Karen Schönwälder: Repräsentant der Übergänge

Von
Karen Schönwälder

Sollten im Jahr 2003 Studierende der Geschichtswissenschaft und allgemein an deutscher Geschichte Interessierte Hans Rothfels kennen? Wieso eigentlich interessieren sich große Tages- und Wochenzeitungen für das Leben und Wirken eines bereits 1976 gestorbenen Historikers, dessen Werke keinesfalls Standardtitel auf den Literaturlisten von Vorlesungen und Seminaren sind?

Die Antwort auf die letzte Frage ist einfach: sie heißt Heinrich August Winkler. Sein außerordentliches persönliches Engagement war es offenbar, das "Die Zeit" dazu brachte, in dramatischer Art von Ingo Haar Abbitte für seine Verurteilung Hans Rothfels' zu fordern. Und Winkler war ebenfalls willens und in der Lage u.a. leitende Herren im Bundesarchiv Koblenz zu mobilisieren, um seine eigenen Recherchen zu unterstützen. Auch wenn Winkler bezüglich der Datierung der umstrittenen Rothfels-Rede (vor oder/und nach dem 30.1.1933?) überzeugende Argumente anführt und Haar sich einige Ungenauigkeiten hier selbst sicher kaum verzeiht, sollte man auch im Kopf haben, dass in wissenschaftlichen Kontroversen nicht immer auf Basis vergleichbarer Ressourcen gestritten wird.

Warum aber dieses Engagement? Meine Schlussfolgerung - auch aus einer anderen Erfahrung1 - ist, dass Hans Rothfels eine außerordentlich faszinierende Persönlichkeit gewesen sein muss, der auf Studierende und Doktoranden einen großen Einfluss ausübte. Schon in den 1930er Jahren kämpften jüngere, keinesfalls unbedingt gegen den Nationalsozialismus eingestellte Kollegen (R. Craemer, E. Maschke) gegen seine Entlassung - und diese Erfahrung machte keinesfalls jeder der aus dem Amt gedrängten Professoren. Und noch Jahre nach seinem Tod fällt es ehemaligen Doktoranden und Assistenten schwer einzugestehen, dass ihr verehrter Lehrer Rothfels mit einigen Zielen des Nationalsozialismus sympathisierte (auch wenn Winkler dies letztlich tut).

Zumindest zu einem Teil ist also die Rothfels Debatte - ebenso wie die Schieder, Conze, Erdmann Debatte - interessant als Fallbeispiel sozialer Beziehungen in der deutschen Geschichtswissenschaft: zwischen "Lehrern" und "Schülern"2, und natürlich auch zwischen wiederum Jüngeren und Etablierten, gegen deren Vorherrschaft die Jüngeren rebellieren. Der Verweis auf den männerbündischen Charakter der Königsberger und anderer Kreise gewinnt hier eher an Plausibilität - aber natürlich ist dies eher eine Impression meinerseits und keine streng quellenkritischen Kriterien genügende Beweisführung.

Rothfels ist aber auch darüber hinaus interessant, und zwar als Repräsentant der Übergänge: In den 1920er und 1930er Jahren steht er für die Unzufriedenheit jüngerer Gegner der Demokratie mit der traditionellen Rechten. 1932 machte er Furore, als er auf dem Historikertag die gängige Fixierung auf das Reich von 1871 attackierte und darlegte, bei der Gestaltung Mittel- und Osteuropas könne dies noch nicht das letzte Wort gewesen sein. Eindeutig war Rothfels ein wichtiger Mann für die damals jüngeren völkisch orientierten Historiker, und seine Wirkung war auch darauf zurückzuführen, dass er eben nicht nur den gängigen revisionistischen Konsens formulierte. Was Winkler zu der Auffassung veranlasst, er sei Vernunftrepublikaner gewesen, ist mir rätselhaft. Zu dieser kleinen Gruppe rechnet man im allgemeinen Historiker, die nach 1918 die Weimarer Republik akzeptierten (und nicht nur an eine, auch von Parteien und Demokratie nicht unter zu kriegende deutsche Staatsidee glaubten), wie etwa Wilhelm Mommsen oder Friedrich Meinecke.

Rothfels wollte eine neue Art von Wissenschaft. Noch in einem auf Mai 1935 datierten Text bekannte er sich zu einer "kämpfenden Wissenschaft", die stärker involviert sein sollte vor allem im Einsatz für eine territoriale Neuordnung Mitteleuropas; sein Buch bezeichnete er als "Vorpostenbericht".3 Offenbar reichte ihm die in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Zeit vorherrschende, entschieden antidemokratische und nationalistische Haltung nicht aus; er wollte auch jetzt noch mehr politisches Engagement. Im Juni 1934 äußerte er die Hoffnung, die Geschichtswissenschaft möge "für die deutsche Gegenwart […] aus ihren eigenen Bedingungen, aus eigener Verantwortung, ein Bundesgenosse sein können - im Kampf um das Werdende."4 Auch wenn Rothfels an einer gewissen Autonomie des Historikers festhalten wollte, hielt ihn dies nicht davon ab, im Vorfeld der Abstimmung über die Zugehörigkeit des Saarlandes zum Reich eine "unbedingte Anerkennung der klar zutage liegenden Volkstumsrechte, die an der Saar schon vor 70 Jahren aus liberalem Denken gefordert wurde und die aus der Weltanschauung des neuen Deutschland durch seinen Führer programmatisch verkündet worden ist", einzufordern.5 Dreißig Jahre später beklagte Rothfels die um 1933 verbreiteten Affinitäten der Historiker zur NS-Propaganda und deren Verzicht auf die Ausnutzung vorhandener Freiräume - vielleicht auch eine selbstkritische Anmerkung.6 Tatsächlich hatten mit Arthur Rosenberg, Veit Valentin und Friedrich Meinecke Anfang 1933 einzelne Historiker noch kritische Stimmen zur politischen Entwicklung veröffentlicht; es ging also auch anders.

