Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, östliches Europa - Wahrnehmung und Strukturen im frühen und hohen Mittelalter

Von
Christian Lübke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas

In kultureller Hinsicht gab es im Frühmittelalter eine klare Zweiteilung Europas, wobei dem Fränkischen und Byzantinischen Reich das „Barbaricum“ mit seinen akephalen, aus gleichberechtigten Segmenten bestehenden Gesellschaften gegenüberstand, das weite Teile des östlichen und nördlichen Europa umfasste. Seit dem 9. Jahrhundert verliert diese Trennung jedoch mehr und mehr an Bedeutung: Auch im östlichen Europa bilden sich zentralisierte Gesellschaften mit eindeutigen Herrschaftsstrukturen heraus. Aus Gesellschaften ohne Staat werden dauerhafte, teilweise bis heute existierende Staaten. In diesem Zusammenhang werden die alten Gentilreligionen durch das zentralistisch und hierarchisch organisierte Christentum abgelöst und in der Folge bildet sich die Trennung zwischen römisch-katholischer und orthodoxer Kirche heraus. Der weitere Landesausbau wurde nunmehr auf fürstliche Initiative hin systematisch betrieben.

Als Untersuchungsobjekte der Namenkunde sind Choronyme, die Namen von „Landschaften“, sprachliche Ausdrucksmittel und Bedeutungsträger, deren Entstehung zumeist in einem engen Kontext mit bestimmten geografischen Eigenheiten gesehen wird, denen allerdings im Laufe der Zeit administrative oder politische Kriterien an die Seite traten, sodass sie als „Länder“-Namen mit politischen Einheiten oder Ethnonymen übereinstimmen. Weniger prägnant sind die aus politischen Bedürfnissen entstandenen Bezeichnungen für grenzüberschreitende, mehrere Staaten umfassende Großregionen oder Räume, die sich in ihrer Differenzierung gerne der Himmelsrichtung oder des Attributes „Mitte” bedienen, obwohl es ihnen weniger um die entsprechende geografische Einordnung geht als vielmehr um die Betonung bestimmter Gemeinsamkeiten in Kultur, Wirtschaft und historisch-politischer Struktur. Zu diesen Bezeichnungen gehören die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts populär gewordenen Begriffe „Mitteleuropa” und „Ostmitteleuropa”, und auch Osteuropa gewann erst im 20. Jahrhundert neue und schärfere Aktualität, obwohl die Gegenüberstellung von „Ost” und „West”, von „Orient” und „Okzident” schon viel länger zu den Kriterien einer nicht nur geografischen Unterteilung Europas gehört; ebenso geläufig war aber mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein die Subsumierung der Länder des Ostens unter der Kategorie des „Nordens”. Anders als bei gewöhnlichen Choronymen ist die Reichweite solcher durch Himmelsrichtungen geprägter Namen nicht von vornherein definiert, sondern sie hängt von den individuellen Kenntnissen und Zielsetzungen des Sprechers ab oder sie ist Gegenstand einer spezialisierten, fachwissenschaftlichen Diskussion, deren Verlauf in Bezug auf die „Mitte“ und den „Osten“ hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden soll.

Zu diesen Schlaglichtern gehören spezifisch deutsche Elemente: zuerst die Verwendung von „Mitteleuropa” schon seit den 30er- und 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts als Bezeichnung eines Wirtschaftsraumes, der gemäß dem „Mitteleuropa”-Konzept Friedrich Naumanns schließlich auch westliche Gebiete des Russischen Reiches, zumindest Polen und die baltischen Länder, umfassen sollte; dann die „Ostforschung“, die deutsche Ansprüche auf den „Volks- und Kulturboden” historisch untermauern wollte und in deren Rahmen sich Raumvorstellungen mit der östlichen Perspektive der „Geopolitik” des Nationalsozialismus verbanden. Andere Facetten der Diskussion erwuchsen in Reaktion auf die deutschen Ansprüche: die schon nach dem Ersten Weltkrieg geborene und in den Kriegsjahren 1939-1945 weiterentwickelte Vorstellung eines “Neuen Mitteleuropa” oder „Ostmitteleuropa“, dessen Verwirklichung angesichts des militärischen Übergewichts der Roten Armee in der östlichen Hälfte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg aber in weite Ferne rückte, als die Spaltung Europas in Ost und West für immer zementiert schien. Der Widerstand gegen diese Konstellation wiederum stimulierte, in engem zeitlichen und sachlichen Kontext mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und dem Helsinki-Vertrag, die Renaissance der „Mitteleuropa”-Idee, die sich der im Westen nach und nach verbreiteten Akzeptanz Ostmitteleuropas als Teil des sowjetisch beherrschten Ostens widersetzte und dabei in wachsendem Maße die historische Dimension einer eigenständigen (ost-)mitteleuropäischen Geschichtsregion propagierte.

