Review-Symposium "Westforschung": Beitrag M. Pitz

Von
Martina Pitz, FR 4.1. Germanistik, Universität des Saarlandes

Ein Blick aus der germanistischen Mediävistik auf die Quellen und Methoden der historischen Kulturraumforschung

Soll es in den historischen Wissenschaften zu einem Erkenntnisfortschritt kommen, so sind dazu – das hat der in Hamburg lehrende Mediävist Hans-Werner Goetz einmal sehr treffend formuliert 1 – mindestens vier Voraussetzungen nötig: das Auftauchen neuer Quellen bzw. die Wiederentdeckung von alten, die einer neuen Interpretation zugeführt werden; neue methodische Zugänge, die einen tieferen Einblick gestatten; neue Fragestellungen und Themenbereiche, und schließlich vielfältige Anregungen aus den Nachbarwissenschaften und die Pflege interdisziplinärer Kontakte. Damit sich der Funke entzündet, bedarf es in der Regel besonders günstiger Konstellationen, in denen sich solche Faktoren bündeln: neue Fragen bedingen die Suche nach neuen Quellen, die zumindest teilweise mit anderen Methoden und im Austausch mit anderen Disziplinen ausgewertet werden. Insgesamt aber zeichnet sich die Geschichtswissenschaft wie alle Kulturwissenschaften nicht dadurch aus, dass die Methoden zwangsläufig immer besser werden und dadurch in jedem Fall zu sichereren Ergebnissen führen. Man wird vielmehr davon ausgehen müssen, dass sie sich als Reflektoren gesellschaftlicher Prozesse und politischer Diskurse jeweils zeitgemäß weiterentwickeln. Schon von daher ist es nicht nur legitim, sondern sogar unbedingt notwendig, im Zuge der Selbstreflexion der Fächer über ihren Standort und ihre Ziele die Frage nach dem innovativen Potential eines bestimmten methodischen Ansatzes unmittelbar mit der nach seiner Zeitgebundenheit zu verknüpfen.

Wie kaum eine andere wissenschaftliche Richtung der Zwischenkriegszeit erhebt die historische Kulturraumforschung den Anspruch, methodisch innovativ zu wirken durch ein wissenschaftliches Programm, das – in dieser Deutlichkeit und Konsequenz zum ersten Mal – das Schlagwort der Interdisziplinarität auf seine Fahnen schreibt. Sie bedient sich des Konzepts des Kulturraums und – vielleicht noch wichtiger – der Kulturgrenze, die zusammengenommen (um bei der Terminologie der Zeit zu bleiben) das Kulturganze ergeben sollen, als Vergleichshorizont für die Analyse sprach- und kulturgeschichtlicher Prozesse. Dabei geht man durchweg von heutigen Raumkonstituenten aus, denen man sich mit Hilfe von Daten anzunähern versucht, die von anderen Wissenschaften bereitgestellt werden. Dass die wichtigsten Datenlieferanten (Siedlungsgeografie, Sprachgeografie, Volkskunde, usw.) auf der synchronen Zeitebene arbeiten, wird nolens volens in Kauf genommen. Relativ schnell versucht man diesem Manko dann allerdings auch dadurch abzuhelfen, dass Daten aus historisch orientierten Disziplinen wie Kunstgeschichte, Archäologie und Onomastik, die auf Grund eines disparaten Forschungsstandes vor der Erstellung großräumiger Verbreitungskarten meist noch zurückschrecken, von den Kulturraumforschern selbst speziell für ihre Forschungsanliegen gesammelt werden. Dass man sich als Fachfremder kaum den sicheren Blick erwerben kann, der für eine adäquate Beurteilung dieser Materialien notwendig wäre, wird ebenfalls akzeptiert; hier soll die quantitativ-statistische Methode eine unvermeidliche Unsicherheitsmarge aushalten können. Zusammengetragen werden unter diesen Prämissen physisch-geografische Daten (Klima, Boden), historisch-geografische Daten (Kirchenprovinzen, Territorialentwicklung), sprachgeografische Daten (Verbreitung von Lauterscheinungen, Kontrastierung synonymer Wörter), volkskundliche Daten (Speisen am Heiligen Abend, Verbreitung des Nikolauskults), usw. Aufgabe des Historikers soll es nun sein, historische Begründungen für die entstehenden Raumbilder zu finden. Wie selbstverständlich geht man dabei von der Prämisse aus, dass die gegenwärtige Lagerung politisch-rechtlicher und kultureller Phänomene im Raum auf zum Teil längst zerrissene historische Einheiten zurückweisen muss. Die immer wieder konstatierte Kongruenz von Territorialgrenzen, Mundart- und Brauchtumsgrenzen wird zum Abbild kulturgeschichtlicher Großraumbewegungen, die Isoglossen selbst zu Demarkationslinien, an denen ein regelrechter Kampf gegensätzlicher Kulturströmungen zur Entscheidung gelangt. Auch eine historisch gewachsene Dichotomie der Regionen und der Kulturen, und damit zwangsläufig auch von ‚eigener’ und ‚fremder’ Kultur, wird als gegeben vorausgesetzt.

