Historikertag 2004: Zeitgeschichte - 19./20. Jahrhundert

Von
Volker Depkat , Freie Universität Berlin

Besprochene Sektionen:

"Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert"
"Umkämpfte Räume. Delinquente Jugendkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Bundesrepublik, DDR, USA)"
"Zeitverständnis und Herrschaftsakzeptanz im 20. Jahrhundert"
"Nichts mehr wie es war? Der 11. September und die Wende von 1989 in historischer Perspektive"
"Orte der Verknüpfung von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert"

Zeitkulturen, Kommunikation und Herrschaft im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte auf dem Historikertag 2004

Mit "Kommunikation" und "Raum" hatte sich der 45. Deutsche Historikertag in Kiel gleich zwei Zentralkategorien einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozial- und Politikgeschichte zu Eigen gemacht, die auch und gerade für den Bereich der Zeitgeschichte ein großes Innovationspotential versprechen. Dieses offenbart sich freilich erst so richtig, wenn Kommunikationsgeschichte nicht auf Mediengeschichte reduziert wird, nicht auf die Geschichte der technischen Mittel also, durch die im 20. Jahrhundert Nachrichten verbreitet, Wissen gespeichert, Unterhaltung gestaltet und Meinungen gelenkt bzw. manipuliert wurden. Kommunikationsgeschichte fasst ihren Gegenstand breiter, nämlich umfassend als die Geschichte sozialer Kommunikation. Damit ist eine Geschichte derjenigen kommunikativen Praktiken und kommunizierten Inhalte gemeint, durch die Gesellschaften und politische Systeme sich im Laufe der Zeit über sich selbst verständigt, ihre Ordnung legitimiert, stabilisiert und reproduziert haben. Medien spielen in diesem Zusammenhang zwar eine wichtige Rolle, doch geht das Konzept einer Kommunikationsgeschichte weit über den mediengeschichtlichen Rahmen hinaus, weil Kommunikation als Basiskategorie des Politischen und des Sozialen überhaupt verstanden werden muss. So gesehen findet soziale Kommunikation in institutionell, sozial und regional differenzierten Räumen statt, und sie manifestiert sich als konkrete, macht- und hierarchiegefügte Praxis, der gegenüber diese kommunizierten Inhalte nicht autonom sind. Ein kommunikationsgeschichtlicher Zugriff auf die Vergangenheit setzt somit die Überlegung an den Anfang, dass sich Politik und Gesellschaft historisch als und in Kommunikation vollzogen haben.1 Er zielt darauf, den Wandel von Kommunikationsformen, -praktiken und -medien als eingebettet in übergreifende politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungsprozesse zu beschreiben, weil es letztlich, wie Jörg Requate zu Recht hervorgehoben hat, "keine autonome, allein von den technischen und kommerziellen Bedingungen gesteuerte Mediengeschichte" gibt und geben kann.2

In einem eben so breit gesteckten Forschungsrahmen scheint mir für das 20. Jahrhundert der Zusammenhang von Herrschaft und Kommunikation besonders relevant zu sein, weil einerseits die für das "kurze 20. Jahrhundert" epochenkonstitutive Konkurrenz von Demokratie und totalitären Anti-Demokratien (Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus) einen massiven politischen Orientierungs- und Legitimierungsdruck freisetzte, der neuartige Formen und Praktiken der sozialen Kommunikation erzwang. Anderseits ist der Zusammenhang von Herrschaft und Kommunikation im 20. Jahrhundert aber auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil der rasante, sich in Schüben vollziehende, die Strukturen, Formen und Praktiken der Politik nachhaltig und wiederholt transformierende Prozess der Medialisierung sich weitgehend unabhängig von den drei großen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts entfaltete. Nicht zuletzt deshalb bieten kommunikationsgeschichtliche Ansätze die Chance zu vergleichenden Längsschnitten von unterschiedlicher Dauer. Grund genug also zu fragen, wie das Thema "Herrschaft und Kommunikation" auf den zeitgeschichtlichen Sektionen des Kieler Historikertages erörtert wurde.