Diese Perspektive gewann durch die Ereignisse von 1989 in den betroffenen Ländern wachsende Geltung und mündete nahezu einmütig in dem Bekenntnis zur Zugehörigkeit zum Westen, zu “Mitteleuropa”. Angestoßen zudem durch zahlreiche Millenniumsfeierlichkeiten in den Jahren um 2000, brachte man in Publizistik und Politik weit ins Mittelalter zurückreichende historische Wurzeln und Traditionen als Argumente ins Spiel. Dabei haben sich die Geschichtswissenschaft und ihre Nachbardisziplinen den „historischen Raumbegriff Ostmitteleuropa” schon länger zu eigen gemacht und dabei festgestellt, dass dieses „Wort in der Tat geeignet [ist] zur Kennzeichnung einer Region, die durch historische Merkmale als ‚Teil Europas von spezifischer Eigenart‘ abzugrenzen ist”, wobei die „spezifisch ostmitteleuropäische Problematik […] mit den mittelalterlichen Ursprüngen des geschichtlichen Raumes verbunden” ist (Klaus Zernack). Um zu dieser Einsicht zu gelangen, bedürfe es, wie Werner Conze formulierte, einer besonderen Kombination von siedlungs- und strukturgeschichtlichen Methoden, denn „die Besiedlung und die Siedlungsverbreitung zu erklären, heißt [dann] zugleich, die politisch-sozialen Strukturen zu entdecken und solcherart sich schließlich doch auch wieder den Entscheidungen und Wandlungen der politischen Geschichte zuzuwenden. Gehen wir siedlungs- und strukturgeschichtlich vor, so kommen wir nicht nur den Ursachen für die nationalen Spannungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf die Spur, sondern gelangen auch zu den politischen und sozialen Indikatoren des in Frage stehenden Raumes bis zu den Anfängen im 9. und 10. Jahrhundert”.

Die „struktur- und kulturgeschichtlichen Langzeitdimensionen eines ganzen Jahrtausends” als Determinanten der „historischen Programmatik“ des „Geschichtsraumes” Ostmitteleuropa nahm auch die von dem ungarischen Historiker Jenö Szücs verfasste, international stark beachtete Studie über „Die drei historischen Regionen Europas” in den Blick. Szücs unterschied darin die Regionen Westeuropa, Ostmitteleuropa, Osteuropa, und Fernand Braudel deutete dies in seiner Einleitung zur französischen Ausgabe überspitzt sogar als Interpretation von „drei Welten”. Für Szücs war die historische Dimension vor allem in der erstaunlichen Kontinuität der westlichen Grenzlinie Ostmitteleuropas an Elbe und Leitha geborgen, die zunächst die östliche Grenze des karolingischen Reiches markierte, um 1500 das östliche Europa als Gebiet der „zweiten Leibeigenschaft” vom Westen abtrennte und 1945 den Kontinent in zwei Lager spaltete. Nach Osten hin definiere sich, so Szücs, Ostmitteleuropa als „Zone der Reichweite” bestimmter Phänomene, nämlich durch Romanik und Gotik, Renaissance und Reformation, autonome Stadt, korporative Freiheit und ständische Struktur, und tatsächlich erscheint die Projektion bestimmter Strukturen und Elemente, die im Laufe der Geschichte in der Region geprägt wurden, auf die Landkarte als ein geeignetes Mittel der Verbildlichung der historischen Raumes.

Allerdings ist das (kartografische) Herausstellen bestimmter quellenmäßig gut fassbarer Phänomene im Grunde nicht in der Lage, Verständnis für den wechselhaften Verlauf der historischen Großregion des „östlichen Europa” insgesamt zu wecken, in der bestimmte Gebiete zeitweise enger zusammenrückten, sich aber in anderen Epochen deutlicher unterschieden. Man könnte ein von dem Sozialanthropologen Arnold van Gennep in seinem Buch über die „Übergangsriten” („Rites de passage”) benutztes Bild auf das östliche Europa anwenden, mit dem er die Entwicklung ursprünglich voneinander geschiedener menschlicher Gruppen zu einer gemeinsamen zivilisierten Gesellschaft illustrieren wollte. Diese Gesellschaft sei mit einem in Zimmer und Flure unterteilten Haus zu vergleichen; ursprünglich waren die einzelnen Räume sorgfältig voneinander isoliert und der Übergang von einem zum anderen nur mit Hilfe aufwendiger Formalitäten und Zeremonien zu bewerkstelligen. Im weiteren Verlauf des Zivilisationsprozesses allerdings wurden die Trennwände dünner und die Türen der Kommunikation öffneten sich. Allerdings, so zeigt die Geschichte des östlichen Europa, konnten die Türen auch wieder undurchlässiger und bestimmte Flure von einer gemeinsamen Entwicklung abgeschlossen werden.

