Forum: Digitales Lehren - Interview mit Ursula Lehmkuhl (Universität Trier)

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Ursula Lehmkuhl, Fachbereich III - Internationale Geschichte, Universität Trier

H-Soz-Kult: Herzlichen Dank, Frau Lehmkuhl, für die Teilnahme an unserer Interviewreihe zum Digitalen Lehren. Als Professorin für Internationale Geschichte an der Universität Trier, aber auch schon zuvor haben Sie Erfahrungen mit digital gestützter Lehre gesammelt. Welche Formate und Inhalte haben Sie bisher genutzt?

Ursula Lehmkuhl: Im Sinne der digital gestützten Lehre bereite ich meine Veranstaltungen mit Hilfe von Lehrplattformen vor. An der Freien Universität Berlin haben wir dazu das kommerzielle Learning Management System „Blackboard“ genutzt. An der Universität Trier nutzen wir die Open-Source-Software „Stud.IP“. Über das Lernmanagementsystem strukturiere ich den Seminarplan, stelle den Studierenden für die einzelnen Seminarsitzungen Lektürematerial, Links zu Internetseiten, etc. zur Verfügung, organisiere Aufgaben und liste weiterführende Literatur auf. Ein Format digital gestützter Lehre, das ich an der FU Berlin für den Unterricht im Masterstudiengang entwickelt habe und auch in Trier anwende, könnte man als eine Variante von „flipped classroom“ bezeichnen. In Master-Seminaren erhalten Studierende die Aufgabe, die Lektüregrundlage der jeweiligen Sitzung in kurzen „Reading Summaries“ (1–2 Seiten) inhaltlich vorzubereiten. Die schriftlichen Zusammenfassungen müssen zu einem festgelegten Zeitpunkt vor der Sitzung auf Stud.IP hochgeladen werden. Die „Reading Summaries“ dienen mir zur Vorbereitung der Sitzung. Hier kann ich sehen, welche Verständnisprobleme es mit den Texten gab und an welchen Stellen ich zusätzlichen inhaltlichen Input geben muss. Außerdem kann ich über die „Reading Summaries“ die Studierenden durch direkte Ansprache stärker in die Seminardiskussion einbeziehen. Bei Vorlesungen gehe ich anders vor: Ich stelle meine Vorlesungspräsentationen (Powerpoint) zur Nachbereitung der jeweiligen Vorlesung in Stud.IP ein. Die Studierenden haben so direkten Zugriff auf die von mir vorbereiteten Inhalte. Sie können auf der Grundlage meiner Folien die eigenen Mitschriften durchgehen und ergänzen. Jede Präsentation endet mit einer Folie mit Fragen, die die Studierenden nach der jeweiligen Sitzung in der Lage sein sollten, zu beantworten. Sie können so selbst ihren Lernerfolg überprüfen und identifizieren, welche Inhalte sie vielleicht noch nicht ganz verstanden haben. Zu Beginn einer jeden Sitzung räume ich Zeit für Nachfragen ein.

H-Soz-Kult: Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen: Worin bestehen aus Ihrer Sicht die wichtigsten Unterschiede zwischen der klassischen Präsenzlehre und einer digital unterstützten Lehre und davon nochmals abgegrenzt einer ausschließlich digital durchgeführten Lehre?

Ursula Lehmkuhl: Der wichtigste Unterschied zwischen der klassischen Präsenzlehre im Seminar, die in den Geisteswissenschaften auch heute noch vorwiegend durch Referate geprägt ist, und einer digital unterstützten Lehre besteht darin, dass sie neue didaktische Möglichkeiten eröffnet, die den interaktiven Charakter der Lehre und die moderierende im Unterschied zur dozierenden Rolle der/des Lehrenden stärkt. Die Studierenden können auf der Grundlage des bereit gestellten digitalen Lernmaterials die Lerninhalte in der Vorbereitung der Sitzung selbstbestimmt erarbeiten. In den Sitzungen wird der Lerninhalt dann gemeinsam vertieft, Fragen, die bei der Erarbeitung der Lerninhalte aufgekommen sind, werden beantwortet.

