Forum: P. Longerich: Schwierigkeiten mit dem Holocaust

Von
Peter Longerich, Royal Holloway University of London

Nachdem die Debatten über die Rolle deutscher Historiker im „Dritten Reich“ höchst fragwürdige Kontinuitätslinien in der Entwicklung des Faches nach 1945 ins Bewusstsein gerückt haben, hat sich Nicolas Berg vorgenommen, die Haltung der westdeutschen Geschichtsschreibung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung einer fundamental-kritischen Inspektion zu unterziehen. Berg thematisiert die Praxis der Historiker im Spannungsverhältnis von „Erforschung“ und „Erinnerung“, wobei es ihm nicht nur um die individuelle Erinnerung der Geschichtsschreiber, sondern auch um das „kollektive Gedächtnis“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft geht. Analysiert werden in dieser Buchfassung einer Freiburger Dissertation zwischen 1945 und 1990 verfasste Texte von Historikern. Neben den wissenschaftlichen Beiträgen zieht Berg Briefe, autobiografische Aufzeichnungen und publizistische Beiträge heran und versucht so „lebensgeschichtliche“ Perspektiven zu eröffnen.

Berg arbeitet sich durch die verschiedenen Phasen der historiografischen Behandlung bzw. Nichtbehandlung des Mordes an den Juden hindurch: Er sieht die „Paradoxien nationalgeschichtlicher Deutung“ bei führenden Vertretern der älteren Historikergeneration und befasst sich mit dem „Schuld und Schamdiskurs“ der 50er-Jahre. Sodann arbeitet er überzeugend heraus, dass die verschiedenen Bemühungen, die Ermordung der Juden innerhalb theoretischer Modelle (Totalitarismus, Faschismus, Antisemitismus) einzuordnen, keine überzeugende Erklärung für das Jahrhundertverbrechen lieferten. Im Zentrum der Arbeit steht jedoch die Auseinandersetzung mit der Frühgeschichte des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und der hier entwickelten „strukturellen“ oder „funktionalistischen“ Deutung der NS-Diktatur. Die weitere Entwicklung dieser Forschungsrichtung verfolgt Berg bis in die 60er-Jahre hinein, während er die übrige Forschung zu Nationalsozialismus und Holocaust nach dem Beginn der 60er-Jahre weitgehend aus den Augen verliert.

Berg vertritt die These, dass diese Strukturgeschichte mit ihrer Tendenz zur Anonymisierung der handelnden Personen auf eine – in der Lebensgeschichte der Nachkriegshistoriker begründete – Scheu zurückzuführen sei, sich mit den Tätern und ihren (ideologischen) Motiven zu beschäftigen, habe doch die „Angst“ eine Rolle gespielt, „dass hier die Rede von den eigenen Vätern, Brüdern oder Freunden war“. Berg attestiert den Vertretern dieser Forschungsrichtung stattdessen „Vermeidungsdiskurs“ und „Mitläufer-Erzählung“; sie hätten sich hinter Sachlichkeitsrhetorik und Nüchternheitspathos versteckt. In der Tat liest sich das Buch über weite Strecken wie eine Skandalchronik, speziell des Instituts für Zeitgeschichte. Berg zeigt anhand einer Reihe von Fällen, dass das Institut in den 50er und 60er-Jahren im Umgang mit ausländischen, emigrierten und insbesondere mit jüdischen Forschern erhebliche Probleme hatte, die in einigen Fällen in tief greifende Zerwürfnisse mündeten. Hier trafen, das macht Berg deutlich, unvereinbare Positionen aufeinander.

Exemplarisch deutlich macht er dies anhand der Auseinandersetzungen zwischen Martin Broszat (dem späteren Direktor des Instituts) und Joseph Wulf, Holocaust-Überlebender und weitgehend auf sich selbst gestellter Dokumentarist des Mordes an den Juden. Inhaltlich ging es in diesem Streit insbesondere um die Verantwortlichkeit von Funktionsträgern, ausgetragen am Beispiel des ehemaligen Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes, Hagen, während des Krieges Leiter des Gesundheitsamtes in Warschau, dem Broszat „sachbezogenes" Handeln, Wulf hingegen Mittäterschaft attestiert hatte. Berg bemüht sich, Broszats Argumentation, die stets auf Strukturen, und nicht primär auf persönliche Verantwortung gerichtet war, auf eine in der eigenen Biografie wurzelnde Sichtweise zurückzuführen, die er bis in den berühmten Briefwechsel zwischen Broszat und dem israelischen Historiker Saul Friedländer aus dem Jahre 1987 hinein verfolgt.