Die für die Darstellung eines solchen Prozesses notwendige Rückschau des Historikers sollte dort einsetzen, wo eine dem Betrachter erschließbare kontinuierliche Entwicklung begann. Die Nachrichten antiker Autoren über die im Osten des Römischen Reiches siedelnden Germanen und andere Barbarenstämme können deshalb im Wesentlichen noch außer acht bleiben, es sei denn, man hebt hervor, dass das östliche Europa zweifellos nicht oder nur peripher zur Reichweite römischer Zivilisation gehörte (mit Ausnahme der römischen Provinzen im Donauraum und an der östlichen Adriaküste). In kultureller Hinsicht gab es also im frühen Mittelalter eine Zweiteilung des Kontinents, wobei sich das Barbaricum über weite Teile des östlichen und nördlichen Europa erstreckte und im Vergleich zum Fränkischen und Byzantinischen Reich eine Art von politischer „Grauzone“ (Alexander Gieysztor) bildete. Mit der Aufhebung der kulturellen Unterschiede im Laufe des frühen und hohen Mittelalters ist die Formierung Ostmitteleuropas auf das engste verbunden.

Wenn vielleicht auch nur durch einen Mangel an zuverlässigen Quellen verursacht, kann also die erste Kennzeichnung Ostmitteleuropas, nämlich die Nicht-Zugehörigkeit zur römischen und frühchristlichen Welt, nur eine negative sein. Diese Situation änderte sich zur Mitte des ersten Jahrtausends, als die schriftlichen festgehaltenen Nachrichten über die Bewohnern des östlichen Europa zahlreicher wurden und allmählich eine sprachliche, nämlich vor allem slawische Homogenität spürbar wurde, die bis heute die Mehrzahl der Bewohner des östlichen Europa verbindet. Dass die slawische Sprache zeitweise sogar weit westlich der Flüsse Elbe und Saale lebendig war, wird durch die Ortsnamen ebenfalls noch bis heute bezeugt. Schließlich setzte sich damals, wie die Archäologie nachgewiesen hat, eine flächenmäßig dominante materielle Kultur durch, ein „slawisches Kulturmodell“, das auf den drei Säulen Grubenhaus, Keramik vom Prager Typ und Brandbestattung basierte; die mit diesen Elementen verbundenen Menschen betrieben hauptsächlich Landwirtschaft. Die Gültigkeit der genannten Elemente darf zwar nicht uneingeschränkt verallgemeinert werden – zu bedenken sind vor allem das Fortleben und die Integration germanischer Gruppen und die Zuwanderung und politisch-militärische Dominanz turksprachig-nomadischer Völker im Südosten; gleichwohl ist ihre Effizienz und Produktivität unbestritten.

Auch in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht unterschied sich das östliche Europa ganz erheblich von den westlichen und mediterranen Teilen des Kontinents. Während von den germanischen Herrschaftsbildungen auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reiches eine allmähliche Konzentration zum Dualismus von weströmisch-fränkischem und byzantinischem Kaisertum führte, behielt die frühe Beschreibung der als slawisch bezeichneten Gesellschaften durch Prokop von Caesarea aus dem 6. Jahrhundert im Großen und Ganzen bis ins 9. Jahrhundert hinein ihre Geltung: Sie würden „nicht von einem Mann regiert”, sondern lebten „seit alters her in einer demokratischen Ordnung”. Die weitgehende Gültigkeit dieser Feststellung wird auch nicht durch die Tatsache aufgehoben, dass in den folgenden Jahrhunderten einige slawische Heerführer und Fürsten aus der Berichterstattung der byzantinischen oder fränkischen Nachbarn hervortraten. Für die Charakterisierung der damaligen politischen Verhältnisse bietet sich vielmehr die Anwendung der Begriffe „Gesellschaft ohne Staat” oder „akephale Gesellschaft” an, als deren wesentliches Strukturmerkmal das gleichrangige Nebeneinander von Verwandtschaftsgruppen angesehen wird, die vergleichbar den Segmenten einer Zitrusfrucht kompakte und homogen unterteilte gesellschaftliche Integrate bilden, so dass man auch von „segmentären“ Gesellschaften sprechen kann. Diese können sich, wie die vergleichende Sozialanthropologie veranschaulicht hat, sowohl in ihrer strukturellen Reproduktion wie in ihrer geografischen Expansion als dynamisch erweisen, als „Übergangsgesellschaften” Herrschaftsstrukturen hervorbringen und sich in zentralisierte Gesellschaften transformieren (Christian Sigrist). Die segmentären Gesellschaften des östlichen Europa treten besonders deutlich in einer Liste von Völkerschaften „am nördlichen Ufer der Donau” aus der Mitte des 9. Jahrhunderts hervor, bei dem so genannten Bayerischen Geografen; sie unterschieden sich durch das Fehlen der überregionalen, administrativen „Staatlichkeit” deutlich von den beiden Imperien in der Tradition des Römischen Reiches. Dies galt auch für die südosteuropäischen Reichsbildungen des frühen Mittelalters (bei den Avaren und Protobulgaren), die weniger den Herrschaftsanspruch über fest umgrenzte staatliche Gebilde durchsetzten als vielmehr die Tributleistungen der unterworfenen Bevölkerungsgruppen. Die auf diese Weise erkennbare „Grauzone” zeichnete sich zudem durch eine gewisse Deckungsgleichheit mit den sprachlichen und religiösen Verhältnissen aus, das heißt mit dem Slawentum und dem gentilen Heidentum.

