Der ausgefallene „Juristenstreit“

Von
Christine Franzius, Max-Planck-Institut fuer europaeische Rechtsgeschichte Hausener Weg 120 60489 Frankfurt/M

Der ausgefallene „Juristenstreit“

Artikel von Christine Franzius, Berlin

„Die Würde des Menschen war unantastbar“, dieser Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. September 2003 1 hätte das Zeug, „einen veritablen ‚Juristenstreit‘“ vom Zaun zu brechen, so die Mutmaßung von Robert Leicht in „Die Zeit“. 2 Die Neukommentierung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes im Kommentar von Maunz / Dürig durch den Bonner Verfassungsrechtler Matthias Herdegen vom Februar 2003 markiert für Böckenförde einen „Epochenwechsel“. Nach über fünfundvierzig Jahren löst sie die Erstkommentierung der Menschenwürde von Günther Dürig aus dem Jahre 1958 ab. Dort wurde Art. 1 Abs. 1 GG als „oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“ 3 deklariert, das jeder Relativierung trotzen, universal und „unantastbar“ sein sollte. Wegen ihrer Bedeutung soll die Dürigsche Version – zumindest nach dem Willen der Herausgeber des Kommentars – allerdings nicht das übliche Schicksal überholter Teile von Loseblattsammlungen erleiden: In den Regieanweisungen zur Einordnung der 42. Ergänzungslieferung regten sie an, die Ausführungen von Dürig statt in den Mülleimer in einen „Ablegeordner“ zu befördern. Die „ethische Unruhe“ 4, die Böckenförde angesichts der einzufügenden Bearbeitung von Herdegen empfindet, vermag dieser Hinweis jedoch kaum zu mildern.

Grob vereinfacht war nach der Konzeption Dürigs in Art. 1 Abs. 1 kein „normales Grundrecht“ zu sehen, sondern vielmehr ein verbindlicher Maßstab für alles staatliche Handeln: Anders als die in den Worten des Art. 1 Abs. 3 „nachfolgenden Grundrechte“ der Art. 2 bis 20 konnte Dürig zufolge Art. 1 Abs. 1 GG keine Anspruchsgrundlage für subjektiv öffentliche Rechte bieten, sondern sollte als „Basis für ein ganzes Wertsystem“ fungieren. 5 Die Menschenwürde durfte demnach nicht wie die übrigen Grundrechte Abwägungen unterzogen und durch andere Grundrechte beschränkt werden.
Für Herdegen dagegen ist Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht wie jedes andere auch, womit er jedoch keine neue Bresche in die Verfassungslandschaft schlägt, sondern die heute weithin geltende Sichtweise widerspiegelt. Mit der subjektivrechtlichen Ausgestaltung des Würdeanspruchs tritt Art. 1 Abs. 1 automatisch in Konkurrenz zu anderen Rechten und wird der Abwägung und Relativierung zugänglich. Der „absolute Vorrang des Würdeanspruchs gegenüber kollidierenden Grundrechtsbelangen“ ist damit Herdegen zufolge nicht mehr durchzuhalten. Insbesondere könne die Menschenwürde vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 auf Leben und körperliche Unversehrtheit keinen unbeschränkten Vorzug geniessen. 6

Doch weit mehr als in der Annahme des Grundrechtscharakters von Art. 1 Abs. 1 scheint Böckenförde in einer anderen Neuerung in der Kommentierung Herdegens einen „Epochenwechsel“ zu sehen: Die rigorose Absage an das Naturrecht, aus dem Dürig den Gehalt der Menschenwürde herleitete, bedeutet für ihn einen Verlust der „tragenden Achse“. Herdegen geht mit den „Vätern des Grundgesetzes“ nicht eben ehrfurchtsvoll um: „Die im Parlamentarischen Rat herrschende Vorstellung, das Grundgesetz übernehme mit der Menschenwürdeklausel ‚deklaratorisch’ einen Staat und Verfassung vorgeordneten Anspruch ins positive Recht, hat noch beachtliche Suggestivkraft und wirkt auch in metaphysischen Interpretationsansätzen fort. Für die staatsrechtliche Betrachtung sind jedoch allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich.“ 7

Der angekündigte „Juristenstreit“ blieb aus, die „ethische Unruhe“ legte sich schnell. Der Abschied vom „alten“ Verfassungsdenken 8, den die neue Kommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG von Matthias Herdegen zu markieren scheint, hat in der Fachwelt nur ein kurzes Raunen hinterlassen. 9 Ernsthafte Reaktionen auf den Artikel von Böckenförde, der den Wortlaut des Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in prägnanter Weise in die Vergangenheit setzte, waren die Ausnahme. 10 In der „Welt“ sah man in dieser Wortschöpfung den Versuch, „einen Artikel sexy“ zu machen und beobachtete den Böckenfördschen Wunsch, „den ‚naturrechtlichen Anker‘ ... mit allen Mitteln zu retten“, allenfalls mit wohlwollender Melancholie. 11

