.hist2006: Querschnittsbericht "Mittelalter"

Von
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II, Humboldt-Universität zu Berlin

Besprochene Sektionen:
"Quellen im Netz"
"Vernetztes Mittelalter. Entwicklungsstand und Perspektiven"

Ein Querschnittsbericht zu ".hist2006" aus der Perspektive des Mittelalter-Historikers bleibt eine künstliche Sache. Die meisten Themen der Veranstaltung wie "Suchstrategien", "Fachportale", "Elektronisches Lernen" oder "Elektronisches Publizieren" lassen sich nur bedingt epochenspezifisch aufsplitten. Sie fehlen daher im Folgenden, werden aber wohl an anderer Stelle auch für den häufig mit einer verhältnismäßig engen fachlichen Spezialisierung lebenden Mediävisten angemessen aufbereitet. Zwei Sektionen hielten indes speziell für den am Mittelalter Interessierten vielversprechende Themen bereit. Deren Titel "Vernetztes Mittelalter. Entwicklungsstand und Perspektiven" und "Quellen im Netz" erweisen sich als charakteristisch für die Situation EDV-gestützten Arbeitens im Bereich der Mittelalterforschung. Im Mittelpunkt der einen stand die (möglichst) kooperative Verbesserung unterschiedlicher Informationsangebote im Netz, im Zentrum der anderen die Chancen digitaler Quellenaufbereitung. Beide Themenbereiche rühren damit an wichtigen Feldern historischen Arbeitens und seiner Veränderung durch die neuen Medien.

"Quellen im Netz sind anders!" Diesen fundamentalen Satz schickte Patrick Sahle (Göttingen) der fast gleich lautenden Sektion "Quellen im Netz" voraus, die von ihm und Georg Vogeler (München) verantwortet wurde. Anders in zweierlei Hinsicht: zum einen, weil das Internet als Werkzeug der Forschung mittlerweile selbstverständlich geworden ist, nicht aber als Ort, an dem Ergebnisse präsentiert werden; zum zweiten weil die Präsentation von Quellen in einem elektronischen Medium sich grundlegend von der Druckform unterscheidet - unterscheiden muss, will sie nicht leichtfertig die Chancen verschenken, die das Internet bietet. Quellen im Netz stellen also nicht nur eine neue Präsentationsform dar, sie erfordern eine eigene Herangehensweise an die Erschließung und Darstellung. Eine kohärente Methodik digitaler Quellenarbeit liegt aber bislang keineswegs vor. Mit sechs Vorträgen, davon vier, die sich mit dem Mittelalter und seinen Quellen befassten, sollten Wegmarken zur Erreichung dieses Ziels gesetzt werden.

Den Auftakt bildete eine ausführliche Vorstellung des so genannten Monasterium-Projekts durch Karl Heinz (Wien). Es handelt sich um eine Initiative zur Erschließung und Erforschung kirchlicher Quellen, die sich zunächst das Ziel gesetzt hat, die Urkunden der österreichischen Stiftsarchive zu erfassen und dem Nutzer mit vielfältigen Hilfestellungen zugänglich zu machen. Derzeit sind mithilfe von Monasterium rund 20.000 Urkunden verfügbar, was mehr oder weniger dem kompletten Bestand der österreichischen Stiftsarchive entspricht. Allerdings ist das Vorhaben weit ambitionierter geschnittenen, wie bereits das mehrsprachige Zugangsportal dokumentiert.1 Die Betreiber planen eine Ausweitung ihrer Arbeit auf die Bestände der Nachbarländer , so dass im Idealfall der verfügbare Urkundenbestand verzehnfacht werden kann. Noch entscheidender aber ist, dass durch eine solche Kooperation die mittelalterliche Urkundenlandschaft wieder belebt werden könnte, die durch die heutigen politischen Grenzen willkürlich zerschnitten wird. Monasterium verwendet ältere Urkundenbücher und Regestenwerke in digitalisierter Form und ermöglicht dem Benutzer erstmals die vernetzte, übergreifende Recherche in disparaten Beständen, die zudem nicht immer leicht zugänglich sind. Abhilfe schafft hier die Einbindung digitaler Fotos der jeweiligen Urkunden. Für die Zukunft ist daran gedacht, nicht mehr nur konvertierend zu arbeiten, sondern mithilfe eines Redaktionssystems die Erschließung bislang nicht erfasster Bestände dezentral und unter Mithilfe der Benutzer in Angriff zu nehmen.
Fraglos eröffnet das Projekt mit seinen umfangreichen Abfragemöglichkeiten dem heimatverbundenen Nutzer wie dem professionellen Forscher ganz neue Möglichkeiten. Vorsicht scheint dem Beobachter allerdings bei dem Satz geboten, dass nunmehr in 95 Prozent der Fälle das Original nicht mehr konsultiert werden müsse. Der Einsparung von Zeit und Kosten auf der Nutzerseite steht als Risiko gegenüber, dass solche Aussagen die Archive ermuntern werden, ihrerseits Kosten für Benutzerbetreuung und wissenschaftliches Personal einzusparen.