Zwei Faktoren, die miteinander korrespondierten und ihre Wirkung gegenseitig verstärkten, haben seit dem 9. Jahrhundert den Anstoß zu einem Wandel dieser Verhältnisse gegeben, der je nach Region in unterschiedlichem Tempo voranschritt. Zum einen war dies die aus dem Inneren sich entwickelnde Transformierung der akephalen Stammes-Traditionen zu zentralisierten Gesellschaften mit eindeutigen Herrschaftsstrukturen, die im Zusammenhang mit gewaltsamen Ereignissen in Erscheinung trat: Kriege an den Grenzen zu den beiden Kaiserreichen, Beutezüge nomadischer Nachbarn, Errichtung von Tributherrschaft, militärische Sicherung der Handelswege und der daraus gewonnenen Profite. Zum anderen handelte es sich um das stetige Anwachsen von Einflüssen, die von außen auf das östliche Europa einwirkten und als deren geschichtswirksamstes Mittel sich schließlich die Christianisierung erwies. Als eine Art Medium, durch das sich die fremden Einflüsse ihren Weg bahnten, sind die für die Peripherie und Fernhandelswege im Barbaricum typischen multiethnischen Handelsplätze anzusehen (dazu zählten schon die großmährischen Zentren, weiter im Ostseegebiet Reric, Haithabu, Birka, Wollin, Truso sowie an den transkontinentalen Handelswegen Alt Ladoga, Rjurikovo Gorodišce, Bolgar, Kiev, Prag u.a.). Gastfreundschaft und ein hohes Maß an Toleranz in religiöser und ethnischer Hinsicht, wie sie auf den westlichen Märkten damals schon nicht mehr existierten, waren charakteristische Merkmale dieser Plätze, wohin vor allem die Interessenten und Anbieter aus dem Osten kamen.

Unter diesen Bedingungen wuchsen im östlichen Europa frühe Zentren und Zentralregionen durch militärische Expansion, Sicherung von Einnahmen aus dem Handel und fürstliche Tributherrschaft zu machtvollen Gebilden heran: Polen, Böhmen, Ungarn und die Kiever Rus’. Das wichtigste Machtmittel ihrer Fürsten war ein zunächst aus Beute und Tributen entlohntes ständiges Heer, die militärische Gefolgschaft (družina). Als aber die expandierenden Staaten aneinanderstießen – so geriet beispielsweise Polen mit Böhmen in Konflikt um Schlesien und Kleinpolen, mit Ungarn um Mähren, mit dem Reich um die Lausitzen und mit der Rus´ um die Cervenischen Burgen – und die regelmäßigen Einnahmen für den Unterhalt der družina ausblieben, waren sie gezwungen, neue Einnahmequellen zu erschließen, das heißt, die Staaten auch im Innern zu konsolidieren. Die Phasen von Expansion und Konsolidierung brachten eine ganze Reihe von Umwälzungen, die insgesamt einen Wandel von Gesellschaften ohne Staat zu dauerhaften, bis heute existierenden Staaten bewirkten.

Diese letztlich zwar gelungene Umstellung bewirkte jedoch in allen neuen Staaten des östlichen Europa auch schwere Krisen, in denen sich den traditionellen Eliten der gentilen Gesellschaften noch einmal die Chance zu einer Renaissance eröffnete; dies betraf auch die Reaktivierung der alten Glaubensvorstellungen, die durch die Koalition zwischen Fürstenmacht und Christentum zunächst ins Abseits gedrängt worden waren. Wahrscheinlich verursachte die weitgehende Missachtung der traditionellen Gesellschaftsschichten eine in Form heidnischer Reaktion ausbrechende Gegenbewegung. In der Kiever Rus’ wurde sie nach der ersten Annahme des Christentums durch die Fürstin Ol’ga mit den expansiven Kriegszügen ihres heidnisch gebliebenen Sohnes Svjatoslav eingeleitet, der 972 im Kampf gegen die Pecenegen fiel. Infolge der überzogenen, nunmehr gescheiterten Expansionspläne Svjatoslavs war das Kiever Fürstentum in den 70er-Jahren des 10. Jahrhunderts von einer dynastischen Krise und von heidnischer Reaktion betroffen. Es folgte Böhmen, wo die Krise durch den Verlust Schlesiens und Kleinpolens an die Piasten eingeleitet wurde, wodurch die Prager Fürsten die Kontrolle über den Fernhandelsweg nach Kiev und die damit verbundenen Einkünfte weitgehend einbüßten. Hier kulminierten die inneren Wirren in der Ermordung der Slavnikiden, der Familie des heiligen Adalbert von Prag, und in dem gewalttätigen Zwist innerhalb der premyslidischen Fürstenfamilie in der Zeit um die Jahrtausendwende. Das durch Boleslaw von Polen geschaffene Großreich der piastischen Fürsten konnte seine Grenzen auf Dauer nicht verteidigen und zerfiel innerhalb kürzester Zeit, als es unter Mieszko II. einem von Westen und Osten gleichzeitig geführten Zweifrontenkrieg ausgesetzt war; Kirchen- und Staatsorganisation in Polen waren danach dem vollständigen Verfall preisgegeben. Schließlich entfaltete kurz darauf, nach dem Tod König Stefans, auch in Ungarn ein heidnischer Aufstand solche Kraft, dass die Fürstenherrschaft der Árpadendynastie ernsthaft ins Wanken geriet. Zu ergänzen ist, dass sich im westlichsten Siedelgebiet der Slawen, im Vorfeld des Fränkischen und Ottonischen Reiches, fürstliche Herrschaft über ein größeres Territorium auf Dauer gar nicht erst entfalten konnte. Das lag nicht nur an den Interventionen der Franken und Sachsen, vielmehr sorgte der antifürstliche Bund der Lutizen nach dem erfolgreichen Slawenaufstand vom Jahr 983 dafür, dass die traditionelle gentile Lebensweise und Religion bis ins 12. Jahrhundert erhalten blieben.