Doch kommt die Absage von Herdegen an das Naturrecht nicht unerwartet: Schließlich ist das „katholische Jahrzehnt“, aus dem die Dürigsche Kommentierung stammt, längst Vergangenheit und ein positivistisches Rechtsverständnis bereits Allgemeingut. Der Versuch der „Neugründung“ des Naturrechts 12 nach 1945, weithin als sogenannte „Naturrechtsrenaissance“ bekannt, stellte eine Reaktion auf das Versagen von Recht und Juristen im Nationalsozialismus dar. 13 Auf der Suche nach neuen Werten wurde auf außergesetzliche Maßstäbe wie die „natürliche Ordnung“ der Dinge zurückgegriffen und versucht, auf diese Weise einen gewissen ethischen Rückhalt zu erlangen. Nicht zuletzt für die Legitimation der Nürnberger Prozesse, in denen es um die Verurteilung von Kriegsverbrechern aus der NS-Zeit ging, die sich im Rahmen der positiven Gesetze gehalten hatten, war die Berufung auf überstaatliches Recht unerläßlich. Auf der anderen Seite wurden unter dem Deckmantel des „Naturrechts“ restaurative Tendenzen, wie beispielsweise die Erhaltung der patriarchalischen Familienordnung, propagiert. Mit der Rechtsprechung des 1951 eröffneten Bundesverfassungsgerichts, das sich in der Anfangsphase seiner Tätigkeit vehement gegen naturrechtliche Interpretationsansätze – namentlich des BGH unter seinem ersten Präsidenten Hermann Weinkauff – stellte und die Definitionsmacht über die Auslegung der Grundrechte an sich zog, wurde das Naturrecht jedoch mehr und mehr verdrängt.

Die von Böckenförde betrauerte Ablösung vom „vorgelagerten geistig-ethischen Inhalt“ der Menschenwürde und den damit verbundenen „Abbau des Würdeschutzes nach Angemessenheitsvorstellungen des Interpreten“ geht indes ins Leere. Bedauert er, dass Art. 1 Abs. 1 nun „rein staatsrechtlich, das heißt aus sich heraus positivrechtlich zu interpretieren ist“ und damit der „Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ überlassen wird, so kann sein Verweis auf die naturrechtliche Verankerung kaum überzeugen: Das Naturrecht ist – ebenso wie die positivrechtliche „Generalklausel“ der Menschenwürde – geeignet, durch ausserrechtliche Werte ausgefüllt und damit vom jeweiligen Ausleger abhängig zu sein. Einmal fragt sich, wer bestimmt, welcher Gehalt dem „Naturrecht“ zugeschrieben werden soll, im anderen Fall, wer auslegt, was unter dem Begriff „Menschenwürde“ zu verstehen ist.

Tiefgreifender als die Auswirkungen des neuen Verständnisses der Menschenwürde, beispielsweise auf dem Gebiet des Embryonenschutzes, der Stammzellenforschung und Biotechnologie, die Böckenförde am meisten beunruhigen, ist aber eine andere Aussage Herdegens, die Böckenförde gänzlich unkommentiert lässt. Mit der neuen Abwägungsoffenheit im Verhältnis zu anderen grundrechtlichen Belangen schlägt Herdegen einen unvermittelten Bogen zu einer anderen, nicht minder brisanten Frage: Mit „Folter und anderen schweren körperlichen Mißhandlungen sowie sonstigen Formen körperlicher Eingriffe zur Verhaltenssteuerung (Verabreichung von Drogen)“ könne zwar „rein modal“ eine Würdeverletzung begründet werden. Wenn man die Sache jedoch „final“ betrachte, es etwa um „Schutz von Leib und Leben Dritter“ ginge, liege eine Verletzung der Menschenwürde begrifflich nicht vor. Im Einzelfall könne sich ergeben, „dass die Androhung oder die Zufügung körperlichen Übels, die sonstige Überwindung willentlicher Steuerung oder die Ausforschung willkürlicher Vorgänge wegen der auf Lebensrettung gerichteten Finalität eben nicht den Würdeanspruch verletzen.“ 14

Herdegen konnte freilich nicht ahnen, dass seine Ausführungen unmittelbar nach dem Erscheinen der Kommentierung ein erstes tragisches Anwendungsbeispiel finden sollten. Die Wirklichkeit lief dem argumentativen Sprengstoff seiner Worte den Rang ab: Die Ermittlungsmethoden im Mordfall Jakob von Metzler lösten eine Debatte über den Einsatz der finalen „Rettungsfolter“ 15 aus, die nicht nur Juristen beschäftigt. Insofern hat sich der von Leicht erwartete Juristenstreit einen anschaulicheren Anlass gesucht. Die von Herdegen angestellten Folgerungen über den Abbau des Würdeschutzes dürfen dennoch nicht in den Hintergrund geraten: Ein eigener Streit über diese Kommentierung hätte der juristischen Öffentlichkeit gut getan. So erweckt sie den Anschein eines konsensualen Schweigens. 16

