Jan Eckel: Historiografiegeschichte als Personaldebatte. Bemerkungen zu einer neuen Diskussion über deutsche Historiker

Von
Jan Eckel, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Diskussion um den Historiker Hans Rothfels (1891-1976) hat sich an einem Quellenstreit zwischen Heinrich August Winkler und Ingo Haar entzündet 1, ist bald schon in der Öffentlichkeit rezipiert und nun innerhalb dieses Forums von Peter Th. Walther und Karl Heinz Roth fortgesetzt worden. Sie liegt auf der Linie der "Selbstaufklärung des Faches", die seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 immer wieder eingefordert worden ist, und bei der es im Kern darum geht, die nationalsozialistischen Belastungen der deutschen Geschichtswissenschaft zu bestimmen. Die Arbeiten, die in diesem thematischen Zusammenhang bisher erschienen sind, haben das Wissen um die Fachgeschichte in wichtigen Punkten erweitert. Sie haben insbesondere den Blick auf die volksgeschichtlichen Neuansätze nach dem Ersten Weltkrieg gelenkt, auf deren Institutionalisierung in vorwiegend außeruniversitären Forschungszusammenhängen sowie im einzelnen auf die Mitarbeit von Historikern an besatzungspolitischen Maßnahmen während des Zweiten Weltkriegs. 2

In der Auseinandersetzung über Hans Rothfels ist dieser geschichtswissenschaftliche Selbstaufklärungsprozess zur Personaldebatte geworden, die in wesentlichen Teilen nach dem Muster von Anschuldigung und Verteidigung des historischen Akteurs geführt wird. Die emblematische Rolle, die Rothfels, wie neben ihm etwa Werner Conze und Theodor Schieder, bereits in der frühen Bundesrepublik kennzeichnete, verlängert sich dabei in die aktuellen Erörterungen insofern, als gerade diese Historiker heute als zentrale Gradmesser dienen, um die politische Integrität des Faches im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit zu bewerten. Die individualisierende Perspektive ist ein legitimer Zugang der Disziplingeschichtsschreibung; vor allem gibt es offenbar ein Bedürfnis nach Information über die Lebensläufe einflussreicher Vertreter der frühen westdeutschen Geschichtswissenschaft, das auch über die Fachöffentlichkeit hinausgeht. Wenn dabei allerdings, wie es in der neuesten Debatte geschieht, sehr weitgehend von persönlichen Erfahrungen eines Historikers und von seiner Einbindung in das fachliche Umfeld sowie in zeitgenössische intellektuelle Diskurse abstrahiert wird, und wenn die realgeschichtlichen Prozesse außer Acht bleiben, die im wissenschaftlich-politischen Denken eines Historikers reflektiert werden, ist die Aussagekraft der Erkenntnisse begrenzt. 3 Das erste Problem der jüngsten Debatte ist somit die Entkontextualisierung. Geschichtswissenschaftliche Arbeit ist nicht schon historisiert, wenn ihre politischen Implikationen beurteilt werden, sondern erst, wenn sie als Ausdruck historischer Prozesse bzw. als Reaktion auf historische Entwicklungen verstanden wird.4

Um die historiografische Produktion von Historikern ihrerseits als historisches Phänomen aufzufassen, muss man sie zum einen in den geschichtlichen Kontexten ansiedeln, in denen sie stattfindet. Im Falle von Hans Rothfels heißt das etwa, dass seine Geschichtsschreibung auf die Verarbeitungsformen der Weltkriegserfahrung, insbesondere der militärischen Niederlage zu beziehen ist, die die politische Situation Deutschlands im europäischen Vergleich spezifisch verschärfte; ferner auf die Konjunktur antiliberaler Ordnungsentwürfe in der Zwischenkriegszeit, welche letztlich auf eine durchgreifende Modernisierungsdynamik reagierten, die in Deutschland um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte; auf die Problemwahrnehmungen innerhalb der "Völkermischzone" Ostmitteleuropas, die durch die Versailler Friedensverträge eine neue Ordnung erhalten hatte und in der Folge durch politische Instabilität und die staatliche Instrumentalisierung von Minderheitenkonflikten gekennzeichnet war; schließlich auf die verschiedenen Mechanismen der intellektuellen Umorientierung in den deutschen Geisteswissenschaften nach 1945, die biografisch verbunden waren mit dem ambivalenten Verhältnis von Fort- und Umschreibung der eigenen Konzeptionen, sowie politisch mit der Einfügung in ein neues globales Koordinatensystem und innerstaatliches Institutionengefüge. Da Hans Rothfels nach der rassistischen Kategorisierung des NS-Regimes "Volljude" war, kommen als biografische Spezifika der wissenschaftliche Ausgrenzungsprozess, der unmittelbar 1933 einsetzte, und die Diskriminierungserfahrung hinzu, die bislang überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen worden sind, und die für den Historiker in der Folgezeit einen lebensgeschichtlichen Angelpunkt bildeten. Die Überschneidungsflächen mit nationalsozialistischen Ideologemen und Politikentwürfen sind bei alledem ein zentraler Aspekt, der auf der Ebene von Denkmodellen und politischen Optionen zu untersuchen ist, weniger auf der von persönlichen Verfehlungen oder persönlicher Integrität. - Zum anderen lässt sich Geschichtsschreibung nicht von dem "Feld" ablösen, in dem sie stattfindet, von institutionellen Zugehörigkeiten und personellen Verbindungen eines Wissenschaftlers, von seiner Position im Fach.