Neben der Quellenbereitstellung, wie sie das Monasterium-Projekt wesentlich praktiziert, existieren auch primär analytische Vorhaben im Netz. Michael Gervers machte die Zuhörer mit dem DEEDS-Projekt der Universität Toronto vertraut, das sich einem äußerst verzwickten Problem der englischen Geschichte verschrieben hat. Von der Eroberung der Insel durch die Normannen 1066 bis ins 14. Jahrhundert sind die englischen Privaturkunden durchweg nicht mit einem Datum versehen; dies behindert eine stringente Auswertung erheblich. DEEDS versucht nun, mit elektronischen Mitteln Datierungshilfen für diese Quellengruppe bereitzustellen.2 Dazu werden gedruckte Werke digitalisiert, aber auch Urkundenbestände systematisch neu bearbeitet. Gervers konnte eindrucksvoll vorführen, wie die Analyse von Wortverbindungen und formelhaften Wendungen mithilfe exakter statistischer Verfahren zu chronologischen Clusterbildungen führt, die immerhin eine Datierungsgenauigkeit von plus/minus fünf Jahren ermöglicht. Die grafische Darstellung von Buchstabenhäufigkeiten und der Vergleich dieser Muster erlaubt ferner die nahezu sichere Zuweisung von Urkunden zu identischen Schreibern. Eine Verfeinerung der Analysemethoden steht auf dem Programm der kommenden Jahre, wobei Gervers betonte, dass der Aufbau eines virtuellen Textarchivs keinesfalls das Ziel sei. Die acht Prozent der Dokumente, die ein Datum tragen, sollen weiterhin nur als Vergleichsmaßstab für die 92 Prozent der undatierten genutzt werden.