Medialisierung der Politik
Am unmittelbarsten greifbar war der Zusammenhang von "Herrschaft und Kommunikation" in der von Frank Bösch und Norbert Frei, beide Bochum, organisierten Sektion "Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert", in der die rasante Ausbreitung der Massenmedien im 20. Jahrhundert in ihrem Effekt auf Politisierungsprozesse in Deutschland untersucht wurde. Der Begriff "Medialisierung" wurde hier in dreierlei Bedeutungszusammenhängen verwandt, und zwar (1) als Durchdringung der Gesellschaft durch Massenmedien, (2) als Ausrichtung politischer Praktiken auf angenommene oder tatsächlich operierende mediale Logiken und (3) als Entstehung neuartiger, medial gestützter gesellschaftlicher Beobachtungssysteme.

Wichtig ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Politisierung und Demokratisierung, denn während der Prozess der Medialisierung im 20. Jahrhundert zweifelsohne zur Erweiterung des politischen Kommunikationsraumes, zur Vergrößerung der politischen Themenpalette und zur Verdichtung der öffentlichen Kommunikation führte, war die Bedeutung der Massenmedien für die Demokratisierungsprozesse in Deutschland höchst ambivalent. Im Kaiserreich und in der Bundesrepublik waren beide Entwicklungsstränge komplementär, in der Weimarer Republik und während des "Dritten Reiches" unterlief die fortschreitende Medialisierung der Politik die Demokratisierungsprozesse bzw. drehte sie zurück.

Frank Bösch untersuchte in seinem Vortrag "Wege zur 'vierten Gewalt'? Skandal, Politik und Öffentlichkeit vor 1914" die im Kaiserreich gehäuft auftretenden Skandale als Kommunikationsereignisse und Prüfsteine für neuartige Formen der Interaktion von Politik, Öffentlichkeiten und Massenmedien. Die meisten Skandale wurden bis 1914 nicht von der neuen Massenpresse aufgedeckt, sondern von einzelnen Parlamentariern, die sich der Medien geschickt bedienten, um den von ihnen entdeckten Normbruch öffentlich zu machen. Einmal publik gemachte Skandale wurden dann von den Zeitungen und Zeitschriften eigenständig aufgegriffen und weiterverfolgt. Diese symbiotische Beziehung von Massenpresse und Politik trug zum Aufbrechen bisheriger politischer Arkanbereiche bei, erweiterte den Teilnehmerkreis an politischer Kommunikation und zog insgesamt einen Bedeutungsgewinn für den Reichstag nach sich. Der alten Frage, ob das Kaiserreich bis 1914 nicht bereits auf dem Wege einer schleichenden Parlamentarisierung gewesen sei, wurde hier aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive eine spannende neue Facette abgewonnen; die Interaktion von Massenpresse und Politik, so Bösch, beförderte die Demokratisierungsprozesse zumindest indirekt.

Dass die Massenmedien in der Weimarer Republik eher ein Faktor der politischen Desintegration als einer der Demokratisierung waren, machte Bernhard Fulda, Cambridge, zum Gegenstand seines Vortrages "Die Politik der 'Unpolitischen'". Die in den 1920er Jahren stetig sinkenden Auflagenzahlen von Partei- und parteinahen Zeitungen und der gleichzeitige Aufstieg der vermeintlich "unpolitischen" Massen- und Boulevardzeitungen sei weniger ein Ausdruck der Entpolitisierung der deutschen Gesellschaft als vielmehr Anzeichen der kontinuierlichen Modernisierung der deutschen Presselandschaft in diesen Jahren. Das Politische im vermeintlich Unpolitischen der Massen- und Boulevardpresse freilegend, zeigte Fulda, wie die neuen Printmedien Politik mit und als Sensation machten und damit insgesamt eine mediale Popularisierung von Politik einleiteten, die die Politik selbst zunehmend überforderte. Die illustrierten Boulevardzeitungen und Massenblätter waren während der gesamten Weimarer Republik nicht nur Indikator der tiefen politischen Gräben in der deutschen Gesellschaft, sondern zugleich auch ein Faktor im Prozess des fortschreitenden Verfalls des republikanischen Konsenses.