Insgesamt aber konnte die heidnisch-gentile Reaktion den eingeleiteten Wandel nicht mehr rückgängig machen. Dieser Wandel betraf erstens die gesellschaftliche Verfassung: An die Stelle ziemlich gleichberechtigt nebeneinander stehender politisch-gesellschaftlicher Segmente trat die schließlich unumstrittene fürstliche Alleinherrschaft über territoriale Einheiten. Zweitens erfolgte ein radikaler Wandel im Kultus. Die alte Gentilreligion mit einer Vielzahl von lokalen und regionalen Heiligtümern und Hausgöttern wurde durch das zentralistisch und hierarchisch organisierte Christentum abgelöst, welches Anspruch auf alleinige Gültigkeit erhob. Schließlich ist ein weitgehender Austausch der Eliten des Staates, der unmittelbaren Umgebung der Fürsten zu beobachten. Sie stammten nur zum Teil aus der alteingesessenen Bevölkerung, aus der Gruppe der Repräsentanten der beim Bayerischen Geografen genannten segmentären Einheiten (civitates), zum anderen Teil aber handelte es sich um neue, von außen herbeigeholte Bevölkerungselemente.

Im Rahmen der skizzierten Entwicklungen in der ehemaligen „Grauzone” kristallisierte sich an der ersten christlichen Jahrtausendwende so etwas wie ein „östliches Mitteleuropa” zunächst aber nur dadurch heraus, dass die Kiever Rus’ der griechischen Kirche angegliedert wurde und sich deshalb eine Abgrenzung der römischen Kirche nach Osten hin ergab; ein religiöser Gegensatz existierte daneben auch an den Grenzen zu den heidnischen Balten, Elb- und Ostseeslawen. Das damals zur römischen Kirche zählende Gebiet gliederte sich in seinem Innern, auch durch die Reichweite seiner Bistumsgrenzen, in die im Laufe des 10. Jahrhunderts erwachsenen Staaten Polen (Erzbistum Gnesen), Böhmen (Bistümer Prag und Olmütz) und Ungarn (Erzbistum Gran), wozu noch das im 10. Jahrhundert vereinte Kroatien gerechnet werden kann, das jedoch im 11. Jahrhundert zu einem Teil des ungarischen Königtums wurde. Grundsätzlich gehört auch das Gebiet der Elbslawen (Erzbistum Magdeburg) zu einem so verstandenen Ostmitteleuropa, zumal sein zukünftiges Schicksal nach dem Aufstand der heidnischen Lutizen gegen die Reichsherrschaft um die Jahrtausendwende noch nicht absehbar war.

Zur Demonstration des Image-Wandels, der Entstehung eines neuen Erscheinungsbildes der Welt jenseits der fränkisch-deutschen Reichsgrenzen, ist die Pilgerreise Kaiser Ottos III. an das Grab des heiligen Adalbert am besten geeignet, dessen Leben und Wirken die lebhaften „ostmitteleuropäischen” Verbindungen jener Zeit verkörpern. Der Leichnam dieses böhmischen Märtyrers, des vormaligen Prager Bischofs, war von Boleslaw von Polen von den heidnischen Prußen erworben und an seiner Residenz in Gnesen bestattet worden, von wo ihn vier Jahrzehnte später die Böhmen nach Prag entführen sollten. Adalberts Bruder Radim-Gaudentius nahm das Amt des Erzbischofs in Gnesen ein, sein Schüler Anastasius-Ascericus besetzte den Erzbischofsstuhl im ungarischen Gran. Zwar war Adalberts christlich-elitäre Lebensweise mit Sicherheit in der Praxis auf wenige Personen begrenzt, doch prägte sie im Westen das Bild einer neuen, nun nicht mehr barbarischen Sclavinia, die im Widmungsbild des Aachener Evangeliars Ottos III. als vierte huldigende Provinz neben Gallia, Germania und Italia erscheinen konnte. Otto III. stellte eine Urkunde in Sclavania in civitate Gnesni aus und spielte damit auf die bedeutende Stellung Boleslaw Chrobrys nicht nur in Polen, sondern im gesamten östlichen Europa an.