Bei einer ausschließlich digital durchgeführten Lehre ist der gewünschte didaktische Effekt, nämlich die Stärkung des interaktiven Charakters der Veranstaltung und der moderierenden Rolle des Lehrenden, deutlich schwerer zu realisieren. Zwar können wir heute im Unterschied zu vor zwanzig Jahren, als ich mein erstes internationales Seminar virtuell durchgeführt habe, auch auf die Technik des virtuellen Seminarraums zurückgreifen und per Videokonferenz die Situation einer Präsenzlehre nachstellen. Es bleiben aber die Grenzen der sozialen Kommunikation, die sich aus der Nutzung des Mediums ergeben. Dies gilt insbesondere auch für Versuche, die Kommunikation digital über Chat-Programme durchzuführen. Diese erlauben zwar die schriftliche Beantwortung von Fragen. Allerdings kann man als Lehrende die Dynamik innerhalb einer Lerngruppe sehr viel schlechter erfassen. Dies ist aber eine zentrale Voraussetzung für eine moderierende Diskussionsführung. Auch Elemente des Peer-to-Peer-Lernens sind in der reinen digitalen Lehre sehr viel schwieriger zu integrieren. Für die Internationalisierung der Lehre im Sinne von „internationalization at home“ bietet die digitale Lehre allerdings sehr gute Möglichkeiten.

H-Soz-Kult: In Forschung und Lehrprojekten sind Sie international, gerade auch transatlantisch sehr aktiv. Welche Ansätze können wir von unseren Kolleginnen und Kollegen, aber auch Institutionen in anderen Ländern lernen? Welche Transfers würden Sie für sinnvoll halten, und welche Hürden sehen Sie? Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein?

Ursula Lehmkuhl: Vor zwanzig Jahren hat der DAAD noch Veranstaltungen durchgeführt, bei denen deutsche Universitätsprofessor/innen von amerikanischen Universitäten etwas über die Methode des „distant learning“ lernen sollten. Das ist heute nicht mehr nötig, denn E-Learning gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der Hochschuldidaktik an allen deutschen Universitäten. Zahlreiche Programme und Instrumente zur Unterstützung der digitalen Lehre stehen heute weltweit zur Verfügung und kommen auf beiden Seiten des Atlantiks zum Einsatz. Insofern geht es heute gar nicht mehr so sehr darum, danach zu schauen, was wir aus Nordamerika lernen können, sondern eher darum, auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften die Bereitschaft zur Nutzung der bereits zur Verfügung stehenden technischen Lösungen zu fördern. Ich sehe da im deutschen Umfeld noch Entwicklungsbedarf. Während es für meine amerikanischen Kolleg/innen selbstverständlich ist, mit digitalen Lösungen umzugehen und diese anzuwenden, sehe ich bei deutschen Kolleg/innen noch eine gewisse Zurückhaltung und Skepsis. Hieran müssen wir arbeiten. Wir müssen nicht nur im Bereich der geisteswissenschaftlichen Forschung, sondern auch im Bereich der geisteswissenschaftlichen Lehre eine „digitale Kultur“ aufbauen und fördern.

H-Soz-Kult: Lehrveranstaltungen zeichnen sich in den Geisteswissenschaften vor allem durch die Kommunikation aus. Wie können die kommunikativen Aspekte der Kompetenz- und Wissensvermittlung und Gruppendiskussion, die ein Seminar oder eine Übung auszeichnen, in den virtuellen Raum transferiert werden? Wie lassen sich intellektuelle Auseinandersetzungen virtuell produktiv führen?