Der Kommunikations- und Öffentlichkeitspolitik der Adenauer-Regierung in der frühen Bundesrepublik wandte sich Matthias Weiß, Bochum, in seinem Vortrag "Propaganda und kritische Öffentlichkeit. Medienpolitik zwischen Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik" zu. Die autoritäre Öffentlichkeitspolitik der Regierung Adenauer war getragen von einer kommunikationspolitischen Fürsorge zur Wiederherstellung einer integrierten Gesellschaft im Spannungsfeld von Westintegration, Nationalismus, NS-Vergangenheit und kommunistischer Gegenpropaganda. Das Bestreben nach einer kanzlerzentrierten Bündelung der informationspolitischen Energien zielte auf die Bändigung der öffentlichen Diskussion und die Zurücknahme der auf Liberalisierung und Demokratisierung zielenden alliierten Medienpolitik während der Besatzungszeit. Dieses Verständnis von Öffentlichkeitspolitik als einer arkanen Maßnahmenpolitik traf zunächst auf ein weit gestreutes Bedürfnis in der traumatisierten Nachkriegsgesellschaft, doch konnte die liberale Kommunikationsrevolution der Alliierten in den 1950er Jahren nicht gänzlich rückgängig gemacht werden. Deshalb wurde die Adenauersche Öffentlichkeitspolitik und das ihr zugrunde liegende Verständnis von Öffentlichkeit in dem Maße problematisch, in dem sich die "Modernisierung im Wiederaufbau" (Schildt/Sywottek) beschleunigte.3 Insofern hat die "Spiegelaffäre" die Demokratisierung der Bundesrepublik nicht nur vorangetrieben; sie war ihrerseits bereits Ausdruck und Ergebnis stattgehabter Liberalisierung in den 50er Jahren.

Anja Kruke, Bochum, rekonstruierte in ihrem Vortrag "Macht und Meinung. Meinungsforschung und Politik in der Öffentlichkeit der sechziger und siebziger Jahre" wie die Ende der 1950er Jahren einsetzende Integration der Meinungsforschung in den politischen und medialen Prozess neue Formen der politischen Kultur und neue Praktiken der Kommunikation zwischen Politikern und Wählern einerseits ermöglichte, andererseits erzwang. Die Demoskopie als neue Form der Wählerbeobachtung und sozialer Selbstbeschreibung machte den Bürgerwillen nach wissenschaftlichen Kriterien transparent und schuf damit buchstäblich neue Realitäten, hinter die die politische Praxis nicht mehr zurückfallen konnte. War die Demoskopie zunächst eine Art Arkanwissenschaft, die die politischen Parteien für den internen Gebrauch verwandten, so unterlag die Demoskopie selbst einem Prozess der Demokratisierung - und den Massenmedien der Bundesrepublik kam in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zu. Trugen sie zunächst ihren Teil zur Durchsetzung der Methode der demoskopischen Weltbeobachtung bei, indem sie über die von den Parteien in Auftrag gegebenen Meinungsumfragen berichteten, so entwickelten sie selbst Ende der 1960er Jahre eine stärkere Eigeninitiative und gaben eigene Umfragen in Auftrag. In dem Maße, in dem das geschah, wurde die Demoskopie zu einem Instrument der Medien. Gleichwohl führte diese von den Maximen "Information" und "objektive Berichterstattung" geleitete Integration der Demoskopie in den medialen Prozess auch zu einem steigenden Grad an medialer Selbstreferentialität, weil sich die Berichterstattung immer mehr auch als Bericht über die demoskopischen Berichte anderer Medien entfaltete.

