Peter Thomas Walther: Eine kleine Intervention und ein bescheidener Vorschlag in Sachen Rothfels

Von
Peter Thomas Walther, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Verlauf der zurückliegenden Monate ist hierzulande eine erbitterte Konfrontation über den Ort von Hans Rothfels in der deutschen politischen Historiografie entstanden. Nachdem im letzten Jahrzehnt in der Historikerzunft die Rolle von "Patriarchen" wie Schieder, Conze, Brunner, Aubin und Brackmann vor und nach 1945 Anlass für einige disziplinhistorische Debatten gewesen war, ist jetzt der einzige Ordinarius für Geschichte, der emigrierte und remigrierte, ins Visier der Auseinandersetzungen geraten. Wieder geht es um die Verortung eines Historikers in der Zunftgeschichte. Die beiden Hauptkontrahenten - Ingo Haar, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin, und Heinrich August Winkler, Professor an der HU Berlin - haben inzwischen derart konträre Positionen bezogen, dass sie nach Argumentation, Logik und Stil wenig Raum für Vermittlung und Aufeinanderbeziehung lassen. Doch gerade deshalb soll dieser zur Verfügung stehende knappe Raum hier in aller Kürze und Schärfe skizziert werden.

Worum geht es? Haar hatte in seiner Hallenser Dissertation eine Historikerfraktion und ihre Institutionen untersucht, die ihre fachliche Kompetenz zuerst für die Revision des Versailler Systems einsetzten, um dann, teils mittelbar, teils unmittelbar an den ethnischen Flurbereinigungen in Ost-Mitteleuropa teilzunehmen, die schließlich zur Theorie und Praxis des Genozids an "Untermenschen" jeder Art führte. Haar verortet in diesem Zusammenhang etwas forsch Rothfels als einen der federführenden Revisionisten, der bis zu seiner Entfernung aus der Universität Königsberg 1934 das Rüstzeug für die spätere Entwicklung bereitgestellt habe, also als einer der "Totengräber" der Republik einzuschätzen sei.

Winkler argumentiert dagegen, vor allem anhand einer für den Rundfunk vorgesehenen Rede, dass der Königsberger Ordinarius Rothfels bis 1933, solange öffentliche Äußerungen möglich waren, sich sowohl für eine Revision der Versailler Ordnung ausgesprochen wie auch für eine Stabilisierung der Weimarer Republik eingesetzt habe - also als Stütze der Republik einzuschätzen sei.

In beiden Fällen geht es um die Erstellung von Traditionslinien in der deutschen Historikerschaft: während Winkler einen positiv zu bewertenden Rothfels aus Weimarer Zeiten zu den Ahnherren der westdeutschen Historikerschaft zählen möchte, sieht Haar ihn als einen der Historiker in der Weimarer Republik, die den Weg in die Hitlerei vorbereiteten - also in der Tradition der Zunft bestenfalls eine negative Rolle spielen kann. Insofern neigen beide Kombattanten - wohl ihrem jeweiligen Zunftbild verpflichtet - zu einer retrospektiven Konstruktion. Als Hintergrund kommt "erschwerend" hinzu, dass Winkler in Tübingen Rothfels-Schüler war, während Haar - anderthalb Generationen jünger - sich eher an der weitgehend ungebrochenen Traditionsverwaltung Königsberger und anderer Wissenschaftler durch die "Bielefelder Schule" reibt, wie sie auf dem Frankfurter Historikertag 1998 zelebriert wurde.

Bizarrerweise hat sich die Konfrontation in der letzten Runde vor allem an einer (Rundfunk-) Rede Rothfels' festgemacht, bei deren Datierung und damit Deutung Haar anfangs ein arger Fehler unterlaufen war, den er allerdings unterdessen korrigiert hat. Diese Rede bzw. die Interpretation dieser Rede, von der bis heute nicht klar ist, wie oft und in welchen Modifikationen vor welchem Publikum sie Rothfels gehalten hat, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen und ihr eine Form von Repräsentativität zuzuschreiben wie Winkler suggeriert, führt jedoch in die Irre. Denn ihr Stellenwert ist eher marginal; es gibt ausreichend und aussagekräftigere Veröffentlichungen von und über Rothfels sowie Unterlagen im Nachlass Rothfels, die die Grundzüge der politischen und historiografischen Entwicklung dieses Historikers - wenn auch mit einer großen Lücke - aufzeigen.