Die skizzierte Entwicklung bis zum Ende des ersten Jahrtausends unter Einbeziehung der Kiever Rus’ zeigt, dass es die im Wesentlichen gleichen Bedingungen waren, die den Wandel der ehemaligen „Grauzone” im östlichen Europa bestimmten. Die jeweilige geopolitische Nähe zum westlichen oder östlichen Imperium und im Fall der Ungarn auch die Nachbarschaft zu den Steppenvölkern hatten bis dahin noch keine wirklich differenzierende Wirkung. Dies wird etwa an den dynastischen Heiratsbeziehungen deutlich, die zwar eine gewisse Konzentration auf das östliche Mitteleuropa erkennen lassen, aber ebenso die Einbindung der Rus’ und der ganzen Region in die gesamteuropäische Mächtepolitik widerspiegeln. Diese Konstellation blieb noch mindestens bis in die 70er-Jahre des 11. Jahrhunderts erhalten, als Großfürst Izjaslav von Kiev von seinen Brüdern Svjatoslav und Vsevolod vertrieben wurde (1073) und mit seiner Familie nach Polen sowie weiter zu Kaiser Heinrich IV. floh, ja schließlich – als Preis für die Unterwerfung unter den Apostolischen Stuhl – sogar die Unterstützung Papst Gregors VII. erlangte. Erst längerfristig orientierten sich die strukturell ähnlichen Gesellschaften des östlichen Europa in kultureller Hinsicht in zwei verschiedene Richtungen, und das Bewusstsein für den Unterschied zwischen den „Lateinern” und den „Rechtgläubigen” wurde geschärft. Schließlich aber sprach bereits Bischof Matthäus von Krakau in einem Brief an Bernhard von Clairvaux davon, dass die Ruthenia quasi est alter orbis.

Auf dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen traten schon seit Beginn des 11. Jahrhunderts eine Reihe von Elementen deutlich hervor, die für die folgenden Jahrhunderte prägend blieben und die im Folgenden überblicksartig dargestellt werden sollen. Sie galten für die drei ostmitteleuropäischen Kernstaaten Polen, Böhmen und Ungarn, zum Teil auch für die Kiever Rus´, wo parallele Strukturen sichtbar sind:

1. An der Spitze Böhmens, Polens und Ungarns standen mit den Premysliden, Piasten und Árpaden Fürstendynastien, denen es gelungen war, sich die unumstrittene Anwartschaft auf den Fürstenthron zu sichern. Thronstreitigkeiten gab es nur innerhalb der Familien. Die Premysliden regierten in Prag bis 1306, die Piasten in Polen bis 1370, die Árpaden in Ungarn bis 1301. Da Mitglieder ihrer Familien – Boleslaw Chrobry in Polen, Vratislav II. in Böhmen und Stefan I. in Ungarn – auch erstmals in den Besitz der Königswürde gelangten, spielten die Dynastien für die ideologische Festigung ihrer regna eine entscheidende Rolle, die durch die Verehrung der „politischen”, dynastischen Heiligen (vor allem Wenzel in Böhmen und Stefan in Ungarn) zusätzlich gestärkt wurde. Gleichzeitig propagierte das Personal der Kirche, das zunächst praktisch geschlossen aus dem Ausland kam, die ideologische Basis für den dauerhaften Bestand der neuen Staaten: die Vorstellung einer unauflöslichen Einheit von Gott, Fürstendynastie und Land (mit seinen Bewohnern). Dem widersprach im Grunde auch nicht das Seniorat als Erbfolgeprinzip, wodurch andererseits jedoch die Weichen für die Aufspaltung in Teilfürstentümer gestellt wurden. Davon besonders betroffen war Polen, das insofern, zumindest oberflächlich betrachtet, eine mit der Kiever Rus´ erstaunlich deckungsgleiche Entwicklung durchlief: In der Rus’ gab das Testament Jaroslav Mudryjs 1054 den Anstoß hierzu, in Polen das Testament Boleslaw Krzywoustys 1138. Natürlich hatten die Rjurikiden in der Rus´ eine ebenso unbestrittene Führungsrolle wie die ostmitteleuropäischen Dynastien. Auch hier wurden zwei Mitglieder der Dynastie, Boris und Gleb, zu heiligen Märtyrern stilisiert.

2. Die Fürsten regierten gemäß dem ius ducale, das sie mit Hilfe einer von ihnen eingesetzten Administration durchsetzten, an deren Spitze die Kastellane standen, hohe fürstliche Beamte, die ihre Sitze in den wichtigsten Burgen hatten (in Ungarn Komitatsburgen) und denen es gelang, sich allmählich fürstliche Rechte über die dienstpflichtige Bevölkerung anzueignen; auf diesem Weg kam es, trotz des im Vergleich zu Mittel- und Westeuropa weitgehenden Fehlens von Grundherrschaft und Lehnsystem, zu einem „Prozeß der Territorialisierung der staatlichen Kriegerschicht” (Klaus Zernack). Für den so herausgebildeten Adel spielten die direkten Beziehungen zum König nach wie vor eine wichtige Rolle, doch wuchs gerade von hier auf dem Weg „transpersonaler Staatsvorstellungen” das adlige Selbstverständnis einer „politischen Nation”. Dagegen blieb der „Gefolgschaftscharakter” mit einer stärkeren personalen Bindung an die zahlreichen Mitglieder der Rjurikidendynastie in der Rus´ noch viel länger erhalten.