Konkurrierende "time communities" als Indikator und Faktor politischer Konflikte
In den anderen von mir besuchten Sektionen zur Zeitgeschichte spielte der Zusammenhang von "Herrschaft und Kommunikation" keine durchgehende und tragende Rolle. In dem Moment jedoch, wo ich anfing, einige Sektionen gegen den Strich zu lesen und einzelne Vorträge im Hinblick auf meine Erkenntnisinteressen neu zu kontextualisieren, konnte ich einiges für das Thema Relevante entdecken. Von zentraler Bedeutung scheint mir in diesem Zusammenhang die Beobachtung zu sein, dass politische Kommunikation und die Kommunikation des Politischen stets in überwölbende, kultur- und systemspezifische Zeitkulturen eingelassen sind. Als für die historische Analyse besonders weiterführend erweist sich dabei in der Zusammenschau das von Jürgen Reulecke, Siegen, in seiner Sektion "Umkämpfte Räume. Delinquente Jugendkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" einleitend entworfene, dann aber in den Einzelvorträgen leider nicht konsequent genug eingelöste Konzept von konkurrierenden "time communities", in die politische, sozioökonomische, kulturelle und emotionale Differenzen eingeschrieben sind und deren Konkurrenz historische Konflikte aus sich hervortreiben kann. In dem Moment, wo die keinesfalls nur auf die historische Jugendforschung beschränkte und deshalb auch nicht allein über ‚Alter' und ‚Generation' definierte Konkurrenz von "time communities" selbst zum Thema der historischen Analyse wird, in dem Moment also, wo die jeweilige historische Konstellation konkurrierender "time communities" identifiziert, die Frontlinien ihrer Konkurrenz nachgezeichnet und die Konkurrenz selbst an die zeitspezifischen Erfahrungs-, Problem- und Konfliktlagen rückgebunden wird, eröffnen sich weitreichende neue Erkenntnismöglichkeiten für die zeithistorische Analyse, die auf diesem Historikertag allenfalls erst angerissen worden sind.

In der von Martin Sabrow, Potsdam, organisierten ungemein anregenden Sektion "Zeitverständnis und Herrschaftsakzeptanz im 20. Jahrhundert" stand die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Herrschaft, also von Zeitstilen und politischer Kultur, Zeitempfinden und Systemloyalität in den drei großen Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts im Zentrum aller sechs dort präsentierten Beiträge. Zwei Beiträge wandten sich aus ganz verschiedener Perspektive dem Phänomen der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in ihrer politischen und gesellschaftspolitischen Relevanz zu, und zwar Martin Geyers "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Weimarer Republik. Fragmentierte Zeitstile in der Weimarer Republik" und Alexander Schmidt-Gernigs "Die Globalisierung der Zeit in der bundesrepublikanischen Zukunftsforschung der sechziger und siebziger Jahre".

Martin Geyer, München, zeigte, wie der tiefen Fragmentierung des politischen Spektrums in der Weimarer Republik eine Zerklüftung der Zeitlandschaft entsprach, die den Effekt hatte, dass die radikalen Kräfte von rechts und links die Gegenwart der Weimarer Republik nicht als die ihre anerkannten und in ihren politischen Zielutopien über diese Gegenwart hinausstrebten. Die dramatische Gegenwartserfahrung produzierte eine Vielzahl von in die Zukunft gerichteten Wunschträumen und ließ so die Zukunft als Verwirklichungsort antirepublikanischer Herrschafts- und Gesellschaftsutopien erscheinen. Diese konkreten Utopien der klassischen Moderne projizierten das Bedürfnis nach sozialer, politischer und kultureller ‚Gleichzeitigkeit' in eine nationalsozialistisch-volksgemeinschaftliche oder sozialistisch-kommunistische Zukunft, in der die die Gesellschaft der Weimarer Gegenwart fragmentierenden ‚Ungleichzeitigkeiten' überwunden sein würden. Insofern lässt sich der grassierende Mangel an Gleichzeitigkeit als ein zentraler Faktor für die politische Instabilität in der Weimarer Republik interpretieren.

