen die Wissensasymmetrie von Wissensproduktion und populärem Wissensverständnis am Beispiel rationaler Entscheidungen beim Einkauf und beim Umgang mit Technik. Die Sektion griff damit zahlreiche der von Trischler eingangs formulierten Forschungsthemen auf. Die Perspektive der Verknüpfung von Wissenschafts- mit Technikgeschichte, von Wissenschaft, Urbanität und Konsum verspricht dabei innovative Forschungsresultate.

Die in der allgemeinen Diskussion erhobene Warnung vor einer zu starken Separierung von Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte mag in Einzelfällen berechtigt sein, der Blick auf die beiden folgenden Sektionen, in denen gerade das Verhältnis von Wissenschaft und Politik thematisiert wurde, offenbart allerdings, dass diese Gefahr zumindest für die Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus nicht akut ist.

Die Sektion über "'Raum' und 'Bevölkerung' in den deutschen Geschichts- und Kulturwissenschaften, ca. 1918-1960" wurde von Josef Ehmer (Salzburg) mit einem Überblick eingeleitet, in dem er auf das den Beiträgen zugrunde liegende DFG-Schwerpunktprogramm "Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts ‚Bevölkerung' vor, im und nach dem ‚Dritten Reich'" einging. Ehmer verwies auf die Paradigmen der Bevölkerungsforschung im Wandel der politischen Systeme, deren Interesse aber stets auf das Wechselverhältnis von geografischem Raum und demografischen Strukturen abhob. Die Ambivalenz der Begriffe "Bevölkerung" und "Raum" zeigte sich insbesondere im Nationalsozialismus, als mit der Bevölkerungsforschung ethnische Vertreibungen und soziale "Säuberungen" wissenschaftlich legitimiert und machtstaatlich missbraucht wurden. Die Vorträge stellten überwiegend die Ergebnisse jüngst veröffentlichter Dissertationen vor und knüpften mit ihren Fallstudien über spezifische Konzeptionen dieser beiden Begriffe und das Verhältnis von Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik an Ehmers Einführung an.

So zeigte Wolfgang Freund (Metz) am Beispiel des Gauleiters der neugeschaffenen Verwaltungseinheit "Gau Westmark", Josef Bürckel, wie Wissenschaftler und bereits in den 1920er Jahren gegründete wissenschaftliche Institutionen mittels Raum- und ethnischer Konstruktionen eine Germanisierung mit dem Ziel betrieben, im Saarland eine neue, gegen Frankreich gerichtete Heimatidentifikation zu schaffen. Bevölkerungsforschung und Siedlungspolitik, etwa durch massive Zwangsumsiedlungen, gingen dabei Hand in Hand. Den Osten, nämlich das besetzte Polen, nahm Ingo Haar (Berlin) in den Blick, indem er nach einer theoretischen Erörterung des Paradigmas vom Grenz- und Auslandsdeutschtum anhand der nationalsozialistischen Raum- und Sozialstrukturplanung im besetzten Polen die Ex- und Inklusion von bestimmten Bevölkerungsgruppen als aktive Sozialplanung verschiedenster Akteure - vom Volkskundler bis zu politischen Entscheidungsträgern - kennzeichnete. Die Selektion und Neuansiedlung erfolgte dabei nicht nur nach rassischen Kriterien, sondern auch nach Gesichtspunkten der Arbeitskraft.

Michael Wedekind (Münster) verglich die sozioethnische und territoriale Raumplanung und -politik in Slowenien und Norditalien und nahm damit einen ethnisch sehr heterogenen Raum in den Blick. Er zeigte dabei die Kontinuitäten und Brüche eines geopolitischen, sich über ein Netzwerk von Wissenschaftlern, Administratoren und Politikern erstreckenden Diskurses zwischen 1918 und 1945. Besonders für die italienische Annexion ab 1943 fragte Wedekind nach dem Erfolg der Germanisierungsversuche der norditalienischen Bevölkerung mittels raum- und bevölkerungswissenschaftlicher Konzepte, die die deutsche Siedlungspolitik legitimieren sollten. Er betonte dabei die wohl nicht von der Reichsregierung direkt gesteuerten Befugnisse der lokalen Machthaber.

