Forum: Kommentar zu den „Konzeptionellen Überlegungen für die Ausstellungen der Stiftung ‚Flucht, Vertreibung, Versöhnung’

Von
Claus-Dieter Krohn, Hamburg

Den AutorInnen der „Konzeptionellen Überlegungen“ für das künftige Ausstellungsprojekt gebührt Dank und Unterstützung für ihre Initiative. Zu ihren didaktischen Darlegungen über das Verhältnis von illustrierenden modularisierten Mikrogeschichten einerseits und Erkenntnis prägender Makrogeschichte andererseits kann derzeit allerdings angesichts ungewisser Präsentationsmodi und Ausstellungsobjekte nur wenig gesagt werden. Diskutieren lässt sich hingegen die vorgetragene Sicht auf das, was die Ausstellung zeigen soll.

Wenn die Autoren erklären, dass in ihr der von der Stiftung vernachlässigte kategoriale Unterschied zwischen Vertreibungen und dem Genozid an den Juden deutlich werden muss, so ist das wohl selbstverständlich. Zu fragen ist aber, warum sie sich auch in einer anderen Frage von den Planungen der Stiftung und der bereits 2006 realisierten Ausstellung „Erzwungene Wege“ glauben absetzen zu müssen. Dass diese unklare Ausstellung seinerzeit verschiedene Vertreibungen phänomenologisch auf einen Nenner zu bringen suchte und damit valide Einsichten in die NS-bedingten Zwangsvertreibungen verhinderte, erscheint mir als Erklärung nicht hinreichend zu sein. Ohne komparative Perspektiven dürften die historischen Dimensionen der Vertreibungen nach 1945 kaum zu erfassen sein. Sie werden allemal wichtig, wenn man nicht nur auf die Vertreibungen als Prozess mit ihren Ursachen und Erscheinungen, sondern auch auf die Vertriebenen als soziale Gruppen mit ihren Integrationsproblemen, Begegnungskompetenzen und Erinnerungsrekursen eingeht, die die Konzeptionellen Überlegungen zurecht als wichtigen Gegenstand ansehen.

Das Beispiel der drei vorgeschlagenen Städte-Module kann einen solchen Anspruch kaum erfüllen, weil die dort erkennbaren Akkulturationsprozesse dafür zu wenig hergeben. Vergleichende Kenntnisse lassen sich aber auch anders gewinnen, ohne gleich dem Zugriff der Stiftung auf „Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert“ zu folgen und den ursächlichen Fokus der NS-Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik in den Hintergrund treten zu lassen.

Trotz ihrer Reflexionen über die informell oder zwangsweise verlaufenden Homogenisierungsprozesse in den modernen Nationalstaaten und Nationalkulturen thematisieren die Konzeptionellen Überlegungen nirgendwo, dass die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg zwar den Heimatverlust der Betroffenen bedeuteten, dass sich dieser jedoch weitgehend innerhalb vertrauter kultureller, d.h. ebenfalls homogener Räume vollzog. Die deutschen Vertriebenen in Schleswig-Holstein oder Bayern mussten ebenso wenig ihre Muttersprache aufgeben und neue Verhaltensmuster entwickeln wie die Ostpolen, die in großen Einheiten nach Breslau bzw. Schlesien umgesiedelt wurden. Ihre Integrations- und Akkulturationszwänge hielten sich in Grenzen, Identitäten mussten nicht von Grund auf neu justiert werden.