Alexander Schmidt-Gernig, Düsseldorf, erläuterte, wie die Erfahrung eines sich in den 1960er/70er Jahren enorm beschleunigenden wissenschaftlichen Fortschritts und die von ‚big science' ausgelöste Revolution der menschlichen Lebensformen bei den Zeitgenossen selbst die Diagnose plausibel werden ließ, einen Zeitbruch zu erleben, der die eigene Gegenwart radikal von der Vergangenheit abtrennte. Die Folge war ein regelrechter "Zukunftsboom", in dessen Folge mit der Kybernetik eine systematische, ihrem Anspruch nach wissenschaftliche Zukunftsforschung entstand, die ‚Zukunft' prognostizierbar und planbar machen wollte. Die Kybernetik verstand sich als eine Metawissenschaft, die von vornherein in globalen Dimensionen verankert war. Sie forderte sowohl supranationale Institutionen als auch globale Steuerungsmechanismen und entwickelte neue Denkmodelle von Raum und Zeit, die insgesamt auf die Globalisierung von Raum- und Zeitbezügen zielten. Die kulturelle und soziale Vielfalt in der Welt im Hinblick auf eine angenommene, gewissermaßen gleich getaktete "Weltgesellschaft" reflektierend, konfrontierte diese globale Kommunikationsverdichtung im Zeichen der Kybernetik nicht nur die verschiedensten Gesellschaften und Kulturen auf bisher ungeahnte Weise miteinander; sie trieb vielmehr auch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen auf globaler Ebene immer stärker und konfliktreicher hervor.

In zwei Beiträgen wurden systemspezifische Zeitkulturen in ihrer Auswirkung auf die Gestaltung des städtischen Raumes nach 1945 erörtert: Georg Wagner-Kyora, Oldenburg, ging am Beispiel der kommunalpolitischen Debatte um den Abriss des kriegszerstörten Residenzschlosses in Braunschweig der 1950er Jahre dem Problem von "Gegenwartsdiagnosen und Zukunftserwartungen im westdeutschen Wiederaufbaudiskurs" nach, während Albrecht Wiesener, Potsdam, in seinem Vortrag zur "Zukunft im Planquadrat. Über den Wandel zeit-räumlicher Perspektiven im DDR-Städtebau" am Beispiel von Halle/Neustadt die Entwicklungen im DDR-Städtebau in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Diskursen über die "sozialistische Stadt der Zukunft" rekonstruierte.

Wagner-Kyora legte geschickt die sich mit dem Braunschweiger Stadtschloss verbindenden Zeitschichten, Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen frei, konnte zeigen, wie die Nutzung des Schlosses während des ‚Dritten Reiches' die weiter zurückliegenden an das Schloss gebundenen Geschichtserfahrungen zu einem Grade überlagerte, dass das Schloss aus Sicht der Braunschweiger Kommunalpolitiker Ende der 1950er Jahre als faschistischer Bau erschien, so dass mit dessen Abriss auch ein Stück der unmittelbar in die Gegenwart hineinragenden NS-Vergangenheit ‚entsorgt' wurde. Der Neubau einer Stadthalle auf dem Gelände des ehemaligen Residenzschlosses wurde so zu einem geschichtspolitischen Akt, durch den ein Kontrapunkt zur faschistischen Herrschaftsarchitektur, die überall im städtischen Raum noch gegenwärtig war, gesetzt werden konnte.

