Mathias Beer: Wo bleibt die Zeitgeschichte? Fragen zur Geschichte einer Disziplin

Von
Mathias Beer, Forschungsbereich Zeitgeschichte, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde

Mit dem denkwürdigen Historikertag von 1998 kam ein neuer Gegenstand auf die Tagesordnung der deutschen Geschichtswissenschaft: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus.1 Er war im Zusammenhang mit der intensiven Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus zwar gelegentlich schon früher angerissen und in Teilbereichen intensiv diskutiert worden. Aber erst die befreiende Wirkung des Frankfurter Paukenschlags verlieh ihm die Weihen eines von der historischen Zunft anerkannten Themas. So geadelt, entfaltete die Frage nach der Geschichte des eigenen Tuns in einer bestimmten historischen Epoche eine zusätzliche Anziehungskraft, die sie bis heute nicht verloren hat.2 Dafür sprechen einschlägige Forschungsschwerpunkte, die mittlerweile veranstalteten Tagungen sowie die erschienenen oder in Arbeit befindlichen Studien. Nicht zuletzt ist auch die jüngste Auseinandersetzung um Hans Rothfels, für welche die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte das Forum lieferten, ein Indiz dafür.

Im Kern geht es bei dem Thema um die Vergangenheit deutscher Historiker in der Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere um das Maß und die Tiefe ihres Engagements für die nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungspolitik. Im Mittelpunkt stehen nicht "wildgewordene Studienräte oder Außenseiter",3 wie Hans Rothfels es Mitte der 1960er Jahre in einem Vortrag formulierte, sondern mit Werner Conze und Theodor Schieder, um nur zwei zu nennen, führende Vertreter des Fachs. Die brisante Mischung aus nationalsozialistischen Verbrechen und herausragenden Persönlichkeiten der Geschichtswissenschaft bildete die Grundlage dafür, dass die zunftinterne Diskussion das Interesse der Medien weckte und von ihnen aufgegriffen wurde. Damit wurde sie zu einer Debatte, die eine Wirkung über die engen Grenzen des Fachs hinaus entfaltete. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis das Licht des Scheinwerferkegels auch Hans Rothfels, die zentrale Figur der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in jedem Fall aber der deutschen Zeitgeschichte, erfasste.

Auch beschränkt auf den engen zeitlichen Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaft wirft das Thema, wie es in Frankfurt mitunter emotionsgeladen diskutiert wurde, wichtige Fragen zur Geschichte der deutschen Historiografie auf. Diese erweisen sich, unabhängig von dem einzelnen untersuchten Lebenslauf, von grundsätzlicher Natur für das Fach, wenn mit den Voraussetzungen und den Nachwirkungen die Zeit vor 1933 und nach 1945 ins Blickfeld gerät. Zu den Personen gesellen sich Denkstile, Schulen, Netzwerke, Methoden, Forschungsansätze, Publikationsorgane und Institutionen. Vor diesem Hintergrund ist schon früh vor einer ausschließlichen Fixierung auf die besagten zwölf Jahre gewarnt worden. Damit verbunden ist die nachdrückliche Forderung nach einer Kontextualisierung des Themas: Also nicht Historiker im Nationalsozialismus, sondern Historiker und Nationalsozialismus, d.h. die Zeit des "Dritten Reichs" als ein Teil einer Historikerbiografie. Die Rekonstruktion eines Lebenslaufs kann, muss aber nicht, in erster Linie dazu dienen, Haben- und Soll-Seite, Licht und Schatten des Lebenswerks eines Historikers gegeneinander aufzuwiegen, sie kann jedoch auch helfen, Momente der Kontinuität und der Diskontinuität herauszuarbeiten. Der biografische Zugang vor dem Hintergrund der an lebensweltlichen Umbrüchen nicht armen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet sich dabei als Erfolg versprechendes methodisches Hilfsmittel geradezu an.4

Dass damit die Gefahr der inhaltlichen Verengung des ergiebigen Themas nicht gebannt ist, dafür liefert die Auseinandersetzung zwischen Ingo Haar und Heinrich August Winkler ein anschauliches Beispiel. Ausgehend von einer verbesserungsbedürftigen oder nicht korrekten Anwendung der historischen Methode an einer zum "Schlüsseldokument" erhobenen Quelle, wird über die Frage nach dem Grad der Nähe oder Ferne des politischen und wissenschaftlichen Engagements von Hans Rothfels zur nationalsozialistischen Ideologie gestritten. Die direkten und indirekten Verbindungslinien zu den nationalsozialistischen Neugestaltungsplänen für Europa und der rassisch begründeten Vernichtungspolitik, die Ingo Haar zu sehen glaubt, werden von Heinrich August Winkler bestritten. Gewiss ist es wichtig, die Plausibilität des einen oder anderen Standpunktes zu klären, was ja auch weitgehend geschehen ist. Doch sollten dabei grundsätzliche Fragen, die sich bei dem großen, generationen- und epochenübergreifenden Thema stellen, nicht aus dem Blickfeld verschwinden. Eine solche ist sicher die der Geschichte des Fachs Zeitgeschichte in Deutschland, die eng mit der Person von Hans Rothfels verbunden ist und zugleich weit darüber hinausgeht.