Anmerkungen:
1 Zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ vom 3.9.2003: http://www.gene.ch/genpost/2003/Jul-Dec/msg00192.html, über die Neukommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG im Kommentar von Maunz/Dürig durch Matthias Herdegen. Der Kommentar von Herdegen (2003) zum Art. 1 Abs. 1 GG umfasst allein 58 Seiten und weist folgende Gliederung auf: I. Die Garantie der Menschenwürde in der Werteordnung des Grundgesetzes (Rn. 1-29); II. Der Begriff der Menschenwürde (Rn. 30-47); III. Träger der Menschenwürde (Rn. 48-67); IV. Unantastbarkeit der Menschenwürde (Rn. 69,70); V. Achtungs- und Schutzpflicht des Staates (Rn. 71-78); VI. Ausprägungen der Menschenwürdegarantie (Rn. 79-114).
Der Kommentar von Dürig (1958) zum Art. 1 Abs. 1 GG umfasst 26 Seiten und weist folgende Gliederung auf: I. Die unantastbare Menschenwürde als Grundlage eines Wertesystems (Rn. 1-16); II. Die Menschenwürde (Rn. 17-45); III. Der Mensch in der Gemeinschaft (Rn. 46-54).
2 Wahret die Anfänge“, Die Zeit 38 (2003): http://zeus.zeit.de/text/2003/38/Art__1_GG.
3 Maunz/Dürig - Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 4 (Stand 1958).
4 Dürig zufolge sollte Art. 1 Abs. 1 GG im System der subjektiv-öffentlichen Rechte eine positive „ethische Unruhe“ auslösen, vgl. Maunz/Dürig - Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 16 (Stand 1958), was Böckenförde als „treffende Dürigsche Formulierung“ hervorhebt.
5 Maunz/Dürig - Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 3, 5, 13 (Stand 1958).
6 Maunz/Dürig - Herdegen, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 20, 22, 26 (Stand 2003).
7 Maunz/Dürig – Herdegen, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 17 (Stand 2003).
8 Begriff von Robert Leicht (Fn. 2).
9 Hingewiesen sei jedoch auf die Artikel von Uwe Volkmann, Nachricht vom Ende der Gewissheit, FAZ vom 24.11.2003; Uwe Justus Wenzel, Menschenwürde und Menschenbild, Über die Relativität des Absoluten, NZZ vom 15.11.2003: http://www.nzz.ch/servlets/ch.nzz.newzz.DruckformatServlet?url=/2003/11/15/fe/article984W9.nzzoml und Bernhard Schlink, Die überforderte Menschenwürde, Welche Gewissheit kann Artikel 1 des Grundgesetzes geben?, Der Spiegel 51 (2003).
10 Leicht (Fn. 2) und Ders., Tasten nach der Würde. Geschichtsvergessen – der neue Kommentar zum Grundgesetz, Der Tagesspiegel vom 15.9.2003: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/15.09.2003/744086.asp.
11 Konrad Adam, Naturrecht ohne Natur, Die Welt vom 4.9.2003: http://www.welt.de/data/2003/09/04/163535.html?search=Naturrecht+ohne+Natur&searchHILI=1LI=1.
12 So der Untertitel der Schrift von Coing, Helmut, Die obersten Grundsätze des Rechts, Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts, Heidelberg 1947.
13 Vgl. die Darstellungen von Schelauske, Hans Dieter, Naturrechtsdiskussion in Deutschland, Ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945-1965, Köln 1968; Mohnhaupt, Heinz, Zur „Neugründung“ des Naturrechts nach 1945: Helmut Coings „Die obersten Grundsätze des Rechts“ (1947), in: Schröder, Horst / Simon, Dieter, Rechtsgeschichtswissenschaft in Deutschland 1945 bis 1952, Frankfurt / M. 2001, S. 97-128.
14 Maunz/Dürig - Herdegen, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 90, 45 (Stand 2003).
15 Vgl. Klaus Günther, Und bist Du nicht willig, Frankfurter Rundschau vom 26.3.2003; Milos Vec, Schmerz gegen Wahrheit? Oder Not kennt kein Gebot, FAZ vom 4.3.2003; Rainer Maria Kiesow, Das Experiment mit der Wahrheit. Folter im Vorzimmer des Rechts, Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 98-127.
16 Weitere Reaktionen zu diesem Thema bleiben abzuwarten, auch nach dem öffentlichen Auftritt von Herdegen im „Bericht aus Berlin“, in der ARD am 22.11.2003.

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