3. Die abgabe- und dienstpflichtige Bevölkerung war in ein flächendeckendes System einbezogen, in die von der Forschung so genannte „Dienstorganisation”, die an die fürstlichen Burgen und Wirtschaftshöfe gebunden war. Dieses System spiegelt sich bis heute in einer Vielzahl von „tätigkeitsbezeichnenden” Toponymen wider, die bis heute prägende Bestandteile der Namen-Landschaften aller drei Länder sind. In Ungarn stehen dabei neben den ungarischen „Dienstnamen” ebenfalls slawische Namen, was verdeutlicht, dass es in allen drei Ländern ein slawischsprachiges Bevölkerungssubstrat gegeben hat.

4. Die drei Länder gehörten der römisch-lateinischen Kirche an und verfügten über eine eigene landeskirchliche Organisation, das sind die Erzbistümer Gnesen in Polen und Gran in Ungarn. Die böhmische Kirche, das heißt die Bistümer Prag und Olmütz, blieben zwar formell im Verband der Mainzer Metropolie, und zwar bis zur Gründung des Erzbistums Prag im Jahr 1344, in der Praxis war aber auch die böhmische Kirche unabhängig. Der Mainzer Erzbischof ernannte stets die von den Premysliden bestimmten Bischöfe.

5. In Administration, Militär und Kirchenorganisation waren in bedeutendem Maße Personen einbezogen, die von außerhalb zuwanderten und in die Gesellschaften der neuen Staaten integriert wurden. Sie erhielten zunächst keine Ausstattung mit Land, sondern wurden von den Fürsten direkt entlohnt oder überwiegend mit Posten in der Verwaltung versehen, wodurch eine enge Bindung zwischen dem Fürsten und seinen Ministerialen bestehen blieb. Im Laufe der Zeit traf die Gewohnheit, Ämter an Fremde zu verteilen, aber auf den wachsenden Widerstand der Einheimischen.

Eine Sonderrolle spielte das Gebiet der Elbslawen, wo es nicht zu autochthonen, dauerhaft eigenständigen dynastischen Herrschaftsbildungen gekommen ist. Wohl aber wuchs seit dem 10. Jahrhundert eine enge Verzahnung deutscher, vor allem sächsischer Adelsgeschlechter mit den Elbmarken, wo sich die Ottonen eine ähnliche Machtfülle versprachen, wie sie Premysliden, Árpaden und Piasten in ihren regna hatten. Das in Magdeburg gegründete Erzbistum (968) sollte gemäß ursprünglichem Plan alle jenseits von Elbe und Saale siedelnden gentes erfassen, also weit nach Osten reichen. Den Markgrafen in den Elbmarken standen, wie sonst nirgends im Reich, Burgen und militärische Einheiten als Machtbasis zur Verfügung. Für die historische Entwicklung Ostmitteleuropas erlangte das Markengebiet aber vor allem deswegen Bedeutung, weil hier zuerst neue Methoden des Landesausbaus angewandt und das slawische Bevölkerungssubstrat durch Siedler aus dem Westen ergänzt wurde. Der erste gut bezeugte Träger dieses Landesausbaus, Wiprecht von Groitzsch, kann gewissermaßen als eine Symbolfigur für die bereits zuvor entstandene, nun aber von neuen Strukturen erfasste deutsch-slawische Kontaktzone, die „Germania Slavica”, gelten. Wiprecht selbst hatte slawische Vorfahren und stand in engen und freundschaftlichen Beziehungen zum Prager Fürstenhof. Die an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert einsetzende Kolonisationsphase im östlichen Europa durchlief in den Elbmarken ihre erste Etappe. Sie fand ihre Fortsetzung am westlichen Rand des schon ausgebildeten Staates der Polen, wo mit Ostbrandenburg, Schlesien, Pommern und schließlich Preußen ostdeutsche Landschaften entstanden. Im Vergleich zu den deutschen „Altstämmen” hat die geschichtliche Entwicklung der Germania Slavica insgesamt eine ganz andere Richtung genommen, was ihre Einordnung in den ostmitteleuropäischen Zusammenhang rechtfertigt.