Der Abschlussvortrag von Alexander Pinwinkler (Salzburg) griff mit dem Konzept der "Grenze" eine der wesentlichen Kategorien bevölkerungswissenschaftlicher Forschung auf und zeigte anhand bevölkerungsgeschichtlicher Analysen, dass "Assimilation" und "Dissimilation" spezifische nationalsozialistische Konstrukte waren. Der sozialdarwinistisch-völkische Begriff der "Umvolkung" bot allerdings schon seit den 1920er Jahren ein zentrales Instrument zur Umsetzung der biologischen Angleichung in ethnisch gemischten Gebieten. Einen zentralen Aspekt der raum- und bevölkerungswissenschaftlichen Forschungen bildeten zunächst die Grenz- und Auslandsdeutschen, wobei es um eine wissenschaftlich legitimierte Rekonstruktion der Erstdeutschen - insbesondere durch die Kriterien von "Rasse", "Blut" und "Leistung" - und die Auffindung von Räumen zur deutschen Wiederbesiedlung ging. Bevölkerungsgeschichte bildete damit die Basis für die nationalsozialistische Siedlungspolitik mit dem Zweck, historische Ursachen demografischer Verschiebungen zu analysieren. Grenze wurde als Konzept sozialer Differenz, als Erklärungsmittel zur Verdrängung von Volksgruppen genutzt. Pinwinkler verband seinen historischen Überblick aber auch mit dem Hinweis, dass die Bevölkerungsgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft kaum akzeptiert sei. Leider blieb - im Unterschied zur Sektion über Wissenschaft und Technik - nur wenig Zeit zur Diskussion. So hätte man sich beispielsweise mehr über das von Haar verwendete und auf Foucault zurückgehende Konzept der Biopolitik und zur personellen und inhaltlichen Kontinuität der Bevölkerungs- und Raumforschung nach 1945 gewünscht, aber auch die Frage, wie denn die nationalsozialistische Idee eines "rein deutschen Siedlungsgebietes" überhaupt aussah, konnte nicht beantwortet werden.

Die Sektion zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus präsentierte Forschungsergebnisse aus einem seit 1999 laufenden und im nächsten Jahr ausklingenden Forschungsprojekt, aus dem, so Wolfgang Schieder (Köln) in seinen einleitenden Bemerkungen, bereits acht von insgesamt 16 geplanten Bänden hervorgegangen sind. Schieder verwies dabei auf die drei wesentlichen Bereiche dieses Projektes, nämlich die Rassen-, Rüstungs- sowie Ost- und Lebensraumforschung, über die der Zugriff auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik erfolgen sollte. Im ersten Referat ging die ehemalige Projektleiterin Carola Sachse (Wien) allerdings über diese Bereiche hinaus, indem sie die Geschichte der KWG im Zweiten Weltkrieg in international vergleichender Perspektive verortete und dabei auf ein mit Mark Walker durchgeführtes Projekt einging, dessen Ergebnisse im kommenden Jahr in der wissenschaftshistorischen Zeitschrift Osiris erscheinen werden. Das Ziel dieses komparativen Ansatzes besteht laut Sachse darin, das Ausmaß, die Form und die Folgen der Kooperation der Naturwissenschaften mit der faschistischen Diktatur mit den Interaktionen von Wissenschaft und Politik in anderen Ländern in Beziehung zu setzen, um damit die Spezifik des deutschen Falls herauszuarbeiten. Dabei lassen sich drei, für alle Länder geltende Befunde feststellen: In allen kriegführenden Ländern herrschte keine "wissenschaftsfeindliche Haltung" vor, sondern es existierte vielmehr eine politische Unterstützung und Einbindung von Wissenschaft und Forschung; die wissenschaftlichen Institutionen stellten sich auf die militärischen Bedingungen und Forderungen ein und profitierten davon; schließlich gab es eine, wenn auch national unterschiedliche Reglementierung von Wissenschaft in allen untersuchten Staaten. Die Spezifik des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik im Nationalsozialismus - und auch in Japan - bestand vor allem in der Aussetzung von Kontrolle und damit möglicher gesellschaftlicher Bremsfunktionen einerseits, dem Ausmaß und der Brutalität menschlicher Forschungen im Kontext von Rassenpolitik andererseits, die faktisch die systemimmanenten Schranken moderner Staatssysteme außer Kraft setzten.

Rüdiger Hachtmann (Berlin) ging auf das enge Wechselverhältnis von KWG und Rüstungsindustrie seit den 1920er Jahren ein und zeigte an Fallbeispielen die Bedeutung dieser Wissenschaftsinstitution für die Rüstung. Sie bildeten die Grundlage für den "Tauschhandel" von wissenschaftlichem mit politischem und ökonomischen Kapital, ermöglicht durch die personellen und informellen Netzwerke zwischen dem Führungszirkel der KWG und Ministerialbeamten sowie elitären Klubs und Vereinigungen. Dabei erfolgte, so Hachtmann, eine "politische Teilidentifikation" der KWG mit dem System, in dem ihr technokratisches Wissenschaftsmanagement eine Erfolgsgeschichte schrieb.

Helmut Maier (Berlin) stellte am Beispiel der physikalischen, chemischen und technischen Institute der KWG die Frage, wie sich der Machtwechsel von 1933 im Hinblick auf Themen und Formen der Förderpolitik auswirkte und offenbarte dabei die Kontinuitäten in der Kooperation zwischen KWG und Staat seit der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die sich auch nach 1933 fortsetzte. Im Anschluss an Hachtmann schlussfolgerte er, dass die KWG den Erwartungen von Militär und Rüstungsindustrie entsprach und eine Schlüsselstellung in der Wissenschaftspolitik des Nationalsozialismus einnahm.