Mitten hinein in die Chancen digitaler Quellenedition führte Matthias Perstling (Graz). Er hat es übernommen, das "Steirische Marchfutterurbar von 1414/1426" zu publizieren, ein detailliertes Verzeichnis von Futterabgaben, das über 12 Jahre fortgeführt wurde. Die Veränderungen der Namen und Mengen sowie Streichungen und Ergänzungen, die über diesen Zeitraum hinweg vorgenommen wurden, haben die Liste zu einem so komplexen Dokument anwachsen lassen, dass eine traditionelle Edition in Buchform zum Scheitern verurteilt ist: Entweder reduziert sie die Komplexität soweit, dass die Quelle letztlich zerstört wird, oder sie bildet die verwirrende Vielfalt der Einträge und Streichungen sorgfältig ab, macht dadurch aber den Text unbenutzbar. Die vielversprechende Lösung heißt hier "dynamische Edition". Dabei geht es nicht mehr um die Wiedergabe des Textes, die etwa bei der Edition einer mittelalterlichen Chronik im Mittelpunkt steht, sondern um die Aufbereitung der im Text - sofern es sich überhaupt noch um einen solchen handelt - bereitgestellten Informationen auf anderem Wege. Eine dynamische Edition stellt dem Benutzer die jeweils gewünschte Information zusammen, wobei der Inhalt von der Publikationsform getrennt wird. Der Nutzer definiert also mit seinen Fragen die Textversion, die ihm präsentiert wird. Wer nach einer Liste bestimmter Jahre fragt, erhält genau diese isoliert, wer bestimmte Namen sucht, kann diese herausziehen lassen, wen die einzelnen Schreiberhände interessieren, der bekommt die Beispiele vor Augen gestellt.
Der "Text" als Ganzes wird also elektronisch aufgelöst in eine Menge von Einzelinformationen, die mithilfe von Datenbanken und komplexen Suchabfragen jeweils bedarfsgerecht neu zusammengesetzt werden. Das ist unübersehbar ein Fortschritt, besonders für solche Quellen, die ihrerseits als dynamisch zu verstehen sind, Arbeitsdokumente, die nicht auf das Ideal eines fertigen, in Reinschrift vorliegenden Exemplars hin orientiert waren und die letztlich nie ein einheitliches Ganzes sein sollten. Die Ermöglichung ganz unterschiedlicher Fragestellungen, seien es namenkundliche, prosopografische, paläografische oder die wachsende Vielfalt statistischer Auswertungen, ist zu begrüßen; ein "lesbarer" Text bleibt hier entbehrlich. Ob sich solche Verfahren für die Masse mittelalterlicher Quellen anbieten, scheint dem tief beeindruckten Betrachter dennoch eine genaueren Abschätzung wert.

Das Spektrum der behandelten Quellen umfasste auch die mittelalterlichen Weltkarten. Günther Görz berichtete über die Tiefenerschließung mittelalterlicher mappae mundi, die in Erlangen zurzeit vorangetrieben wird und als dessen erstes Produkt hoffentlich noch in diesem Jahr mit der berühmten Ebstorfer Weltkarte eine Zimelie mittelalterlicher Kartographie auf ganz neue Art und Weise der Öffentlichkeit vorgestellt werden kann.3 Der besondere Reiz der digitalen Tiefenerschließung von Weltkarten liegt in der Verbindung dieser Quellen mit der zum späten Mittelalter hin zunehmenden Reiseliteratur, einer Wechselwirkung also aus Bild- und Schriftquellen. Die Erfordernisse des Reisens und die praktischen Erkenntnisse der Reisenden führten dazu, dass in die ursprünglich eher ein Weltbild im eschatologischen oder kosmologischen Sinne präsentierenden mittelalterlichen Karten neue Informationen eingetragen wurden, der Charakter der Karten dadurch vom Manifest der Weltanschauung zur geografischen Orientierungshilfe verändert wurde. Görz präsentierte im Detail das Herzstück des Projekts, die Datenbank, die Karten, Bilder und Metadaten verwaltet. Dabei gab er beeindruckende Einblicke in künftige Recherchemöglichkeiten. Sie lagen allerdings eher wie Inseln in einem Vortrag, der überwiegend von Problemen der Technik und der Aussagenlogik geprägt war. So ermüdend dieser Umstand auf manchen Zuhörer gewirkt haben mag, er verdeutlicht doch schlagend, dass die digitale Quellenwelt den Historiker ebenso wie den Informatiker fordert. Die bequeme Suche auf Knopfdruck ist insbesondere in solch komplexen Quellencorpora wohl nur um den Preis von Begrifflichkeiten wie "Konzepthierarchien" oder "formale Ontologie der Datenbank" und ihrer Inhalte zu realisieren.
Die Sektion wurde durch zwei Beiträge zur Retro-Digitalisierung in der Zeitgeschichte und zur Aufbereitung von Filmen für das Internet abgerundet. Sie verschwanden erwartungsgemäß hinter dem begrenzten Interessenhorizont des Mediävisten, dokumentierten aber gleichwohl das erfolgreiche Bemühen der beiden Veranstalter, die Problematik digitaler Quellenedition mit einem wohl überlegten, breiten Fächer von Zugangsweisen zu skizzieren.