Für das gesamte Ostmitteleuropa, wo durch fürstliche Initiativen bereits seit der Jahrtausendwende landwirtschaftliche und handwerkliche Spezialisten und Kriegsgefangene angeworben und angesiedelt worden waren, bedeutete der hoch- und spätmittelalterliche Landesausbau mit der Einführung des ius Theutonicum nach Christianisierung und Staatsbildung eine weitere, diesmal ökonomische und rechtliche Vereinheitlichung des Gesamtraumes, die allerdings zugleich die Eigenständigkeit einzelner Territorien stärkte und dadurch, gewissermaßen als gegenläufige Tendenz, die „Gesamtstaaten” schwächte. Dieser umfassende, dabei zugleich komplexe und in den verschiedenen Landschaften unterschiedlich verlaufende Prozess des 13. und 14. Jahrhunderts bedeutete Modernisierung und wirtschaftliche Intensivierung, kurz „Verdichtung und Ausweitung” (Werner Conze) in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Die weit voranschreitende „Ostkolonisation” ist von Klaus Zernack vor einigen Jahren als ein von West nach Ost fortschreitender universalgeschichtlicher Prozess der Akkulturation und Verwestlichung der östlichen Hälfte Europas gedeutet worden, der sich nach Osten hin bis zur Kolonisation der sibirischen Wälder durch ostslawische Bauern fortsetzte. Die Deutungsmuster in der Historiografie der ostmitteleuropäischen Länder setzen zumeist einen anderen Akzent. Demnach hat, um mit Jenö Szücs zu sprechen, „Osteuropa [...] das mittelalterliche Werk Europas kaum vollendet, ja es wurde sogar verstümmelt”. Der russische Staat habe vielmehr aus einer heterogenen Materie zwischen dem Weißen und dem Schwarzen bzw. Kaspischen Meer sowie zwischen Polen und dem Ural ein eigenes homogenes Gebilde geformt, “Osteuropa” eben. Dagegen fand das östliche Mitteleuropa den Anschluss an das „große” 13. Jahrhundert des Westens mit seinen „Strukturveränderungen, in denen die Dualität von Staat und Gesellschaft in dieser oder jener Gewichtung laufend präsent war”. Agrarrevolution und Entstehung von Stadtkultur, Autonomie der Stadt und der Stadtwirtschaft sowie Intensivierung des Warenaustauschs auf der Basis eines einmalig dichten Städtenetzes – das sind in Szücs’ Sicht die entscheidenden Elemente, und tatsächlich ist die Erstreckung des mittelalterlichen Ostmitteleuropa an der Verbreitung der privilegierten Rechtsstadt am besten abzulesen.

Dennoch zeigt gerade die Projektion der Rechtsstädte, dass die gesellschaftliche Realität nicht anhand der kartografischen Verteilung von Punkten analysiert werden kann. Szücs selbst hat diesen Widerspruch deutlich empfunden und daher betont, dass das „Wesen” in erster Linie zwar in der Struktur zu fassen sei, zugleich aber einschränkend bemerkt: „Zieht man nur die Grundelemente in Betracht und stellt jede Detailfrage zurück, scheint es gerechtfertigt zu sein, bereits im Mittelalter den Begriff ‚Ostmitteleuropa’ für diese Region anzuwenden: Sie richtete sich zwar nach westlichen Modellen und Normen, aber in einem osteuropäischen Medium. Natürlich gab es Unterschiede in der Schattierung: Böhmen ist um einen Grad ‚westlicher‘, Kroatien zeigt um einen Grad archaischere Formen als Ungarn, das Polen hingegen wiederum sehr ähnlich ist.”

Mit Hilfe der – von Szücs zu Recht kritisierten – oberflächlichen Beachtung lediglich der „Grundelemente” wäre es sogar möglich, ein politisch vereintes Ostmitteleuropa darzustellen: unter der Königsherrschaft Wenzels III. nämlich. Dieser, zuvor schon König von Ungarn, folgte am 21. Juni 1305 seinem verstorbenen Vater Wenzel II. auf den böhmischen und den polnischen Thron, so dass er die drei Königreiche in einer Hand vereinte. Allerdings dauerte diese Konstellation nur wenige Wochen, von Juni bis August 1305. Am 5. August schloss Wenzel einen Friedensvertrag mit Albrecht von Habsburg, der seinen Verzicht auf Ungarn vorsah; fast genau ein Jahr später fiel er einem Mordanschlag zum Opfer, der auch die dynastische Vereinigung von Böhmen und Polen zunichte machte. Die Böhmen übergreifende Königsherrschaft Wenzels blieb also zwar eine Episode, die keine strukturbildende Wirkung hatte, aber in manchem scheint sie doch eine spätere Entwicklung vorweggenommen zu haben, die auf der Basis der vorhandenen ostmitteleuropäischen Gemeinsamkeiten zur Ausbildung paralleler Verfassungsformen führte, in denen der Adel ein starkes politisches Gewicht erlangte. Infolge dieser Partizipation des Adels konnte schließlich noch einmal eine politische Vereinigung der ostmitteleuropäischen Kernstaaten fassbar werden, dann aber bereits erweitert um das Großfürstentum Litauen: Am Ende des 15. Jahrhunderts besaßen die Jagiellonen in Person der Könige Kasimir Andreas IV. von Polen (1447-1492) und seiner Söhne Vladislav II. von Böhmen (1471-1516) und Ungarn (1490-1516) sowie Johann Albrecht (1492-1501) und Alexander (1501-1505) von Polen die Königsthrone in Polen, Böhmen und Ungarn.

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