Ursula Lehmkuhl: Obwohl es heute viele technische Möglichkeiten gibt, Gruppendiskussionen im Virtual Classroom zu organisieren, stellt die Übertragung der kommunikativen Aspekte der Kompetenz- und Wissensvermittlung in den virtuellen Raum m.E. die größte Herausforderung für die Umstellung der digital gestützten Präsenzlehre auf rein digitale Lehre dar. Probleme gibt es sowohl in technischer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Meine bisherigen Erfahrungen in der Organisation von virtuellen Gruppendiskussionen stammen aus dem Bereich der Doktorandenausbildung. Im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs „Diversity: Mediating Difference in Transcultural Spaces“ (Trier/Saarbrücken/Montreal: http://www.irtg-diversity.com) veranstalten wir seit 2013 regelmäßige transatlantische Forschungsseminare und Ringvorlesungen. Dabei sind wir bislang so vorgegangen, dass sich die jeweiligen Gruppen physisch an einem Ort treffen und wir mit Hilfe einer Videoschaltung miteinander diskutieren. Leider waren die technischen Lösungen, die die beteiligten Universitäten für diese Art der virtuell gestützten internationalen Kommunikation anbieten, bislang nicht wirklich zufriedenstellend. Insbesondere unsere Quebecer Partneruniversität bietet den Geistes- und Sozialwissenschaften nur unzureichenden technischen Support. Das war für uns überraschend. Erfahrungen mit virtuellen Diskussionen, bei denen jede/r Diskussionsteilnehmer/in von zu Hause aus teilnimmt, haben wir bisher noch nicht gesammelt. Wegen der Schließung der Universitäten auf beiden Seiten des Atlantiks versuchen wir die für die Osterwoche vorgesehene „Spring School“ des Internationalen Graduiertenkollegs jetzt in dieser Form zu organisieren. Wieweit dies gelingen kann, wird auch sehr von der individuellen technischen Ausstattung des häuslichen Arbeitsplatzes der Doktorand/innen und Fakultätsangehörigen abhängen. Wieweit Web-Konferenzsysteme des Deutschen Forschungsnetzes (DFN) https://www.conf.dfn.de/, mit dem wir in Trier und in Saarbrücken arbeiten, die Zuschaltung von über 40 individuellen Teilnehmer/innen technisch verkraften, bleibt abzuwarten. Wir stellen uns jetzt schon darauf ein, mehrere kleinere Diskussionsgruppen zu organisieren, um das System nicht zu überfordern. Unsere Erfahrung ist bislang jedenfalls, dass die technischen Rahmenbedingungen eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung der kommunikativen Aspekte der Kompetenz- und Wissensvermittlung im virtuellen Raum darstellen. Je besser ein Videokonferenzraum ausgestattet ist und je schneller der individuelle Internetzugang zu Hause, desto besser die Kommunikation.

Aber wie steht es um die Inhalte? Sie fragten ja danach, wie sich intellektuelle Auseinandersetzungen virtuell produktiv führen lassen? Unsere Erfahrungen im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs sind da gemischt. Die technisch vermittelte Kommunikation kann auch zu Missverständnissen führen, weil sie zentrale Elemente der sozialen Kommunikation, wie z.B. Körpersprache oder auch die Art und Weise, wie etwas mitgeteilt wird, nicht oder nur verzerrt überträgt. Dies ist insbesondere für die intellektuelle Auseinandersetzung in Gruppendiskussionen, die durch klare Machthierarchien – Betreuende bzw. Professor/innen vs Doktorand/innen – strukturiert sind, problematisch. Unsere Doktorand/innen stehen ohnehin unter großem Erfolgsdruck. Bereits die Präsentation der eigenen Arbeit unter analogen Bedingungen stellt für die meisten von ihnen eine Stresssituation dar. Paraverbale oder nonverbale Missstände, die durch die zwischengeschaltete Kommunikationstechnik provoziert werden, erhöhen den Druck. Ich habe den Eindruck, dass virtuelle Kommunikation für alle Kommunikationsteilnehmer/innen anstrengender ist als analoge Kommunikation, auch wenn der Faktor „kommunikative Missverständnisse“ bei intellektuellen Auseinandersetzungen im Kontext flacher Hierarchien, wie wir sie etwa gegenwärtig im Rahmen der Vorbereitung des NFDI-Konsortialantrags „4memory“ führen, weniger zum Tragen kommt. Hier irritieren mich allerdings Kolleg/innen, die sich an einer videogestützten Gruppendiskussion beteiligen, ohne die Kamera einzuschalten. Ich denke, dass wir als Wissenschaftler/innen die Scheu vor der Übertragung des eigenen Bildes überwinden müssen, um auch im virtuellen Raum intellektuelle Auseinandersetzungen produktiv führen zu können.

H-Soz-Kult: Wie planen Sie Ihre Lehrinhalte für digitale Plattformen, welche Inhalte und Medien nutzen Sie? Wie gehen Sie bei der Planung von Lernzielen und Inhalten einzelner Sitzungen vor? Haben Sie Empfehlungen zu didaktischen Methoden?

Ursula Lehmkuhl: Ich habe meine Lehrinhalte für digitale Plattformen bisher ganz analog zu den Lehrinhalten der Präsenzlehre geplant, auch deshalb, weil ich bisher noch keine Erfahrungen mit einer reinen digitalen Lehre gesammelt habe. Neben Texten, die nach wie vor in hermeneutisch arbeitenden Disziplinen eine zentrale inhaltliche Grundlage darstellen, berücksichtige ich als Historikerin allerdings auch Bild- und Tonquellen oder Filme als zu untersuchendes Quellenmaterial. Die technischen Möglichkeiten, solche Quellen zu finden, bereitzustellen und in den Unterricht einzubeziehen, haben sich in den letzten zwanzig Jahren enorm verbessert.