Eine Präsentation einzelner Zeitalter und ihres aktuellen Standes in der digitalen Welt war von den Veranstaltern ausdrücklich nicht vorgesehen. Umso mehr überraschte es, dass ausgerechnet die Mediävistik sich mit einer epochenspezifischen Sektion vorstellte. Deren Titel "Vernetztes Mittelalter" war durchaus programmatisch aufzufassen, wie die einleitenden Gedanken des Leiters, Arno Mentzel-Reuters, Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica in München, schnell deutlich werden ließen. Er charakterisierte den gegenwärtigen Stand der Mediävistik auf diesem Gebiet als Scheidepunkt. Die bloße Bereitstellung von Informationen unterschiedlichster Art im Netz beschreibe die Arbeitsweise von gestern, die vernetzte Arbeit von Institutionen und Einzelforschern markiere die Zukunft. Mit einigem rhetorischem Aufwand - der zuweilen den Eindruck der Selbstverliebtheit nicht vermeiden konnte - verdeutlichte Mentzel-Reuters diese Auffassung. Es dominiere heute das Internet-gestützte Arbeiten in der Form des Sterns: man baue Portale auf, von denen aus sich das Fach in alle möglichen Richtungen digital verzweige. Seine Vision aber sei der Kreis oder der Chor aufeinander bezogener autonomer Systeme, die Daten nicht nur bereitstellen, sondern sie weitergeben an den forschenden Nachbarn. Dies erhöhe die Effizienz und vermeide die Doppelerfassung, die heute noch gang und gäbe sei. Der praktische Einwand, dass die Sternförmigkeit des Internet-Angebotes wohl nicht zuletzt auch infolge der Förderlogik der DFG besteht, sei zunächst einmal zurückgestellt. Was Mentzel-Reuters nämlich provokant formulierte, hat auch viel Wahres an sich. Dem Sektionsleiter ist zuzustimmen, dass die Internet-Angebote bei allem Wert von einem enormen "Rauschen" begleitet sind. Redundante Informationen, Mehrfachangebote, schlecht gepflegte Links und in ihrer Qualität kritikwürdige bis dubiose Seiten decken vielfach die wirklich nützlichen Dinge zu oder erschwerten zumindest den selektiven Zugang. Jeder, der intensiv nach Informationen, Textausgaben etc. fahndet, wird diesem Befund zustimmen. Die Unbegrenztheit des Platzangebotes im Netz kann dazu verleiten, es als Müllhalde für Informationen aller Art zu missbrauchen - der Begriff der Hypertrophierung ist nur eine vornehme Umschreibung dessen.

Die Sektion versammelte in der Folge mit den Monumenta Germaniae Historica, den Regesta Imperii und der Handschriften-Datenbank Manuscripta Medievalia gleich drei Zentrale Großprojekte der deutschen Mediävistik. Als viertes wäre das Internet-Angebot der Bayerischen Staatsbibliothek hinzugekommen, doch musste der Referent kurzfristig absagen. Allein diese Palette der großen Namen macht ein Verdienst der Veranstalter und gleichzeitig ein Problem der digitalen Mediävistik deutlich: Offenbar bedarf es des externen Anstoßes, damit diese Supertanker der Mittelalterforschung über Konvergenzen, Zusammenarbeit und die Vermeidung doppelter Arbeit nachdenken! Doch der Reihe nach.