Um Rothfels gerecht zu werden, wird es wohl, so mein Vorschlag zur systematischen Historisierung des "Falles", notwendig sein, vier "Rothfelse" zu unterscheiden und einander korrigierend in Beziehung zu setzen: den Königsberger, den Chicagoer, den Tübinger und - last but not least - den Koblenzer.

Den Königsberger Rothfels zu einem Weimarianer zu machen, wie Winkler vorschlägt, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Dagegen spricht nicht nur Rothfels' Publikationsliste mit seinem antiliberalen Bismarckkult, seinem Insistieren auf der antiparlamentaristischen "Autonomie des Staates" und seine dezidiert antidemokratische Stellungnahme auf dem Göttinger Historikertag 1932, dagegen spricht auch, dass maßgebliche Instanzen in Partei und Staat - wenn auch erfolglos - sich 1933/35 bemühten, den beliebten und politisch wertvollen Historiker trotz seiner "Nichtarischkeit" in seiner Professur in Königsberg oder auch als lehrenden Emeritus in Berlin zu halten. Nach dem Scheitern dieser Versuche unterlag Rothfels den staatlichen und sozialen Ausgrenzungen, die ihn schließlich 1939 in die Emigration trieben. Doch bis 1938 hatte er an der Devise "right or wrong - my country" festgehalten. Die personellen, konzeptionellen und institutionellen Schnittstellen zu den Wissenschaftlern, die später von der Revision von Versailles zur Liquidation der "Ostvölker" schritten, wären hier auszuloten - ob die von Haar vertretene Gruppenkohärenz einer erweiterten Königsberger Schule sich bewähren wird, ist noch immer offen. Insofern ist meine als Feststellung formulierte Frage von 1989 weiterhin unbeantwortet: dass es nämlich "nur ein gefährlich kleiner Schritt" sei von Rothfels' Revisionsbestrebungen zur "Vorstellung vom [Nationalsozialistischen] Reich als europäische(r) Ordnungsmacht", wie sie Karl Richard Ganzer entwickelte." 1

Über den Rothfels in Großbritannien 1939/40, an der Brown University in Providence, Rhode Island, bis 1945 und an der University of Chicago bis 1951/56 wissen wir im Vergleich zu den anderen Phasen sehr wenig - abgesehen von ein paar Veröffentlichungen zu alten Themen. Bereits 1948 unternahm er seine erste (West-) Deutschlandreise und sprach auf dem ersten Nachkriegs-Historikertag in München, natürlich über Bismarck. Zwei Rufe nach Süddeutschland lehnte er ab; diese beiden Lehrstühle waren vakant, da ihre bisherigen Inhaber nicht entnazifiziert wurden. Erst den dritten Ruf, nach Tübingen, nahm er an; sein Vorgänger Stadelmann war jung und überraschend gestorben. Der Remigrant empfahl sich den "Im-Reich-Verbliebenen" durch strikte Einhaltung der Usancen, wie sie sich 1945/46 entwickelt hatten.