Der Übergang ins Exil fiel Hans Rothfels schwer: Spät und widerwillig entschloss er sich Deutschland zu verlassen, und als er in Großbritannien keine Gastprofessur erhielt, da er kein Flüchtling sei, schrieb er an Siegfried A. Kaehler, "dass das Maß an Beliebtheit draußen von dem Maß der Bereitschaft zum Landesverrat" abhinge.7 Offensichtlich - oder ist hier eine andere Interpretation möglich? - hielt er auch jetzt noch eine entschieden regimekritische Haltung für Landesverrat. In den USA dann allerdings scheint er sich von den Vorteilen des westlichen Systems überzeugt und seine politische Haltung revidiert zu haben.

Nach 1945 erleichterte er, der ins Exil getriebene, aufgrund seiner jüdischen Herkunft verfolgte Rückkehrer, dann den alten Kollegen den Übergang vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik. Alte Netzwerke wurden wieder belebt, und es ist nicht bekannt, dass Rothfels sich für eine Auswechslung der durch ihre enge Zusammenarbeit mit dem NS-Regime kompromittierten Kollegen eingesetzt habe. Im Gegenteil: Als Werner Conze in der Hochzeit der Studentenbewegung unter Druck geriet, sprang Rothfels ihm helfend zur Seite. Wie Dietrich Hildebrandt berichtet, wurden schon 1970 in studentischen Publikationen dem Heidelberger Rektor Conze antisemitische Äußerungen von 1938 vorgehalten.8 Als der Senat die Angelegenheit debattierte, sei ein Brief Rothfels' verlesen, die Angelegenheit dann als vernachlässigenswerte Schriftstellerei Conzes abgetan worden.

War Rothfels ein Faschist, wie Karl Heinz Roth schreibt? Ich bleibe dabei, ihn in dem breiten, grauen Übergangsfeld zu verorten, in dem sich wichtige Ziele der Nationalsozialisten mit denen anderer Antidemokraten und Expansionisten überschnitten. Eindeutig wollte Rothfels eine Neudefinition der Staaten und Grenzen im östlichen Mitteleuropa, die mehr umfasste als eine Rückkehr zum Zustand von 1914, allerdings weniger anstrebte, als eine staatliche Zusammenführung aller Deutschstämmigen.9 Für die mittleren dreißiger Jahre ist es typisch, dass manche Zukunftsvision - manchmal aus außenpolitischen Rücksichten heraus10 - vage gehalten wurde; und mir scheint, dass die Textexegese bzgl. der umstrittenen Rothfels-Äußerungen an ihre Grenzen gestoßen ist. Typisch ist auch, dass viele Historiker ihre außenpolitischen Ansichten radikalisierten, als mit den Erfolgen des Regimes radikalere Optionen möglich wurden. Aber nicht alle taten dies. Ob ein Rothfels, der in Deutschland hätte bleiben können, im nationalsozialistischen Eroberungsfeldzug die Verwirklichung seiner Ideen gesehen hätte, ob er seine Auffassungen radikalisiert oder revidiert hätte, wissen wir nicht. Dieser Rothfels existierte nicht.

PD Dr. phil. Karen Schönwälder ist Leiterin der Arbeitsstelle "Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration" am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Ihre wissenschaftlichen Interessensgebiete umfassen u.a. Politik und Gesellschaft in Großbritannien, Migration und Wissenschaftsgeschichte. Homepage: http://www.wz-berlin.de/zkd/aki/staff/schoenwaelder_publ.de.htm

Anmerkungen:

1 In meinem Promotionsverfahren gab es einen Gutachter, der mich sehr ermunterte und unterstützte, aber in einem Punkt meinen Einschätzungen entschieden widersprach: in der Einschätzung von Hans Rothfels.
2 Winkler spricht noch heute dem Hochschullehrer eine prägende Rolle zu, wenn er argumentiert, Rothfels habe seine Schüler nicht zu einer bestimmten Haltung "erzogen".
3 Vgl. das Vorwort zu Rothfels, Hans, Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935.
4 Vorwort, in: Rothfels, Hans, Bismarck und der Osten, Leipzig 1934.
5 Rothfels, Hans, Selbstbestimmungsrecht und Saarabstimmung, in: Rothfels, Ostraum (wie Anm. 3), S. 207-222, hier S. 220.
6 Rothfels, Hans, Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Flitner, Andreas (Hg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus, Tübingen 1965, S. 90-107, hier S. 94f., 98.
7 Zitiert nach Conze, Werner, Hans Rothfels, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 311-360, hier 340.
8 Hildebrandt, Dietrich, ".... und die Studenten freuen sich!" Studentenbewegung in Heidelberg 1967-1973, Heidelberg 1991, S. 169f., unter Verweis auf ein Asta Info 103 vom 27.1.1970: "Die Geburt der Sozialgeschichte aus dem Geiste des Imperialismus".
9 So Rothfels in seinem zuerst 1933 veröffentlichten Aufsatz: Das Problem des Nationalismus im Osten, in ders., Ostraum, (wie Anm. 3), S. 183-194, hier S. 183.
10 Dies ist etwa bekannt für den Band Deutschland und Polen, der u.a. Rothfels' eben aus anderer Quelle zitierten Beitrag beim Warschauer Historikerkongress dokumentiert und über dessen Interpretation Haar und Winkler streiten.

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