Clemens Radl (München) präsentierte die digitalen Monumenta Germaniae Historica, die sich von der elektronischen MGH unter anderem dadurch unterscheiden, dass nicht nur die Texte bereitgestellt werden, sondern auch das gesamte Arbeitsinstrumentarium der Editionen. Nach der Realisierung des Projekts werden alle bis zum Jahr 2005 erschienenen Monumenta-Bände im Volltextzugriff verfügbar sein, die jüngeren Ausgaben jeweils sukzessive, sobald die mit dem Verlag ausgehandelte Schutzfrist für das gedruckte Buch abgelaufen ist.4 Mit den Texten werden auch die Register komplett über das Internet recherchierbar sein. Dies ist eine wichtige Entscheidung, da die Zusammenführung von Varianten, etwa disparater Ortsnamen, dort erfolgt, die Register also Zusatzinformationen bieten, welche die Volltextsuche in der Edition nicht unbedingt finden kann. Radl erläuterte anschließend technische Details zu möglichen Datentransfers. In der Diskussion war bei den Zuhörern eine gewisse Enttäuschung darüber zu verspüren, dass die digitalen Monumenta offenbar nicht mit allen Such- und Verarbeitungsmöglichkeiten ausgestattet werden sollen, die heute denkbar sind.

Die Regesta Imperii teilen mit den Monumenta Germaniae Historica nicht nur einen Großteil der Quellen, auf die sie sich hauptsächlich beziehen, beide Unternehmen sind historisch und arbeitstechnisch in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Dennoch erfordern die Regesta ein stärker dezentrales Arbeiten als die Monumenta, gilt es doch die gesamte Überlieferung zu jeweils einem Herrscher flächendeckend zu erfassen und zu verarbeiten. Informationen und Korrekturen etwa aus einzelnen Archiven und Archivregionen sind hier mehr als willkommen, und die Anlage etwa der Regesten für Friedrich III. zeigt deutlich, dass in quellenreicher Zeit die Archivarbeit von einer Person allein nicht mehr zu leisten ist, sondern auf viele Schultern verteilt werden muss. In diesem Sinne sind die Regesta Imperii Online, wie Andreas Kuczera (Mainz) betonte, ein disloziertes Projekt.5 In erster Linie stellt das neue elektronische Angebot daher dem Bearbeiter praktische Hilfsmittel zur Verfügung. So dient der auch von externen Nutzern gerne konsultierte digitale Bibliothekskatalog (RI-OPAC) vornehmlich dazu, allen Bearbeitungsstandorten eine einheitliche Kurztitelfindung zu gewährleisten. Als nächsten Schritt des Projektes stellte Kuczera die Suche in kumulierten Registern in Aussicht, womit die Abfrage in den immensen Datenbeständen des Unternehmens erheblich vielfältiger vorgenommen werden kann. Ebenfalls angestrebt ist die Vernetzung der Registereinträge mit digitalen Abbildungen der jeweiligen Textstücke.

In den Bereich der Handschriften-Erschließung führten die beiden weiteren Vorträge der Sektion. Robert Giel (Berlin) verzichtete darauf, die Manuscripta Medievalia nochmals eingehend vorzustellen. Stattdessen nahm er eine Einordnung in das digitale Umfeld vor, die bemerkenswerter Weise statt auf ein PowerPoint-Gewitter auf die bloße Kraft des Wortes vertraute. Momentan sind in dieser Handschriften-Datenbank 60.000 in Deutschland liegende Manuskripte des Mittelalters erfasst. Zusätzlich werden sowohl alte Handschriftenkataloge digitalisiert als auch neue Erfassungen vorgenommen. Aus diesem zweigeteilten Vorgehen resultiert eine unterschiedliche Tiefe in den jeweiligen Handschriften-Beschreibungen; die Standards haben sich im Laufe der Jahre immer weiter verfeinert.6 Die Bearbeiter verfolgen nunmehr das Ziel, die vorhandenen Informationen sachspezifisch zu erweitern. Das heißt konkret: Es ist geplant, den Nutzer von der gesuchten Handschrift auf bestehende Editionen zu verweisen und umgekehrt aus Bibliotheks-OPACS heraus eine direkte Verbindung zur Handschriften-Datenbank herzustellen. Betreibt man dies konsequent, so zeichnet sich am Horizont auch schon die Vernetzung der Manuskript-Einträge mit der Forschungsliteratur ab. Den Manuscripta Medievalia würde dies sicherlich neue Nutzer zuführen, und auch dem Fach wäre es zu wünschen, dass jedermann gewissermaßen automatisch von der Literatur auch wieder auf die Quellen zurückverwiesen wird.