Das zu verdeutlichen, kann der komparative Blick helfen. Dabei könnte daran angeknüpft werden, dass der NS-Staat sogleich 1933 mit seinen Ausgrenzungen aus der »Volksgemeinschaft« begann, durch den in der Folgezeit etwa 500.000 Menschen aus dem Deutschen Reich fliehen mussten. Gerade unter dem Versöhnungsaspekt der Ausstellung wäre ein Hinweis hierauf sinnvoll, da sich diese Flucht alsbald zur europäischen Erscheinung ausweitete, als die deutsche Wehrmacht ab 1938 die Nachbarländer zu überfallen begann. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen werden damit Konturen einer Schicksalsgemeinschaft erkennbar, die die Basis für die künftige grenzüberschreitende Kooperation bieten könnte. Bezogen auf die deutschen Zwangsvertriebenen nach 1933, die zum Teil bis in die letzten Winkel des Erdballs wandern mussten, bedeutete das Exil oder die Emigration in der Regel nicht nur Aufgabe der Heimat, sondern auch Sprach- und damit kulturellen Identitätsverlust sowie existenzielle Entwurzelung.

Trotzdem oder gerade deswegen findet man unter diesen Emigranten, zumal unter den intellektuellen Eliten, sehr häufig einen intensiven, hoch selbstreflexiven Austausch zunächst untereinander, dann auch mit Einheimischen der Zufluchtsländer über die eigene Situation in der Fremde. Also das, was in der Migrationsforschung heute unter dem Begriff der Hybridität gefasst wird, die Auseinandersetzung mit dem Neuen und Unbekannten und das Aushandeln mit den Fremden als Prozesspfad zu neuer Identitätsgewinnung. Dieses Verständnis, das alle auf binären Begriffen beruhende Weltanschauungen zu überwinden sucht, könnte für den Diskurs um die Ausstellungsinhalte orientierend sein. Exemplarisch sollten solche Wahrnehmungs- und Reflexionsprozesse so auch zur Beurteilung von Selbstverständnis und Akkulturation der Vertriebenen nach 1945 herangezogen werden.

Der angesehene Verwaltungsjurist in der Weimarer Republik, Emigrant nach 1933, später bedeutender amerikanischer Politikwissenschaftler und viel gefragter Politikberater in Washington, Arnold Brecht, widerfuhr kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Gastprofessor in Heidelberg ein ihn irritierendes Erlebnis. Er war dort auf eine verzweifelte Ärztin getroffen, die ihm ihr Leid klagte, dass sie in der Fremde leben müsse. Sie kam – vermutlich ausgebombt - aus Mannheim, eine Viertelstunde entfernt, wie Brecht fassungslos anmerkte. Solche Befindlichkeiten, die sich in den Selbstbezogenheiten der Vertriebenendebatte in Deutschland kumulativ verstetigt haben, zu proportionieren und zugleich Anschlussmöglichkeiten heute zu den Denkweisen der jüngeren Generationen im Zeichen von Migration, Europäisierung und Globalisierung zu finden, d.h. bei ihnen als künftige Besucher Bezugsgrößen für eigene Rezeptionssensorien und -interessen zu evozieren, sollte mit zur Konzeption der Ausstellung gehören. Der orientierende Blick auf die deutsche und dann europäische Emigration wäre dafür hilfreich. Er könnte die herrschenden nationalen, binär bestimmten Container-Mentalitäten in versöhnender Absicht überwinden und damit auf andere Weise die in den Konzeptionellen Überlegungen (Punkt 7) erwähnte internationale Dimension des Themas illustrieren.

~~~~
Claus-Dieter Krohn, Prof. für Sozial- und Kulturgeschichte, Promotion 1973, Habilitation 1979, lehrte an der Freien Universität Berlin und bis zum Ruhestand (2007) an der Universität Lüneburg; Mitherausgeber des Jahrbuchs Exilforschung, des Handbuchs der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 (1998) sowie des Biographischen Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933 (1999). Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung in Hamburg, die Forschungsprojekte im Bereich der von den Nationalsozialisten aus Deutschland nach 1933 Vertriebenen finanziell fördert.

~~~~
Die Beiträge zum Diskussionsforum „Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können Sie auf der Webseite von H-Soz-u-Kult einsehen unter der Adresse: http://www.hsozkult.de/index.asp?pn=texte&id=13501350.