Während Friedländer hier das besondere Spannungsverhältnis von Erinnerung und Geschichte in Bezug auf den Holocaust betonte, grenzte Broszat unter dem Stichwort „Historisierung“ die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Völkermord gegen eine mythische „geschichtsvergröbernde“ jüdische Erinnerung ab. Keineswegs jedoch wollte Broszat seinen eigenen biografischen Hintergrund etwa als Hindernis für das vom ihm geforderte „rationale Begreifen“ dieser Zeit sehen. Im Gegenteil, der 1926 geborene Broszat betonte als Angehöriger der „HJ-Generation“ das „Glück, in politisches Handeln und in Verantwortung noch nicht oder nur marginal hineingezogen zu werden, aber man war alt genug, um emotional und geistig hochgradig betroffen zu werden von der moral- und gefühlsverwirrenden Suggestivität“ des NS-Regimes. Wäre dieser Standpunkt einer unschuldigen Betroffenheit aufrechtzuerhalten gewesen, wenn damals bekannt gewesen wäre, das Broszat – wie von Berg aufgedeckt – tatsächlich noch 1944 Mitglied der NSDAP wurde?

Berg macht einen eklatanten Widerspruch deutlich: Während die „Erfinder“ der Zeitgeschichte versuchten, eine neue Teildisziplin auf der Grundlage von Zeitgenossenschaft und Miterleben zu begründen, blendeten sie die eigene Erinnerung, wenn das Thema auf die Verbrechen des Dritten Reiches kam, systematisch aus – im Gegensatz etwa zur parallel geschriebenen Geschichte des Widerstands oder der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, bei denen im großen Umfang auf die Auswertung persönlicher Erfahrungen zurückgegriffen wurden. Ist damit aber wirklich die strukturelle Methode als bloße „Mitläufer-Erzählung“ entlarvt? Das Buch hinterlässt einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite erfährt man eine Fülle interessanter Details und die von Berg versuchte gedächtnisgeschichtliche Nachfrage ist prinzipiell sicher legitim.

Andererseits: Der Aufbau ist unübersichtlich, die Darstellungsweise verschlungen und ausufernd, bestimmt durch die Vorliebe des Autors, ausführlich vorgestellte Texte mit einem Non-Stop-Kommentar zu versehen; die Zuschreibung von „lebensgeschichtlichen“ Motiven bleibt zum Teil spekulativ und ein klarstellendes Fazit hätte dem Buch außerordentlich gut getan. Der wichtigste Punkt scheint mir aber zu sein, dass Berg seinen hohen Anspruch nicht einlöst: Die deutsche Geschichtsschreibung über den Holocaust wirklich als „Teilsystem“ darzustellen und dieses innerhalb des kollektiven Gedächtnisses der deutschen Nachkriegsgesellschaft angemessen zu verorten.

Denn Berg ist einfach nicht bereit, sich auf das „Teilsystem“ Historiografie mit seinen eigenen Regeln, Mechanismen und professionellen Standards einzulassen. Allzu schnell urteilt er die Strukturgeschichte des Regimes ab als einen in die Wissenschaft verlängerten Verdrängungsprozess, anstatt sich zumindest auch mit den Leistungen und der Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes innerhalb der Forschung zu beschäftigen. Berg entwickelt in seiner durchweg bewertungsfreudigen Vorgehensweise keinen sicheren Maßstab, um den Stellenwert einzelner Forschungen innerhalb des „Teilsystems“ Geschichtswissenschaft anzugeben. Vor allem aber geht Berg nur völlig unzureichend auf die Entstehung einer frühen deutschen Holocaustgeschichtsschreibung seit Beginn der 60er-Jahre ein und wird so seinem Thema nicht gerecht: Man vermisst eine angemessene Diskussion wichtiger Pionierstudien zur Judenverfolgung wie etwa die Arbeiten von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm zu den Einsatzgruppen oder zum Beispiel die frühen Gesamtdarstellungen von Wolfgang Scheffler und Uwe Adam.

Tatsächlich fehlt aber auch eine gedächtnisgeschichtliche Verankerung der Befunde in der kollektiven Erinnerung (bzw. der kollektiven Verdrängung) der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Wäre dies in einem stärkeren Maße erfolgt, so wäre klar geworden, wie sehr die Historiker Teil des intellektuellen Klimas ihrer Zeit waren. Die Skandalchronik wäre damit nicht vom Tisch, aber wesentlich stärker als dem Zeitgeist geschuldet erschienen. Es ist zu hoffen, dass diese erheblichen Mängel nicht gerade das verhindern, was Berg erreichen will: den Beginn einer Diskussion um die frühe „Zeitgeschichte“ als einer durchaus fragwürdigen deutschen Sonderentwicklung der Nachkriegszeit.

(Dieser Text wurde ursprünglich als Rezension für eine Tageszeitung geschrieben und sollte unmittelbar nach der Publikation des Buches im Mai 2003 erscheinen. Er blieb unveröffentlicht, da sich Rezensent und Redakteur nicht auf die Endfassung einigen konnten.)

Peter Longerich lehrt am Royal Holloway College der Universität London.

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