Die Historiker unter den ‚Kulturraumforschern’ spinnen also die aus vielen Richtungen zusammenlaufenden Fäden weiter und führen sie zu großen Synthesen zusammen, die aus ihrer Sicht Allgemeingültigkeit und überregionale Verbindlichkeit beanspruchen können. Der Erkenntnisfortschritt soll sich dabei gleichsam von selbst einstellen, weil die Absicherung der Einzeldaten nach vielen Seiten automatisch den Aussagewert der Ergebnisse potenziert und damit eine Dynamisierung der wissenschaftlichen Diskussion provoziert. Als geradezu revolutionär soll sich das Verfahren zur Erhellung historischer Prozesse erweisen, über die in schriftlichen Quellen, die ja das eigentliche Handwerkszeug des Historikers sind, wenig oder nichts berichtet wird – sei es, dass es für eine bestimmte Fragestellung zusammenhängende Quellenserien nicht gibt und man mit disparaten Einzelbefunden auskommen müsste; sei es, dass die zu analysierenden Vorgänge in einer historischen Epoche angesiedelt sind, aus der kaum schriftliche Überlieferung erhalten ist. Damit versteht es sich nahezu von selbst, dass die vorgeschlagenen Methoden vor allem bei der Erforschung der dark ages der Völkerwanderungszeit und des Frühmittelalters zur Anwendung kommen.

Dass die Sprachwissenschaft der Kulturraumforschung dieser Prägung von Anfang an intensiv zugearbeitet hat, lässt sich leicht erklären, denn die Beschäftigung mit der germanischen Frühzeit hat in den Philologien von deren Anfängen an ein zentrales Gewicht. Das Germanenbild der Historiker wird nicht zuletzt vom Stand der Erforschung der germanischen Sprachen bestimmt2; man denke nur an die aus den Philologien stammende klassische Gliederung in Nord-, West- und Ostgermanen. Hier bestehen also lange Traditionen des Dialogs, an die Franz Steinbach in seinen die historische Kulturraumforschung begründenden „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ anknüpfen konnte. Er selbst verschweigt das keineswegs. Im Gegenteil, er betont sogar ausdrücklich, dass seine eigentlichen Ideengeber aus der Sprachwissenschaft kommen. Überhaupt sei die Sprachentwicklung der wichtigste Angelpunkt, unter dem man die Dynamik der Kulturbewegungen betrachten müsse. Ich zitiere Steinbach: „Unter der Lupe exakter Wissenschaft“ – und damit meint er die Erhebung von Sprachdaten mittels Questionnaire und Enquête – „hatten sich die Dialektgrenzen schon lange in sehr bewegliche Wort- und Lautlinien aufgelöst. Das bedeutete nichts Besonderes, wenigstens für die Historiker, solange die Erklärung dafür in autonomen Sprachgesetzen gefunden wurde. Erst als die Dialektgeografie einwandfrei dargetan hatte, dass die sprachliche Entwicklung abhängig ist von der Geschichte des Landes, dass die Sprache von den politischen, kirchlichen, wirtschaftlichen Schicksalen der Sprecher beeinflusst ist, musste der Historiker aufhorchen“.3 Denn er konnte nicht umhin zu konstatieren, dass die ‚Stämme’, auf deren historisch prägender Kraft die völkische Kulturbewegung des wilhelminischen Reiches so ausdrücklich bestanden hatte, weil sie darin biologische Abstammungsgemeinschaften sah 4, unter diesen Voraussetzungen zu in ständigem Wandel begriffenen historischen Entitäten geronnen. Wenn sich Dialektgrenzen nicht mit Stammesgrenzen in Einklang bringen ließen, dann könne man auch von Stämmen nicht mehr reden, sondern müsse an – ich zitiere – „rassische und kulturelle Einheiten“ denken, die „durch politischen Zusammenschluss sich entwickelt haben“. Mit biologischen Rassen hätten sie nichts zu tun, sie seien vielmehr „eine Schöpfung der politischen Verbände und nicht irgendwelcher mystischer Bluts-, Kult- und Lebensgemeinschaften“. Damit seien sie vor allem wandlungsfähig: Kulturzentren und Verkehrsströme späterer Zeiten könnten ältere Zustände immer wieder überdecken; und es sei das vorrangige Ziel einer „wirklichen Volksgeschichte“, solche Überschichtungsvorgänge transparent zu machen und durch sukzessives Abtragen der jüngeren Straten zu den Anfängen zurückzukommen.