Den Schlusspunkt setzte Torsten Schaßan (Wolfenbüttel) mit einem Beitrag, der den fordernden Titel "Desiderata der Handschriftenkatalogisierung und -digitalisierung" trug. Dabei führte er vielfach am praktischen Beispiel aus, was sein Vorredner auf der analytischen Ebene angeschnitten hatte. Mit einer fulminanten Mischung aus grundlegenden Fragen und kleinteiligen Lösungen illustrierte Schaßan sein Credo, dass Handschriftenkataloge niemals fertig werden! Das war sicherlich anders gemeint, als der Benutzer gedruckter und digitaler Kataloge es auf den ersten Blick vermutet, der die Lücken der Erschließung oft genau dort findet, wo er sie im Moment am wenigsten gebrauchen kann. Der Referent zielte vielmehr darauf ab, dass die statische Präsentation von Erschließungsdaten nicht mehr zeitgemäß ist, dass - wie bei einigen Quellengattungen - einer dynamischen Aufbereitung der Daten der Vorzug zu geben sei. Nur in dieser Form könne man Daten nachtragen, Wissen vermehren, die beschriebene Handschrift sukzessive in all ihren Facetten erschließen.

So sehr diese Forderung einleuchtet, so sehr macht sie auch die Probleme deutlich, die mit den immensen Möglichkeiten digitaler Bereitstellung einhergehen. Unfreiwillig illustrierte der letzte Beitrag der Sektion auch zentrale Gedanken, die Arno Mentzel-Reuters zu Beginn formuliert hatte: die Übersättigung mit Information, das Rauschen des Beiwerks, das den Alarmton des eigentlich Gesuchten zu ersticken droht. Und wie ist es bei aller Dynamik mit der Stabilität der Information, die dauerhaft zitierfähig bleiben muss, solange sich die wissenschaftlichen Gepflogenheiten im Umgang mit Informationsquellen nicht nachhaltig ändern? Der Verfasser dieser Zeilen war sich jedenfalls nicht immer darüber im Klaren, ob er das euphorische "noch mehr" an Details wirklich zu den Desiderata rechnen möchte.
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Satz "Handschriftenkataloge sind nie fertig" ohnehin als preiswerte Binsenweisheit. Jede Quellenedition und jede wissenschaftliche Arbeit überhaupt kann und muss dies für sich in Anspruch nehmen. Es ist allein die Form der gedruckten Publikation, die zu einem Einschnitt zwingt, weil ein Manuskript irgendwann abgeschlossen werden muss. Hier ist die digitale Welt im doppelten Vorteil, flexibler und kostengünstiger zu sein. Aber der Einschnitt, zu dem der Druck eines Buches nötigt, sollte nicht nur als Fessel betrachtet werden. Mit ihm geht ein heilsamer Zwang einher, sich und den Lesern Rechenschaft abzulegen über Notwendiges und weniger Wichtiges. Darin liegt im Übrigen eine nicht zu unterschätzende Leistung des Wissenschaftlers.