Doch in Tübingen agierte dann eben nicht ein etwas älter gewordener Königsberger Rothfels, sondern der Rothfels, wie er heute noch präsent ist: ein konservativ-liberaler Demokrat und weiterhin Bismarckverehrer, der Gerhard Ritter, seine Kollegen und Antipoden in Freiburg/Br., merkwürdig "links" überholte, der lebende Beweis für eine positive Kontinuität von Weimar über das Exil in die Bundesrepublik, der "Installateur" der Zeitgeschichte als anerkannter historischer Subdisziplin, einer der Väter des Instituts für Zeitgeschichte in München und seiner Reihen, der Initiator historischer Untersuchungen über Politik und soziale Steuerung im Nationalsozialismus, der Mitherausgeber von Großprojekten, der Doktorvater einer Reihe renommierter Schüler, die weit über Rothfels staatsorientierte Geschichtsschreibung hinausgingen, der internationale Repräsentant der westdeutschen Zunft, Träger des "Pour le Mérite", und - für einen gelernten Königsberger eher ungewöhnlich - ein öffentlicher Advokat der Ostverträge 1971/72.

Und Koblenz, das ist die List des Archivars Rothfels gegenüber dem Historiker: denn hier im Bundesarchiv ist eben nicht nur seine Aufbauarbeit in Tübingen und München dokumentiert, sondern auch die politischen und historiografischen Befunde aus Königsberger Zeiten bis zur Flucht nach England, die der gelernte Archivar Rothfels mit wenig Aufwand hätte kassieren können. Hier liegt auch Material, das sich anbietet für die Geschichte eines Vertreters der Frontkämpfergeneration von 1914/18 als Vorgeschichte zur Diktatur von 1933, und zwar am Objekt historischer Forschung namens Rothfels, gewissermaßen ein Exempel der Programmatik des Instituts für Zeitgeschichte.

Was bisher nahezu vollkommen fehlt, ist das, was Rothfels in den USA lernte, erfuhr und praktizierte, obwohl er bis Mitte der 1930er Jahre deren Unmöglichkeit - zumindest für Deutschland - historisch mehr als einmal "bewiesen" hatte: eine sich demokratisch regulierende Bürgergesellschaft. Dabei mag der "Schutz" des für das amerikanische Universitätssystem damals völlig atypisch-elitären Elfenbeinturms in Chicago den Lernprozess sogar gefördert haben. Doch dieses politische Umdenken der westdeutschen Zunft nach 1951 zu vermitteln, das wäre angesichts der fast allerorten glatten personellen Kontinuitäten in der Zunft von 1944 auf 1946 doch zu verwegen gewesen. Rothfels fuhr in der Zunft keinen Kollisionskurs; im Gegenteil, er war Getriebe und Öl im weiterhin praktizierten und zelebrierten "Old Boys' Network". Aber Rothfels bewies gleichzeitig den Mut zum langen Atem. Denn er setzte auf Zeit, auf lange Zeit: zeitlebens auf seine Schüler, die die bundesrepublikanische liberale Historiografie mit aufbauten und die bislang vorherrschende Homogenität ganz allmählich im normalen Generationswechsel aufbrachen, und für die Zeit danach auf die weitere Auswertung von Aktenbeständen, und eben auch seines Nachlasses.

Und hier könnten sich Haar und Winkler auch treffen, in einer etwas weniger verbissenen Analyse eines Mannes mit mehreren Lebensabschnitten, für die offenbar unterschiedliche Spielregeln und Regelveränderungen galten. Doch ist hier auch ein wenig mehr Gelassenheit anzumahnen, schließlich handeln Historiker auch bei widerstreitenden Interpretationsangeboten nur mit "vorletzten Dingen" und nicht mit ewigen Wahrheiten.

Dr. Peter Thomas Walther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Koordinator und Koautor der AG "Universitätsjubiläum 1810-1910" an der der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeits- und Interessengebiete sind Wissenschaftsgeschichte, Historiografiegeschichte, Exilforschung und Stadtgeschichte.

Anmerkungen:

1 Ganzer, Karl Richard, Das Reich als europäische Ordnungsmacht, 6. Aufl. Hamburg 1942, zit. in: Walther, Peter Th., Von Meinecke zu Beard? Die nach 1933 in die USA emigrierten deutschen Neuhistoriker, Ann Arbor, 1989 (Ph.D. Diss., State University of New York at Buffalo, 1989), S. 58, Anm. 56.

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