Man stellt mit einem gewissen Erstaunen fest, dass das nach 1945 so hochgehaltene Verdienst der Einführung einer dynamischen Sichtweise und der damit verbundenen methodischen Innovation von Steinbach ausdrücklich den Philologen, speziell der Dialektgeografie der so genannten Marburger Schule 5 zugeschrieben wird. Auch das viel gepriesene Postulat der Interdisziplinarität bedeutet weniger den konstruktiven Dialog mit den Nachbarwissenschaften, der im übrigen in der traditionellen Historiografie nicht zuletzt wegen deren ausdrücklicher Berufung auf Sprache, Recht, Bildung und Religion fest verankert war, als vielmehr den recht ungenierten Zugriff auf deren Daten und Methoden. Der Erschließung neuer Quellen schließlich, auch dies im wissenschaftlichen Rückblick hoch gelobt, steht – das wird man zumindest notieren müssen – der weitgehende Verzicht auf historisches Quellenstudium im eigentlichen Sinne gegenüber. Wirklich neu scheint also vor allem die Organisation eines programmatischen Disziplinenverbundes und der Anspruch, den Historiker damit verknüpfen; und neu ist zweifellos auch der geradezu euphorische Optimismus, allein durch die Kombination von Karten das Rad der Geschichte zurück drehen zu können.

All dies wird man im Auge behalten müssen, wenn man die im Rahmen der wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der ‚Westforschung’ wohl entscheidendste Frage zu beurteilen hat, ob hier trotz der unübersehbaren Nähe zur Volkstumsideologie des „Dritten Reiches“ epistemologische Grundlagenarbeit geleistet wurde, und ob es damit gerechtfertigt ist, dass man nach 1945 zwar bestimmte forschungsleitende Begriffe (‚Volkstum’, ‚Lebensraum’, ‚Rasse’, usw.) austauschte, ansonsten aber unter Beibehaltung der erprobten Methoden an den gewonnenen Grundeinsichten festhielt und diese zum Teil auch im Sinne einer ‚positiven Grenzgeschichte’ uminterpretierte. Klären lassen sich solche Probleme erst nach einer kritischen Analyse der wichtigsten Werke der Kulturraumforschung, die fachliche und wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven zusammenführt. Dies gilt insbesondere für das wissenschaftliche Hauptwerk des derzeit exponiertesten Vertreters dieser Forschungsrichtung, für Franz Petris Germanisches Volkserbe nämlich, denn der Legitimationseffekt des Buches für expansionistische Bestrebungen nationalsozialistischer Politik ist unbestreitbar.

