Review-Symposium "Westforschung": Diskussionsbeitrag Chr. Lübke

Von
Christian Lübke, Universität Leipzig, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas

Unter den zahlreichen Stellungnahmen zu dem Sammelband „Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung’ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960)“ ist mitunter – mehr oder weniger vehement, auf jeden Fall aber zu Recht – auf die Notwendigkeit eines vergleichenden Vorgehens unter Berücksichtigung der „Ostforschung“ hingewiesen worden. Die Tätigkeit Hermann Aubins in beide Richtungen mag die grundsätzliche Parallelität der Phänomene am plakativsten belegen, doch gab es offenbar auch eine ganze Reihe struktureller Gleichheiten, Beziehungen und gegenseitiger Befruchtungen, die näher zu erforschen wären. Der von D. Derks in seinem Beitrag vom 15.5.2003 aufgefächerte Fragenkatalog, dessen Aufarbeitung er in dem „Griff nach dem Westen“ vermisst, könnte tatsächlich ein geeigneter Leitfaden dafür sein. Dem interessierten, mit den westlichen Pendants der „Ostforschung“ eher weniger vertrauten Historiker, der sich dafür wissenschaftlich auf die Region konzentriert, die Gegenstand der östlichen Volkstums- und Kulturraumforschung war, bewegt vor allem Derks’ Wahrnehmung eines hauptsächlichen Zieles des Sammelbandes, nämlich, „den Beweis dafür anzutreten, dass von einer irgendwie gearteten Kontinuität zwischen ‚damals’ und ‚heute’ keine Rede sein könne“. Muss man daraus im Umkehrschluss folgern, dass es demjenigen, der den „Beweis antreten“ will, um die Verschleierung der Kontinuität geht?

Die persönliche Betroffenheit durch die hier aufgeworfenen Fragen erklärt sich folgendermaßen: Seit 1996 existiert in Leipzig ein „Geisteswissenschaftliches Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, und in diesem wiederum ein „Arbeitsgebiet“, das den programmatischen Namen „Germania Slavica“ trägt. Es handelt sich um eine Bezeichnung, die in Nachbildung zu dem von Theodor Frings in den 1920er-Jahren geprägten Begriff „Germania Romana“ entstand – also im weiteren Umfeld der „Westforschung“. Es gibt noch viel konkretere Beziehungen: „Germania Slavica“ wurde von Wolfgang H. Fritze geprägt, einem Schüler von Walter Schlesinger, und dieser war ein Schüler von Rudolf Kötzschke, dem Leiter des Seminars für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Leipziger Universität, dessen Affinität zu der von den Nazis instrumentalisierten Ostforschung besonders in seinen Arbeiten zur „Ostkolonisation“ hervortrat. Und die „Germania Slavica“-Forschungen erscheinen noch heute deswegen als innovativ, weil sie die Forderung von West- und Ostforschung nach Interdisziplinarität (damals: Transdisziplinarität) praktiziert: Geschichtswissenschaft einschließlich ihrer siedlungskundlichen (auf Orts- und Flurformen) und siedlungsgeografischen (auf die Entstehung von Kulturlandschaft ausgerichteten) Spezialisierungen, Linguistik (Namenkunde) und Archäologie arbeiten hier eng zusammen. Mit Blick auf die Untersuchungsobjekte, die Arbeitsstrukturen und die Forschungstraditionen existiert also durchaus eine Kontinuität zwischen „damals“ und „heute“. Wer dies will, wird sogar in der von Fritze 1980 formulierten Reichweite von „Germania Slavica“ einen – den 1920er und 1930er-Jahren ähnlichen - revisionistischen (im Sinne eines Anspruchs auf die ostdeutschen, an Polen verlorenen Landschaften) Ansatz erkennen können, insofern er auf die „im historischen Sinne ostdeutschen (bzw. ostmitteldeutschen) Länder [...] Mecklenburg, Pommern, Westpreußen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Schlesien“ abzielte.