Der im Kaiserreich geborene, im Ersten Weltkrieg verwundete, von den Nazis vertriebene jüdische Emigrant, der nach 1945 als einer der wenigen Historiker in ein nicht mehr vorhandenes Reich zurückkehrte, hat eine Einleitung zu einer neuen Zeitschrift geschrieben, die, zum Programm erhoben, nach und nach zum Grundstein für die Zeitgeschichte in der Bundesrepublik avancierte. Nicht so sehr dem Text als der Biografie seines Verfassers ist es wohl zu verdanken, dass "Zeitgeschichte als Aufgabe"5 mittlerweile als der Taufschein für die Geburt der deutschen Zeitgeschichte aus dem Geist der Vergangenheitsbewältigung gilt. Von einer "Initialzündung"6, und von einer "Erfindung der Zeitgeschichte"7 wird gesprochen. Diese zum roten Faden der Argumentation gesponnene Auffassung hat sich bereits so verfestigt, dass Vorschläge über eine erste, zweite oder gar dritte Zeitgeschichte diskutiert werden8, ohne dass die Anfänge des Fachs als historische Disziplin hinterfragt worden wären.

Dabei bietet gerade die Einleitung zu den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte doppelten Anlass dazu. Darin schreibt Rothfels von einem "Neuanfang" der Zeitgeschichte, was darauf schließen lässt, dass es schon einen wie auch immer gearteten Anfang gegeben haben muss. Und, im diskutierten Zusammenhang noch wichtiger, er weißt wiederholt auf die Bedeutung des "Betroffenseins" des Zeithistorikers hin, wenn dieser Geschichte schreibt. Dabei bezieht sich Hans Rothfels nicht auf abstrakte Erfahrungen, sondern er rekurriert mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Erfahrungen seiner eigenen Biografie, die von den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1918, 1933, 1945 und 1949 geprägte Lebensgeschichte. Die damit verbundene persönliche und historische Ver- und Aufarbeitung ist als wesentlicher Faktor in sein Verständnis und die Praxis der Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin eingegangen, wie sie sich, auf ihn berufend, seit den 1960er Jahren durchgesetzt hat.

Diese Erfahrungen setzten nicht erst nach 1945 ein, sondern mit dem Ende des deutschen Kaiserreichs und seinem jähen Untergang als Ergebnis des Ersten Weltkriegs. Es spricht manches dafür, die Anfänge der Zeitgeschichte als Disziplin in Deutschland in diesem Umfeld zu verorten und weitere Entwicklungsstufen in der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus zu sehen9, die in den Neuanfang nach 1945 einflossen. Wenn das bisher nur ansatzweise geschehen ist, dann liegt es sicher auch daran, dass das autobiografische Erfahrungselement von Zeithistorikern, dem Objetivitätspostulat huldigend, bewusst aus historiografischen Untersuchungen ausgeklammert wurde, wie Eric Engstrom gezeigt hat.10 Eine der damit verbundenen Folgen ist sicher die postulierte Traditionslosigkeit der deutschen Zeitgeschichte. Sie steht im Widerspruch sowohl zu den historischen Erfahrungen des "Vaters" der deutschen Zeitgeschichte als auch dem damit verbundenen Verständnis von Zeitgeschichte.

Der geschichtswissenschaftliche Aufklärungsprozess, der sich auf dem Historikertag in Frankfurt eine Straße und viele Wege gebahnt hat, sollte die Chancen nutzen, auch solche Widersprüche aufzulösen. Sie betreffen zentrale Fragen des Fachs. Die kritische Auseinandersetzung mit Hans Rothfels mag nicht neu sein. Diejenige mit der Geschichte der deutschen Zeitgeschichte steht erst am Anfang.

Dr. Mathias Beer ist Leiter des Forschungsbereichs Zeitgeschichte am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen und Lehrbeauftragter an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seine Arbeitsgebiete betreffen die Geschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit sowie der deutschen und ostmitteleuropäischen Geschichte der Neuzeit und Zeitgeschichte mit Schwerpunkten zu Themen der Familien-, Kommunikations-, Mentalitäts-, Verwaltungs-, Politik-, Wissenschafts- und insbesondere Migrationsgeschichte. Homepage: http://www.uni-tuebingen.de/donauschw.institut/beer_mathias.html

1 Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999.
2 Von einer Wiedergabe auch nur der wichtigsten Publikationen zur Entwicklung der Forschung und zum aktuellen Forschungsstand muss hier abgesehen werden.
3 Rothfels, Hans, Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Flitner, Andreas (Hg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, Tübingen 1965, S. 90-107, hier S. 99.
4 Cornelißen, Christoph, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die westdeutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Jaworski, Rudolf; Petersen, Hans-Christian, Biographische Aspekte der "Ostforschung". Überlegungen zu Forschungsstand und Methode, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 15 (2002), 1, S. 47-63.
5 Rothfels, Hans, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8.
6 Möller, Horst, Das Institut für Zeitgeschichte und die Entwicklung der Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland, in: Ders., Wengst, Udo (Hgg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999, S. 1-68, hier S. 2.
7 Conrad, Sebastian, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960, Göttingen 1999, S. 233.
8 Doering-Manteuffel, Anselm, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklungen und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 1-29; Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28-30 (1993), S. 3-19; Kleßmann, Christoph, Zeitgeschichte in Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Essen 1998.
9 Aly, Götz, Rückwärtsgewandte Propheten. Willige Historiker. Bemerkungen in eigener Sache, in: Ders.: Macht - Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 153-183.
10 Engstrom, Eric J., 'Zeitgeschichte' as disciplinary history. On professional identity, self-reflexive narratives, and discipline-building in Contemporary German History, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 399-425.

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