Vorwiegend auf der Grundlage von Ortsnamen und archäologischen Funden, aber auch unter Zuhilfenahme von Daten aus der so genannten ‚Rassenforschung’, befasst sich Petri mit der Genese der deutsch-französischen Sprachgrenze und deutet dabei den gesamten nordfranzösischen Raum bis zur Loire als durch die Landnahme der Franken begründetes sprachliches und ethnisches Mischgebiet, das erst durch spätere ‚Kulturbewegungen’, durch ‚Entmischung’ und ‚Ausgleich’, zu seiner heutigen Romanität zurückgefunden hätte. Er rechnet für diesen Raum mit einer mehrere Jahrhunderte währenden Zweisprachigkeit und einer fränkisch-romanischen Kultursymbiose – der Begriff hat Furore gemacht –, die selbst durch die spätere Romanisierung der westlichen Franken kein wirkliches Ende gefunden hätte. Kommunikationssprache dieses ethnischen Melting-Pots zwischen Loire und Rhein soll nämlich ein mit germanischen Wörtern und germanischem Sprachempfinden stark durchsetztes Latein gewesen sein, dessen Fortsetzer, das spätere Altfranzösische, sich gerade durch den Grad seiner germanischen Beeinflussung von den südlich der Loire gesprochenen okzitanischen Varietäten deutlich unterscheide.6 Diese Sicht der sprach- und siedlungsgeschichtlichen Verhältnisse des frühen Mittelalters, die den Franken unter der Merowingerdynastie eine herausragende Rolle als politische Weichensteller einer eigentlich europäischen Geschichte zugestand, löste schon kurz nach Erscheinen des Buches eine in kritischen Stellungnahmen und Forschungsberichten dokumentierte, bis heute nicht abreißende Diskussion auch über die inhaltlich-methodischen Prämissen aus. Schon wegen seiner enormen Wichtigkeit für essentielle Probleme der fränkischen Sprach- und Siedlungsgeschichte bedarf das von Petri gebotene Material dringend einer gründlichen Überprüfung nach methodischen Maßgaben, die den unterschiedlichen Perspektiven aller beteiligten Disziplinen – Germanistik, Romanistik, mittellateinische Philologie, Archäologie, Siedlungsgeschichte, Siedlungsgeografie – Rechnung tragen und zudem überlieferungsgeschichtliche Probleme sehr viel stärker berücksichtigen. Denn obwohl Petri vergleichsweise viel publiziertes Quellenmaterial gesichtet und auch die bis dato vorliegende Literatur recht gründlich verarbeitet hat, war schon die kaum überschaubare Größe des von ihm gewählten Untersuchungsraumes eine Fehlerquelle par excellence: von den zahlreichen Irrtümern, die ihm unterlaufen sind, gründen viele in einer unzureichenden Kritik des nicht eigens überprüften oder durch selbständige Archivarbeit ergänzten Quellenmaterials. Teilweise wird auch zu bewussten Pauschalisierungen gegriffen; und in älterer Literatur noch durchaus artikulierte Zweifel werden stillschweigend beiseite geschoben. Doch auch in seinen etymologischen Deutungen ist Petri, der immerhin auch studierter Germanist gewesen ist 7, vor zahlreichen geradezu erschreckenden Irrtümern nicht gefeit. Bisher scheint die Archäologie, zumindest was die kritische Kommentierung der Quellen anbelangt, in der Auseinandersetzung mit diesem Buch am weitesten fortgeschritten zu sein. Schon zu Beginn der 1940er-Jahre hat Hans Zeiss Petris Vorstellung einer flächendeckenden fränkischen Siedlung bis zur Loire mit stichhaltigen Argumenten zurückgewiesen 8; schon er rechnete mit in Siedlungsabsicht präsenten Franken nur noch bis zur mittleren und unteren Seine. Nach den Untersuchungen der Saarbrücker Archäologin Frauke Stein 9 hebt sich das Totenritual dieser Gruppen von den Bestattungssitten der romanischen Bevölkerungsmehrheit in charakteristischer Weise ab und erlaubt Einblicke in die chronologischen Dimensionen dieser fränkischen Siedlung 10 und die in beide Richtungen verlaufenden Akkulturationsprozesse.11

Vor allem konnte Frauke Stein am Beispiel des Gebietes zwischen Ardennen und Pfälzer Wald bzw. Vogesen – jedenfalls aus meiner Sicht einleuchtend – zeigen, dass man sich die fränkischen Siedlungsinitiativen im Nordosten der Galloromania nicht – wie es lange, und deshalb auch bei Petri, beherrschende Vorstellung der historischen Forschung war – als einen von breiten bäuerlichen Schichten getragenen, sich gleichsam in Wellen vollziehenden Landnahmeprozess vorzustellen hat.12 Sie lassen sich vielmehr nur punktuell fassen, wobei Angehörige der Oberschichten – am ehesten auf königliche Landzuweisungen hin – als Impulsgeber zu vermuten sind.13 Aus kleinen Siedlungszellen hätten sich nach diesem Modell durch Binnenkolonisation etwas größere Einheiten entwickelt, in denen Gefolgsleute germanischer und romanischer Herkunft in auf Grund des auch heute noch nicht ausreichenden archäologischen Forschungsstandes zumeist nicht genau bestimmbaren Anteilen gemeinsam siedelten.14