Man könnte weitere „Kontinuitäten“ aufzählen. Sie sind nicht zu leugnen, sondern im Gegenteil zu thematisieren und zu erforschen. Doch auch die Brüche zwischen „damals“ und „heute“ sind offensichtlich: Sie liegen schon in der wissenschaftlichen Ausbildung der ersten Repräsentanten von Germania Slavica, die – im Gegensatz zu ihren „völkischen“, die slavischen Kulturen weitgehend marginalisierenden Kollegen – die Kenntnis slavischer Sprachen erwarben und das Prinzip „Slavica non leguntur“ durchbrachen, womit sie den Schlüssel zum Verständnis der historiografischen Traditionen und der Forschungserfolge der polnischen und tschechischen Kollegen, zur „Verwissenschaftlichung“ (Klaus Zernack) der eigenen Forschungsansätze in Händen hielten. Wolfgang H. Fritze, Herbert Ludat und Heinrich Felix Schmidt (letztere als Schüler des Berliner Slavisten Max Vasmer) wären hier zu nennen, die allesamt von der Slavistik und osteuropäischen Geschichte her ihr Interesse an der slavischen (vordeutschen) Frühzeit entdeckten und auf dieser Basis die hochmittelalterliche Kolonisation thematisierten – als eine Epoche der sozialen, rechtlichen und ökonomischen Vereinheitlichung Europas, der Angleichung der slavischen, ungarnländische und baltischen Länder an den lateinischen Westen. Auf diesem Hintergrund wollte Fritze „Untersuchungen zu der wechselseitigen Durchdringung von slawischem und deutschem Ethnikum im Bereich der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung“ durchführen, wozu er 1978 an der FU Berlin eine Arbeitsgruppe „Germania Slavica“ ins Leben rief, an die das gleichnamige Leipziger Forschungsprogramm anknüpft.

Es gibt aber noch ein zweites Element der aktuellen „Germania Slavica“-Auffassung, das der Slavenforschung der DDR entstammt, die einer eigenen traditionskritischen Aufarbeitung wert wäre. Vom Westen her wegen der Einbindung in die sowjetisch bestimmte Forschungslandschaft des Ostblocks mit einigem Misstrauen beobachtet, konnte die DDR gerade in den Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft, in Archäologie und Onomastik, die größten Erfolge erzielen. Das wirkte durchaus befruchtend auf die Bundesrepublik zurück, wo man ebenfalls umfangreiche archäologische Grabungen im ehemals slavischen Siedlungsgebiet (Starigard-Oldenburg in Ostholstein, Spandau in West-Berlin) durchführte. Solange zwei deutsche Staaten existierten, unterschieden sich somit die auf die Slaven in Deutschland ausgerichteten Untersuchungen zwar terminologisch und räumlich (in der DDR endeten sie konsequenterweise an Oder und Neiße), in der praktischen Arbeit aber waren sie gar nicht so weit voneinander entfernt. Das Leipziger Arbeitsgebiet hat hier auch (gegen manche Widerstände) personell zu einer Vereinigung beider Forschungsansätze beigetragen. Im Rahmen des Leipziger Ostmitteleuropa-Zentrums und seiner vom Frühmittelalter bis zur Jetztzeit reichenden Forschungsprojekte besteht nun die Chance, die älteren Fragestellungen nach dem kulturellen Vorrang der einen oder der Primitivität der anderen Seite zu überwinden und interdisziplinäre, vergleichende Siedlungsgeschichte in einer sprachlichen und ethnischen Kontaktzone durchzuführen. Erkenntnisse über die dort ablaufenden Prozesse (Rezeption der anderen Sprache, Hybridisierung bestimmter Stile und Moden, Synkretismus, Transfer und Umformung bestimmter Kenntnisse in Kultur und Alltagsleben) können im Weiteren auf andere, ähnlich strukturierte Regionen des Mittelalters (in der Phase der hochmittelalterlichen Kolonisation), aber auch auf andere historische Perioden übertragen werden. Wenn – gewissermaßen als ein Nebenprodukt dieser Forschungen – sich auch in der breiteren Öffentlichkeit das Wissen über die Existenz eines slavischen Anteils an der deutschen Geschichte etabliert, wird damit ein Effekt erreicht, den die Vertreter der Ostforschung gerade zu verhindern suchten.

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