"Halbjuden" als Verfolgte des NS-Regimes

Von
Sonja Grabowsky

Ich recherchiere zurzeit für meine Doktorarbeit zum Thema "Halbjuden" als Verfolgte des NS-Regimes. Verfolgungserfahrungen im Spiegel von drei Generationen.

Obwohl die Forschungs- und Erinnerungsliteratur zur Verfolgung von Juden im NS-Staat mittlerweile unüberschaubar ist, so sind die Erfahrungen der in der NS-Terminologie so genannten „jüdischen Mischlinge“, auch als „Halbjuden“ bezeichnet, kaum beachtet worden. Nimmt man die Zahl der Veröffentlichungen zum Maßstab, dann ist der Kenntnisstand zu diesem Thema von wenigen biographischen Texten, wie die von Anja Lundholm, Michael Wieck, Cordelia Edvardson und Ralph Giordano abgesehen, also vergleichsweise gering.

In der Untersuchung sollen erstens die Verfolgungserfahrungen von "Halbjuden" im NS-Staat dargestellt werden. Darüber hinaus soll zweitens die Tradierung dieser Erfahrungen innerhalb der jeweiligen Familien nach 1945 verdeutlicht werden. Basis dieser Fragestellung sind lebensgeschichtliche Interviews. Zunächst einmal sollen die Lebensgeschichten von mindestens einem Mitglied jeder Generation erfragt werden. Nach den Einzelinterviews ist es geplant, die Familienmitglieder zu einem Familiengespräch zusammenführen.

Im Gegensatz zur Mehrheit der bisher erschienen Publikationen, die sich durch die Untersuchung einzelner Organisationen, Behörden und Strukturen und der Gesetzgebung auszeichnen, existieren mittlerweile auch einige Studien, sie sich systematisch mit der Opferseite befassen. Dies sind vor allem die Studien von Franklin A. Oberlaender (Oberlaender, 1996), Cathy Gelbin und Eva Lezzi (Gelbin/Lezzi, 1998) und Beate Meyer (Meyer, 1999).

Eine wichtige Vergleichsgruppe für meine beiden skizzierten Fragestellungen sind die Holocaust-Erfahrungen der so genannten Volljuden. Im Hinblick auf die Frage einer intergenerationellen Übertragung von Folgen des Holocaust beschäftigten sich die meisten psychologischen Untersuchungen mit der zweiten Generation der Überlebenden, also den Kindern. Siehe diesbezüglich vor allem die Veröffentlichungen von Kurt Grünberg und Jürgen Straub (Grünberg/Straub, 2001), Gertrud Hardtmann (Hardtmann, 1992), Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy und Judith S. Kestenberg (Bergmann/Jucovy/Kestenberg, 1995) und Alexander Friedmann, Elvira Glück, und David Vissoky und (Friedmann/Glück/Vissoky, 1999). Die Autoren weisen darin nach, dass viele Jahre zurückliegende Erfahrungen der Eltern einen Einfluss auf die zweite Generation haben und sie in ihrem Handeln bestimmen.

Mittlerweile ist auch die dritte Generation der jüdischen Holocaust-Überlebenden Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen geworden. Gabriele Rosenthal ist in einer ihrer Studien anhand von fünf Fallstudien von Drei-Generationen-Familien unter anderem den Fragen nachgegangen, wie sich ein familiärer Dialog über die Familienvergangenheit gestaltet und welchen Einfluss die Vergangenheit der Großeltern nunmehr auf die Enkel hat (Rosenthal, 1997). Ungefähr zeitgleich hat sich auch Dan Bar-On der Erforschung der Enkel-Generation zugewandt (Bar-On, 1997).

Meine Untersuchung knüpft explizit an diese Forschungen an und überträgt deren Konzepte auf die Gruppe der „jüdischen Mischlinge“. In der bisherigen Forschung zum Thema „Mischlinge“ ist ein solcher Ansatz noch nicht erprobt worden

Um dieses Forschungsvorhaben auch wirklich durchführen können, bin ich auf der Suche nach folgenden Interviewpartnern:

1. Nach den in NS-Sprache so genannten Halbjuden (auch "Jüdische Mischlinge ersten Grades") mit Geburtsdatum ca. 1920 bis 1935.
2. Nach deren Kindern
3. Nach deren Enkelkindern.

Kennen Sie vielleicht Personen, die sich für Interviews zur Verfügung stellen würden (es darf gerne weltweit sein) oder haben Sie weiterführende Anmerkungen zum Thema ? Für Informationen bin ich sehr dankbar.

Sonja Grabowsky
Dipl.-Päd.
Tel. +49 (0)202 426617
sonja.grabowsky@web.de

Literatur:
Bar-On, Dan: Furcht und Hoffnung: von den Überlebenden zu den Enkeln; drei Generationen des Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1997
Bergmann, Martin S., Jucovy Milton E. u. Kestenberg, Judith S. (Hg.): Kinder der Opfer. Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995
Friedmann, Alexander; Glück, Elvira u. Vissoky, David (Hg.): Überleben der Shoah und danach. Spätfolgen der Verfolgung aus wissenschaftlicher Sicht. Wien: Picus, 1999
Gelbin, Cathy, Lezzi, Eva u. a. (Hg.): Archiv der Erinnerung. Interviews mit Überlebenden der Shoah. Videographierte Lebenserzählung und ihre Interpretationen. Bd. 1. Potsdam: Verl. für Berlin-Brandenburg, 1998
Grünberg, Kurt u. Straub, Jürgen: Unverlierbare Zeit: psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern. Tübingen: Ed. Diskord, 2001
Hardtmann, Gertrud (Hg.): Spuren der Verfolgung: Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Gerlingen: Bleicher, 1992
Meyer, Beate: „Jüdische Mischlinge“: Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933 - 1945. Hamburg: Dölling und Galitz, 1999
Oberlaender, Franklin A.: „Wir aber sind nicht Fisch und nicht Fleisch“. Christliche „Nichtarier“ und ihre Kinder in Deutschland. Opladen: Leske und Budrich, 1996
Rosenthal, Gabriele: Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag, 1997

Zitation
"Halbjuden" als Verfolgte des NS-Regimes, In: H-Soz-Kult, 15.12.2006, <www.hsozkult.de/query/id/anfragen-851>.
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