In 15 der französischen Romanistik und Onomastik werden Petris Thesen dagegen kraft der Autorität des ihnen zeitlebens zuneigenden Walther von Wartburg, des Autors des monumentalen Französischen etymologischen Wörterbuchs, zum Teil noch immer zu unkritisch rezipiert, während sich in Deutschland mit Ernst Gamillscheg 16 und Harri Maier schon bald sehr kritische Stimmen erhoben. Auch in der Germanistik hat die Quellenkritik die Diskussion monopolisiert, so dass man in Fragen der Methodenkritik über Anfänge nicht hinausgekommen ist. Immerhin sind die umfangreichen Belegsammlungen belgischer Namenforscher in der erklärten Absicht erfolgt, eine tragfähige Materialgrundlage für eine Überprüfung der Thesen Petris zu vorzulegen. Nach heutiger Einschätzung liegt die gravierendste methodische Schwäche des Buches darin, dass für die vor allem mit Ortsnamen arbeitenden Rekonstruktionsversuche eines mutmaßlichen fränkischen Siedlungsraums auf ein ganzes Bündel von Argumenten zurückgegriffen wird, die zum Teil bis heute ernsthaft diskutiert werden müssen, zum Teil aber auch längst mit guten Gründen zurückgewiesen wurden. Reliktnamen rein germanischen Charakters werden mit anderen Namentypen vermengt, die als genuin romanische Bildungen anzusprechen sind; mit Lehnwörtern gebildete sekundäre Siedlungsnamen werden von eigentlichen Reliktnamen nicht sauber geschieden. Eine solche Vermischung von Unzusammengehörigem muss bei der siedlungsgeschichtlichen Interpretation zwangsläufig zu einer Verzerrung des Gesamtbilds führen. Vor allem aber wird man einen anderen tragenden Pfeiler in Petris Argumentationsgebäude neu bewerten müssen, die Idee nämlich, dass das heutige Namenbild Nordfrankreichs, wo sich Ortsnamen mit unzweifelhaft germanischer Etymologie nur ganz vereinzelt finden, erst durch Ausgleichsprozesse großen Stils und Rückübersetzung zahlreicher ehemals germanischer Namen zustande gekommen sei. Anhand der Verhältnisse im westlichen Lothringen ließ sich zeigen, dass man sich den Prozess der Namenvergabe und Namenadaptation in diesen ehemals bilingualen Regionen ganz anders vorstellen muss, als Petri dies vorgab, denn bei archäologisch erwiesener gemischtethnischer Siedlung haben offensichtlich beide Ethnien die die Landschaft gestaltenden geografischen Objekte mit jeweils eigenen Namen benannt: es entstanden die so genannten Namenpaare, die die unmittelbaren Sprachgrenzgebiete bis heute prägen und mit denen man – in welchem Umfang auch immer – wohl auch in den heute romanischsprachigen Landschaften rechnen muss. Beim Übergang zur Einsprachigkeit überlebten von diesen Dubletten allerdings nur die der obsiegenden Sprache zugehörigen, also die romanischen Partner; die fränkischen Dubletten gingen mit den westfränkischen Varietäten unter. So ist wohl wirklich damit zu rechnen, dass im Zuge der Romanisierung der westlichen Franken fränkische Ortsnamenbildungen obsolet geworden sind. Auch wenn man an dem nicht unproblematischen Begriff des ‚Ortsnamenausgleichs’ festhält, sind solche Vorgänge aber mangels geeigneter schriftlicher Quellen weder empirisch beschreibbar noch siedlungsgeschichtlich deutbar. Anhand von Ortsnamen nachzuweisen und auch chronologisch interpretierbar sind im Grunde nur die insgesamt sehr seltenen eigentlichen Sprachinseln, in denen es aus sorgsam zu eruierenden historischen Gründen zu einer kompakteren fränkischen Ansiedlung kam. Dass eine solche Bevölkerungssituation aber entgegen Petri in Nordfrankreich nicht die Regel war, haben archäologische und philologische Einzelstudien sicher erwiesen. So hat sich in der Gesamtschau zwar der von fränkischer Zusiedlung betroffene nordostfranzösische Raum und auch die Zahl der als fränkisch geltenden Siedlungsrelikte erheblich reduziert; keinesfalls aber wird man zu Ansichten zurückkommen können, die die fränkische Zuwanderung schon knapp jenseits der heutigen Sprachgrenze gestoppt sehen wollen. An Petris Interpretation dieser Grenze als Ausgleichslinie, die sich aus einem bilingualen Raum ganz allmählich herauskristallisiert, wird man im Großen und Ganzen festhalten können.

