Klaus Popa: '"Kontextualisierung" und "Normalisierung" als Probleme einer Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Diskussionsbeitrag zum Rothfels-Forum, insbesondere zum Beitrag von Thomas Etzemüller

Von
Klaus Popa, Akademie Überlingen Meschede

Im Rahmen der Forumsdiskussion um Hans Rothfels haben insbesondere Jan Eckel und Thomas Etzemüller den Wunsch nach stärkerer "Kontextualisierung" und nach Überwindung eines "staatsanwaltschaftlichen Paradigmas" in der Historiografiegeschichte geäußert. Dies wird als Teil einer Aufarbeitung von "Versäumnissen" eingefordert, welche, laut Etzemüller, das Ergebnis einer bisher praktizierten "Reduktion der Analyse auf Individuen, ihre Intentionen und Schuld" sowie der damit verbundenen "Frage von Moral" sein sollen. Der Moralfrage gehe es, fährt der Autor fort, in erster Linie darum "Schuld posthum festzustellen und ein Urteil zu fällen", indem "bei manchen Historikern die Unschuldsvermutung von vornherein ausgeblendet" werde.

Diese Forderung nach Neuorientierung des historiografischen Diskurses über die völkische, die NS-Geschichte und die Zeitgeschichte neigt umgekehrt dazu, jegliche "Schuldvermutung" auszublenden, und handelt sich damit wiederum methodische Risiken ein. Die erwähnten Positionierungen bergen die Gefahr einer erschreckend weitgehenden Distanzierung vom Forschungsobjekt. Hinter dem Paradigma der "Kontextualisierung" und der eingeforderten "Normalisierung" verbergen diese Fragestellungen ein partielles Desinteresse an den eigentlich politischen Äußerungsformen und Konsequenzen der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft. Es wird impliziert, dass sich die damaligen Historiker nur in einer "Affinität zum System" befunden haben beziehungsweise, wie Etzemüller schreibt, lediglich eine "Prägung wissenschaftlicher Arbeit durch Denkbilder aus dem sozio-politischen Bereich" besaßen.

Diese Herangehensweise zielt auf eine "Normalisierung" der geschichtswissenschaftlichen Praxis während des Nationalsozialismus, wenn Etzemüller weiter ausführt: "Das Entscheidende ist, dass Historikern nicht bewusst wurde, dass sie diese Allianz nicht einfach auf der politischen Ebene schlossen (1933) und dann wieder lösen (1945) konnten, sondern dass sie Ausdruck einer ganz anderen, wesentlich tiefergehenden Allianz war, die ihre wissenschaftliche Arbeit prägte. Es lässt sich nämlich beobachten, dass es für Historiker von der Weimarer Republik bis weit in die Nachkriegszeit nichts weniger als 'natürlich' war, wissenschaftlich auf Seiten ihrer Nation gegen andere Nationen und vor allem gegen den Kommunismus zu kämpfen. Diese antikommunistisch geprägte Affinität zur Nation durchtränkte ihre gesamte Geschichtsschreibung und machte ihre wissenschaftliche Arbeit automatisch zu politischer Geschichte." Dieselbe Argumentation stützt der von Etzemüller bei den zeitgenössischen Wissenschaftlern beobachtete Objektivitätsbegriff. "Objektivität" sei im Falle der zur Diskussion stehenden Historiker "die Abwehr alles subjektiv Willkürlichen" gewesen - eine Sicht- und Darstellungsweise, die aus der in Anspruch genommenen "Ideologiefreiheit" eine "Abwehr politischer Anweisungen" herleitet. Dies bedeutete eine "Politisierung ohne direktes Engagement", ähnlich wie sie auch "für die deutschen Physiker, Architekten und Ingenieure" herausgearbeitet wurde.

So formuliert, kann der auf Diskursebene erörterten, aber doch objektiv vorhandenen Politisierung und Ideologisierung des völkischen und nationalsozialistischen Geschichtsbetriebs, dem extrem-nationalistischen und/oder nationalsozialistischen Glauben sowie der daraus resultierenden Eigeninitiative von Historikern relativ leicht aus dem Weg gegangen werden. Die weitreichendste Konsequenz dieser "Normalisierung" von Ultranationalismus und NS-Totalitarismus ist, dass damit der Thematisierung des Absonderlichen, des Unverwechselbaren, des Einmaligen der völkischen und nationalsozialistischen Geistigkeit ausgewichen wird. Ausgeblendet wird ein weiterer Grundbestandteil der damaligen NS-"Wissenschaftlichkeit": der politisch und ideologisch untermauerte kulturelle Totalitarismus, der die Zentralbegriffe des "deutschen Volkes", der "arisch-germanischen Rasse" und des Führertums fanatisch absolutierte. Damit entfällt auch die Frage nach ideologischem Fanatismus, nach der Initiativ- und Innovationsfreudigkeit im Namen der "Sache" oder des "Endsieges", nach dem damit verbundenen totalitären Selbstverständnis, dem totalitären Informations- und "Wahrheits"-Monopol sowie nach dem daraus resultierenden Kulturimperialismus.

Die implizit oder explizit postulierte "Natürlichkeit" des völkischen und nationalsozialistischen Gesellschafts- und Wissenschaftsdiskurses erweist sich als Nachteil der hier beschworenen "Kontextualisierung", so unentbehrlich letztere für die Historiografie auch sein mag. Die "Normalität" wird zur deterministischen Konstante des damaligen historiografischen Diskurses hochstilisiert. Einzigartigen gesellschaftlichen und geistigen Verhältnissen, die, nur deutschlandtypisch, in anderen Ländern mit der Ausnahme Italiens eine Randexistenz fristeten, wird der Ruch von "Normalität" verpasst. Die expansive Entwicklung und die katastrophalen Folgen dieser deutschen Normalität sind bekannt.

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