Die Planung von Lernzielen und Inhalten einzelner Sitzungen unterscheidet sich nach Veranstaltungstypen, aber auch nach Studiengängen. Ich unterrichte beispielsweise regelmäßig den einführenden Fachkurs für Erstsemester im Bachelorstudiengang Geschichte. Hier wechseln Inhalte und Lernziele praktisch von Sitzung zu Sitzung. Es geht um den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die eine zentrale Voraussetzung für historisches Arbeiten sind, aber auch um die Vermittlung von propädeutischen und inhaltlichen Kompetenzen. Strukturierter Input in Form von kürzeren Vorlesungssequenzen, Brain Storming-Sitzungen, die dazu dienen, das Vorwissen der Studierenden zu eruieren und ausgehend von den Stichworten, die von den Studierenden genannt werden, historische Inhalte zu vermitteln, Input-Referate (10 Minuten), die den Studierenden die Gelegenheit geben, einen klar umgrenzten historischen Gegenstand darzustellen, Leitfaden gestützte Gruppenarbeit, etwa zur Vorbereitung einer Quelleninterpretation, lösen einander ab und sind inhaltlich miteinander verzahnt.

In Fachkursen und Oberseminaren im Master-Bereich gehe ich anders vor. Hier steht die gemeinsame Erarbeitung historischer Gegenstände und damit verbundener Forschungsdebatten im Zentrum. Ich strukturiere den Kurs inhaltlich vor, erläutere zu Beginn einer jeden Sitzung, wo wir gerade inhaltlich stehen und warum wir uns mit einem bestimmten Thema befassen. Mein Input bezieht sich hier vor allem auf die Vermittlung von Strukturierungswissen. Zur Vorbereitung der Sitzung kommt die eingangs beschriebene didaktische Methode der „Reading Summaries“ zum Einsatz. Aus den schriftlichen Zusammenfassungen der gemeinsam zu erarbeitenden programmatischen Forschungsbeiträge filtriere ich Verständnisprobleme heraus, die dann im Zentrum der Seminardiskussion stehen und dort gemeinsam aufgearbeitet werden. Dabei kommen vornehmlich Elemente des „peer-to-peer“-Lernens zum Einsatz. Ich beziehe jene Studierenden, die gute Zusammenfassungen verfasst haben, spontan in die Gestaltung des Unterrichts mit ein und lasse sie z.B. das Gespräch strukturieren, ohne dass sie sich vorher auf ihren mündlichen Input vorbereitet hätten. Der dadurch generierte Überraschungseffekt sorgt für eine aufgelockerte Diskussionsatmosphäre und motiviert auch andere Studierende sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.

H-Soz-Kult: Welche Anregungen möchten Sie abschließend den Kolleginnen und Kollegen für die Planung und Durchführung digital (gestützter) Lehre mit auf den Weg geben?

Ursula Lehmkuhl: Digital gestützte Lehre bietet große Chancen, unsere Studierenden da abzuholen, wo sie im Alltag stehen. Die Art und Weise wie unsere gegenwärtige Studierendengeneration im Alltag digitale Medien nutzt, um sich Informationen zu beschaffen und Wissen anzueignen, sollte bei der didaktischen Aufbereitung unseres Lehrmaterials, aber auch in der Vorbereitung und Durchführung unserer Lehrveranstaltungen reflektiert werden. Lehrinhalte in kürzeren Segmenten, z.B. 15-minütige Videosequenzen, aufzubereiten und den Studierenden zur Verfügung zu stellen, erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass der Unterrichtsstoff zur Kenntnis genommen wird. Es erleichtert auch uns die Vorbereitung und Durchführung von Standardlehrveranstaltungen. Durch die Modularisierung von Lehrinhalten und ihre digitale Aufbereitung können sie polyvalent eingesetzt, neu kombiniert und schnell ergänzt werden. Mittel- und langfristig verbessert dies nicht nur die Lehre, sondern entlastet auch die Lehrenden.

H-Soz-Kult: Liebe Frau Lehmkuhl, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Ursula Lehmkuhl: Sehr gerne.