Auch dieser kurze Streifzug durch die von der Kulturraumforschung verwendeten Quellen hat möglicherweise hoch komplexe, die Fachwissenschaften zum Frühmittelalter seit Jahrzehnten beschäftigende Einzelprobleme ungebührlich vereinfacht. Ohne die Argumentationsmuster der Kulturraumforscher imitieren zu wollen, für die das Ziel stets – ich zitiere Petri – „den eingeschlagenen, nicht ganz ungefährlichen Weg rechtfertigen sollte“ 17, hätte er dennoch seinen Zweck erfüllt, wenn es gelungen wäre, deutlich zu machen, dass moderne Mediävistik – auch und gerade, wenn man sie mit dem Anspruch der Interdisziplinarität betreibt – über weite Strecken eine Demontage der großen Synthesen ist, die man dem revolutionären Impetus bestimmter methodischer Ansätze zu verdanken glaubte. Die Kulturwissenschaften sind heute selten in der Lage, fertige und unverbrüchliche Ergebnisse vorzulegen; weit eher zerstören sie die Sicherheit überkommener Vorstellungen und warnen damit vor einer Selbstüberschätzung der eigenen Zeit. Große Worte und einfache Formeln wie die vom ‚Kulturraum’, vom ‚Volkstum’ und von der ‚Nation’ wurden zu Recht bezichtigt, „an dem Unglück des 20. Jahrhunderts Mitschuld“ 18 zu tragen, und von den Exzessen der Kulturraumforscher hat sich speziell die sprachhistorische Reflexion über das Frühmittelalter lange nicht erholt. Überwinden lassen sie sich durch einen inzwischen auch nicht mehr so neuen interkulturellen Ansatz, der dem Verlust allgemein akzeptierter Überzeugungen von Sinn und Ziel der Geschichte konstruktive Umwertungen und nicht zuletzt die Überwindung nationaler Enge entgegensetzt und – über spätere Sprach- und Territorialgrenzen hinweg – ältere Kommunikationsräume zu rekonstruieren versucht.