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld) unterstrich dieses Urteil anhand der Biowissenschaften - insbesondere am Beispiel des Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Psychiatrie, des KWI für Hirnforschung und der Deutschen Forschungsanstalt -, die in der nationalsozialistischen Biopolitik eine bedeutende Rolle einnahmen. Mit der Verteidigung von Zwangssterilisation und der Durchführung der Erb- und Rassenforschung spielten diese Wissenschaften eine Schlüsselrolle in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Die Zusammenarbeit von Mengele und dem Berliner KWI offenbarte diese Pervertierung von Wissenschaft am unverblümtesten. Die drei Institute ließen alle wissenschaftsethischen Grenzen hinter sich und führten seit 1938/39 unbegrenzt Menschenversuche durch.

Die Sektion wurde durch den Vortrag von Reinhard Rürup (Berlin) beschlossen, der sich kritisch mit der Bewältigung bzw. Nichtbewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit der KWG nach 1945 auseinandersetzte. Nach Kriegsende stand zunächst die Existenzsicherung der Institution im Vordergrund, die einer radikalen Vergangenheitsbewältigung gegenüber wenig aufgeschlossen war. Dies führte nicht nur zur Legendenbildung von der Distanz zum nationalsozialistischen System, sondern verhinderte auch die Wiedereinstellung emigrierter Mitglieder. Erst in den 1980er Jahren begann die Max-Planck-Gesellschaft mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und dem Eingeständnis historischer Schuld.

Nun scheint es voreilig angesichts der weiteren, aus diesem Projekt zu erwartenden Bände, auf Forschungslücken zu verweisen. Ausgehend von den Referaten und in Anlehnung an die von Trischler aufgezeigten Forschungsrichtungen fällt auf, dass sowohl die Rekonstruktion lokaler Forschung, also die Praxis des Wissenschaftlers im Labor, als auch die Frage nach den spezifischen Innovationspotenzialen von wissenschaftlicher Großforschung in Diktaturen in Kiel keine Behandlung fanden. Bezugnehmend auf aktuelle Forschungsschwerpunkte in der Geschichtswissenschaft scheinen einerseits systematische internationale Vergleichsstudien der Wissensproduktion und -praxis in wissenschaftlichen Institutionen noch ein Desiderat darzustellen, andererseits eröffnet das Feld der internationalen und interinstitutionellen Transferforschung die Möglichkeit einer Vielzahl von Anschlussprojekten. Gerade der interinstitutionelle Wissenstransfer vermag dann vielleicht Netzwerke aufzuzeigen, über die etwa die Biopolitik der KWG und die Bevölkerungsgeschichte, um ein Beispiel eines anderen in Kiel behandelten Falls zu erwähnen, kommunizierten.

Allen drei Sektionen muss man bescheinigen, neueste Forschungsergebnisse aus laufenden Projekten oder gerade abgeschlossenen Qualifizierungsarbeiten vorgestellt zu haben. Um so bedauerlicher ist es, dass die Fülle der Referenten intensive Debatten nur in beschränktem Maße zuließ. Außer den eingangs erwähnten thematischen Beschränkungen der Wissenschaftsgeschichte auf dem Historikertag ist auffallend, dass es keine Sektion zur Geschichte der eigenen Disziplin gab. Sieht man von einem Vortrag von Hartmut Bergenthum (Gießen) über Geschichtswissenschaft im postkolonialen Kenia und einem Referat von Blažej Bialkowski (Berlin) über den deutsch-polnischen Historikerstreit zur Frage der Souveränität Polens ab, war Historiografiegeschichte nicht präsent. Nach den kontroversen Debatten vorhergegangener Historikertage über DDR-Historiografie, die nationalsozialistische Ostforschung (hierzu gab es im Programm einen Vortrag von Hans-Christian Petersen/Mainz über die deutsche Ostforschung am Beispiel Peter-Heinz Seraphims) und die Verquickung bundesdeutscher Historiker mit dem Nationalsozialismus scheint das Interesse an einer Reflexion über die Geschichte des Faches erlahmt zu sein. Dies trifft auch auf Geschichtstheorie und -methode zu. Erregten linguistic und cultural turns noch die Gemüter, blieb eine systematische theoretisch-methododologische Debatte des "spatial turn", immerhin Thema der Tagung, aus. Welche Konsequenzen Globalisierungsherausforderungen auf Geschichtstheorie und Geschichtskultur haben könnten, blieb ebenso unbehandelt wie auch der Bereich der Popularisierung historischen Wissens. Wenig, so hat man den Eindruck, ist in Kiel unternommen worden, um über die Rolle der Geschichtswissenschaft als zentralem Bestandteil der Geschichtskultur hinaus traditionelle Orientierungsfunktionen erneut zu beanspruchen.

Eckhardt Fuchs ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Erziehungswissenschaft I der Universität Mannheim. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind transnationale Beziehungen in Bildung und Wissenschaft und die historisch-vergleichende Bildungsforschung im 19. und 20. Jahrhundert.