Damit sind wir bereits bei der Gesamtbetrachtung dessen angelangt, was ".hist2006" an spezifisch Mittelalterlichem zu bieten hatte. Beide Sektionen zu diesem Thema lohnten den Besuch, weil über die Vorstellung konkreter Projekte und technischer Lösungsmöglichkeiten hinaus Schwerpunkte und Grenzen des digitalen Arbeitens am historischen Objekt erkennbar wurden. Quellenerschließung, Quellenpräsentation und selbst unmittelbare Quellenforschung sind mithilfe der elektronischen Datenverarbeitung und den dadurch gewaltig gestiegenen Möglichkeiten des Vergleichs längst in eine neue Dimension eingetreten. Das Staunen des Beobachters ist hier berechtigt, ebenso der Stolz der "Macher" auf das Erreichte und ihre Vorfreude auf neue Entwicklungen. Dennoch muss man die Perspektiven klarer formulieren. Sie können nicht allein in einem quantitativen Wachstum digitaler Informationsangebote liegen. Es ist das Verdienst der Sektion "Vernetztes Mittelalter", diese Frage zumindest gestellt zu haben. Sie betrifft die verbesserte Abstimmung der Angebote im Netz und die Strukturen der Zusammenarbeit von Forschungseinrichtungen untereinander. Damit verbunden sind indessen Themen, die weit über das Technische hinausgehen, etwa die Vision einer dezentralen digitalen "Forschungsgemeinschaft", zu der jeder seine Bausteine beitragen kann. Vor der Debatte der Machbarkeit ist aber die Frage nach dem Sinn zu erörtern.

Auch scheint insgesamt ein wenig aus dem Blick geraten zu sein, wem man die Informationen bereitstellen will, welche Nutzer mit den unterschiedlichen Angeboten eigentlich angesprochen werden sollen: Forscher oder interessierte Laien? Oder beide? Für die Konzeption der digitalen Arbeit kann das nicht gleichgültig sein, denn was für den einen willkommene Instruktion ist, empfindet der andere möglicherweise als das genannte "Rauschen". Der Zuhörer konnte sich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren, dass der Trend eher dahin geht, immer komplexere Datenbanken und Abfragemöglichkeiten zu schaffen, damit jeder mit dem digital bevorrateten historischen Material nach Belieben verfahren kann. So faszinierend dies ist - auch weil es letztlich den umfassend ausgebildeten Historiker als Benutzer erfordert! -, so unwirtschaftlich erscheint diese Methode der grenzenlosen Aufbereitung für den eventuellen Fall, dass irgendjemand irgendwann irgendeine Frage stellt. Das Vorgehen, dem Nutzer endlose Informationsketten per Knopfdruck verfügbar zu machen, dürfte zudem die elektronische Datenverarbeitung, die sich mühsam zur angesehenen "historischen Fachinformatik" gemausert hat, auf lange Sicht zur Hilfswissenschaft im engsten denkbaren Sinn machen. Ob sich dies mit dem Selbstverständnis der aktuellen Digital-Historiker verträgt?

Dr. Harald Müller ist Privatdozent für Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts sowie des Renaissance-Humanismus. Zurzeit vertritt er an der Universität Leipzig die Professur für Historische Hilfswissenschaften / Archivwissenschaft. Er ist seit 2001 Review Editor für das Mittelalter bei H-Soz-u-Kult. Kontakt: muellerh@geschichte.hu-berlin.de

Anmerkungen:
1 <http://www.monasterium.net > (20.03.2006)
2 <http://www.utoronto.ca/deeds/research/research.html > (20.03.2006).
3 <http://univis.uni-erlangen.de/form?__s=2&dsc=anew/resrep_view&rprojs=phil2/IDSL/LGDP/kommen&anonymous=1&dir=phil2/IDSL/LGDP&ref=resrep&sem=2006s&__e=225ep&sem=2006s&__e=225 > (20.03.2006).
4 <http://www.dmgh.de > (20.03.2006).
5 <http://www.regesta-imperii.org > (20.03.2006).
6 <http://www.manuscripta-mediaevalia.de > (20.03.2006).

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