Anmerkungen:
1 Goetz, Hans Werner, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 9.
2 Vgl. Wenskus, Reinhard, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs, in: Beck, Heinrich (Hg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, Berlin 1999, S. 1-21; Pohl, Walter, Die Germanen, München 2000, bes. S. 45ff.
3 Steinbach, Franz, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926, S. 5.
4 Dazu jetzt zusammenfassend Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001.
5 Hinweise dazu in allen Handbüchern zur Dialektologie und zur Sprachgeschichte des Deutschen; die prägnanteste Zusammenfassung in der jüngeren Literatur findet sich wohl bei Barbour, Stephan; Stevenson, Patrick, Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspektiven, Berlin 1998, S. 67-78.
6 Zu diesen Thesen jetzt zusammenfassend Pitz, Martina, Zentralfranzösische Neuerungs- und nordöstliche Beharrungsräume – Reflexe der Begegnung von fränkischer und romanischer Sprache und Kultur?, in: Haubrichs, Wolfgang; Jarnut, Jörg (Hgg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Berlin 2004; Dies., Romanisch-germanische Sprachbeziehungen: Galloromania, in: Lexikon der germanischen Altertumskunde 23 (2003).
7 Dass das Volkserbe aus der Feder eines Historikers, nicht eines Germanisten stammt, steht freilich trotz gelegentlicher anderslautender Aussagen innerhalb der jüngeren Romanistik (vgl. z. B. Schmitt, C., La Romanisation de la Vallée de la Moselle. Le témoignage des noms de lieux, in: Kremer, D.; Monjour, A. (Hgg.), Studia ex hilaritate. Mélanges de linguistique et d’onomastique sardes et romanes offerts à Monsieur Heinz-Jürgen Wolf, Strasbourg 1996, S. 469-477, hier S. 469) außer Zweifel.
8 Vgl. Zeiss, Hans, Die germanischen Grabfunde des frühen Mittelalters zwischen mittlerer Seine und Loiremündung, in: 31. Bericht der römisch-germanischen Kommission 1941, 1. Teil, Berlin 1942, S. 5-34. Ob sich Zeiß durch diese Arbeit, von der er ausdrücklich betont, sie zum „besseren Verständnis eines geschichtlichen Vorganges“ geschrieben zu haben, der „die Entwicklung Europas bestimmt hat: die Ausbreitung der Germanen im frühen Mittelalter und die Bildung der neuen Völker, welche die Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit getragen haben“ (S. 6), auch als Kritiker einer politischen Instrumentalisierung des Petri’schen Ansatzes für eine Neuordnung Europas unter Führung des nationalsozialistischen Deutschland (vgl. dazu z. B. den bei Derks, Hans, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, S. 267ff. publizierten Text) erweist, ist umstritten. Anders Fehr, Hubert; Zeiß, Hans, Joachim Werner und die archäologische Forschung zur Merowingerzeit, in: Steuer, Heiko (Hg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft, Berlin 2001, S. 311-415.
9 Stein, Frauke, Die Bevölkerung des Saar-Mosel-Raumes am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Überlegungen zum Kontinuitätsproblem aus archäologischer Sicht, in: Archaeologia Mosellana 1 (1989), S. 89-195.
10 Anders Périn, Patrick, A propos de publications étrangères récentes concernant le peuplement en Gaule à l’époque mérovingienne : la « question franque », in : Francia 8 (1980), S. 536-552.
11 Dazu jetzt zusammenfassend Stein, Frauke, Kulturelle Ausgleichsprozesse zwischen Franken und Romanen im 7. Jahrhundert. Eine archäologische Untersuchung zu den Verhaltensweisen der Bestattungsgemeinschaft von †Rancy/Renzig bei Audun-le-Tiche in Lothringen, in: Haubrichs, Wolfgang; Jarnut, Jörg (Hgg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, Berlin2004.
12 Zusammenfassung der neueren historischen Forschung dazu jetzt bei Werner, Karl Ferdinand, La ‚conquête franque’ de la Gaule. Itinéraires historiographiques d’une erreur, in: Bulletin de l’Ecole des Chartes 154 (1997), S. 7-45.
13 Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der Onomastik, vgl. Haubrichs, Wolfgang, Germania submersa. Zu Fragen der Quantität und Dauer germanischer Siedlungsinseln im romanischen Lothringen und in Südbelgien, in: Burger, Harald u.a. (Hgg.), Verborum Amor. Festschrift für Stefan Sonderegger, Berlin 1992, S. 633-666.
14 Dazu ausführlich Stein, Frauke, Les tombes d’un chef franc et de sa famille à Güdingen. Considérations sur le rôle de l’aristocratie dans l’implantation franque entre le Meuse et la Sarre, in: Lichardus, Jan; Stein, Frauke (Hgg.), Saarbrücker Studien und Materialien zur Altertumskunde, Bonn 1992, S. 117-144.
15 Vgl. für das Folgende Pitz, Martina, Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive, in: Dietz, Burkhard u.a. (Hgg.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Münster 2003, S. 225-246; Dies., Petri, Franz, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde 22 (2002), S. 631-635.
16 Dass auch der gebürtige Österreicher Ernst Gamillscheg trotz seiner massiven Kritik an den wissenschaftlichen Grundlagen des Volkserbes „seit seiner Jugend ein politisch konservativer Mann und Anhänger großdeutscher Gedanken [war, der] selbstverständlich mit der Rückkehr der Rechten an die Macht zufrieden“ war und sich „politisch in Kreisen [bewegte], die für eine Annäherung oder den möglichen Anschluss Österreichs an Deutschland eintraten“ (Yakow Malkiel, Ernst Gamillscheg (1887-1971) und die Berliner Schule der Romanischen Sprachwissenschaft (1925-1945), in: Trabant, Jürgen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der romanischen Philologie in Berlin, Berlin 1988, S. 57-81, hier S. 57, 76), sei immerhin erwähnt. Während des zweiten Weltkrieges war Gamillscheg als Leiter des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Bukarest wie Petri einer der wichtigsten nationalsozialistischen Funktionsträger im Wissenschaftsbetrieb. Vgl. dazu Hausmann, Frank-Rutger, „Vom Strudel der Ereignisse mitgerissen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 2001, S. 577ff.
17 Petri, Franz, Die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in der interdisziplinären Diskussion, Darmstadt 1977, S. 10.
18 Scheibelreiter, Georg, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.-8. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 13.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Sprache