Eine weitere Schwierigkeit der aktuellen Debatten ist methodischer Natur. Mit der Thematisierung der NS-Vergangenheit deutscher Historiker hat sich eine neue Art der politikgeschichtlichen Historiografieanalyse herausgebildet, in der geschichtswissenschaftliche Texte auf die ihnen inhärenten politischen Programme befragt werden. Inwiefern das möglich ist, stellt zunächst ein methodisches Problem dar. Historiografische Texte weisen verschiedene Aussagemodi auf, und sie durchgehend als Gegenwartsaussagen zu lesen, heißt, ihre temporalen und narrativen Strukturen einebnen. Ein Leser, der noch nie von Hans Rothfels gehört hat und die gegenwärtige Diskussion verfolgt, dürfte den Eindruck gewinnen, dass es sich bei ihm um einen politischen Publizisten handelt. Die gedanklichen Ansatzpunkte und Problemstellungen seiner historiografischen Produktion sind in den bisherigen Erörterungen fast vollständig ausgeblendet worden. Dabei hat sich Rothfels, anders als etwa Friedrich Meinecke oder Gerhard Ritter, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht in tagespolitischen Kommentaren geäußert, sondern fast stets in Form historischer Untersuchungen. Seine Texte weisen aktualisierende Bezüge auf, die charakteristisch sind für eine Geschichtsschreibung, in der die Gegenwart jeweils gleichsam als letztes Kapitel an den historischen Durchlauf angeschlossen ist. Und insbesondere in der Königsberger Phase findet sich eine Ausrichtung auf politische "Zukunftslösungen", die zumeist in programmatisch formulierten Schlusspassagen eingefordert werden. Doch erreichen beispielsweise Rothfels' hegemoniale "Mitteleuropa"-Vorstellungen nie die Konkretheit und Ausführlichkeit der politischen Konzeptionen etwa Friedrich Naumanns oder Giselher Wirsings, auch werden bestimmte Gedanken in verschiedenen Schriften variiert. Die innen- und außenpolitischen Entwürfe der Kampfschriften "Konservativer Revolutionäre" sind stellenweise institutionell relativ detailliert ausgeführt. Demgegenüber zeichnen sich die historischen Abhandlungen von Rothfels und anderer Historiker bei aller Deutlichkeit der antidemokratischen, revisionistischen und expansiven Zielrichtung prinzipiell durch größere programmatische Unschärfe aus, die sich daraus ergibt, dass sie sich im Medium der Geschichte auf die Gegenwart beziehen. Gerade aus dieser Unschärfe gewinnen sie zeitgenössisch ihre Suggestivkraft, und nur wenn man diese berücksichtigt, lassen sich die Reinterpretationen verstehen, denen viele Fachvertreter nach 1945 ihr eigenes Werk unterzogen bzw. unterziehen konnten. In jedem Falle besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einer Denkschrift, wie derjenigen der Historikergruppe um Theodor Schieder vom Oktober 1939, in der Umsiedlungsmaßnahmen skizziert werden, und wissenschaftlichen historischen Aufsätzen und Reden - und zwar schon vor allen politischen und moralischen Implikationen ein Unterschied der Textsorte.

Mit einem textanalytischen Instrumentarium, das den Regelhaftigkeiten historiografischer Texte Rechnung trägt, mit der Rekonstruktion der Produktionsfaktoren, die die wissenschaftliche Arbeit bedingen, sowie mit der Einbettung in politik- und erfahrungsgeschichtliche Kontexte lassen sich auch Historiker zu historischen Objekten machen und lässt sich Historiografiegeschichte auch aus biografischer Sicht als Wissenschafts- und Intellektuellengeschichte schreiben.

Jan Eckel ist wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er arbeitet an einer Dissertation über Hans Rothfels.

Anmerkungen:

1 Die Kontroverse findet sich in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 643-652 und 50 (2002), S. 497-505, 635-652. In ihrem Zentrum stand die Frage der Datierung und des inhaltlichen Verständnisses eines Radiovortrages von Hans Rothfels mit dem Titel "Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart". Dass es sich bei dem Vortrag nicht um ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus handelt, ergibt sich aus der ‚immanenten' Lektüre. Die genaueste noch mögliche Datierung dürfte mit den Beiträgen Winklers erreicht sein. Die Textgeschichte des "Staatsgedankens" ist damit allerdings noch nicht abschließend behandelt, da bisher u.a. eine veröffentlichte Fassung des Textes nicht herangezogen worden ist (Rothfels, Hans, Der deutsche Staatsgedanke von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart, in: Arbeitsgemeinschaft Hochschule und höhere Schule für Niederschlesien und Oberschlesien (Hg.), Staatsbürgerkunde und höhere Schule. Eine Vortragsreihe, Breslau 1931, S. 87-103).
2 Vgl. als Auswahl: Oberkrome, Willi, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999; Haar, Ingo, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000.
3 Derzeit werden über verschiedene Historiker biografische Untersuchungen angefertigt, die solche Bezüge herzustellen versuchen. Vgl. als Überblick Petersen, Hans- Christian, „Ostforscher“-Biographien. Ein Workshop der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Kiel und der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Malente, 13.-15. Juli 2001, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 827-829, hier S. 827ff.
4 Vgl. stellvertretend zu den verschiedenen methodischen Zugängen und inhaltlichen Fragestellungen, die dafür in den letzten Jahren erprobt worden sind: Conrad, Sebastian, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan. 1945-1960, Göttingen 1999; Cornelißen, Christoph, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die westdeutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Weitere Informationen
Sprache