Wiesener zeigte wie das DDR-spezifische Epochenbewusstsein, in einer das bürgerliche Zeitalter überwindenden ‚neuen' Zeit des anbrechenden Sozialismus zu leben, das Projekt der ‚sozialistischen Stadt' zur zentralen, in die Zukunft gerichteten Aufgabe werden ließ. Die Suche nach einer ‚neuen deutschen Baukunst', die sich einerseits von der als imperialistisch und amerikanisch diskreditierten Moderne abgrenzte und andererseits zugleich spezifisch ‚sozialistisch' sein sollte, führte zunächst in den 1950er Jahren über die Stalinallee in Ost-Berlin und dann, als der ‚Zuckerbäckerstil' der Stalinallee in der Sowjetunion selbst als unsozialistische Verschwendung verurteilt wurde, mit dem Projekt Halle-Neustadt in den 1960er Jahren zum Wiederanschluss an die städtebauliche Moderne.

Die übrigen beiden Beiträge der Sektion behandelten auf die eine oder andere Art Modi der zukunftsbezogenen Sinnstiftung. Rainer Gies, Wien, kontrastierte in seinem Beitrag "Die Geschichte des Übermorgen" die zukunfts- und damit zeitgebundenen Sinnstiftungsprozesse der Offizialdiskurse in der DDR mit den eher raumgebundenen Meistererzählungen in Österreich nach 1945. Während in Österreich Landschaften und Bauwerke die Kernelemente offizieller österreichischer Selbstdefinition und Selbstdarstellung nach außen waren, erfüllte in der DDR die als Verwirklichungsort der sozialistischen Utopie gedachte Zukunft diese Funktion. Daraus entwickelte Gies einen auf den ersten Blick sehr überzeugendes kategoriales Schema von progressiven, über das Versprechen einer ‚lichten Zukunft' integrierten zukunftsbezogenen Gesellschaften, die eine problematische Gegenwart durch den Verweis auf das ‚bessere Übermorgen' sublimieren könnten, und raumbezogenen Gesellschaften, deren insgesamt anderes Gegenwartsverständnis in einer konservativen, bewahrenden und zyklischen Zeitkultur verankert sei. In der Diskussion wurde dann jedoch deutlich, dass auch die Zeitnarrative der DDR eine dezidiert räumliche Dynamik hatten, die sich vor allem aus der Tatsache ergibt, dass in der deutsch-deutschen Konkurrenz die DDR ja der Ort in Deutschland war, an dem der sozialistische Zukunftsstaat partiell angebrochen zu sein schien.

Martin Sabrow schließlich probierte in seinem Beitrag "Zukunftsverlust und Herrschaftserosion im ‚Dritten Reich' und in der DDR" den Umgang mit Zeit als Grundlage für einen Diktaturvergleich aus, und fragte, ob es nicht einen ursächlichen Zusammenhang gebe zwischen den systemspezifischen Unterschieden in den jeweiligen Zeitkulturen und der Art und Weise, wie die beiden deutschen Diktaturen zusammenbrachen. Anders als es Gies nahe legte, bildeten die sozialistischen Gesellschaften nach Sabrow keine alle Bereiche des Lebens gleichermaßen erfassende und durchziehende Beschleunigungsästhetik aus, sondern beschränkten die Tempoästhetik weitgehend auf die Arbeitswelt. Dominant seien hier die Aspekte der linear rationalen Dienstbarmachung von Zeit, Planung und Eintaktung von Zeit gewesen. Demgegenüber habe der Nationalsozialismus eine allumfassende, in den Kernbegriff von "Schwung" und "Kampfeswillen" gründende Tempoerfahrung mobilisiert, die sich jedoch durch eine fortlaufende Synthese von "Tempo" und "Ruhe", von "Schnelligkeit" und "Kontrolle" zugleich auch von der als Ausfluss liberal-kapitalistischer Werthierarchien begriffenen Hektik und Unrast der Weimarer Republik abgrenzen wollte. Paradigmatisch sei dies im Autobahnbau zum Ausdruck gekommen, bei dem nicht die schnellste Verbindung, sondern die landschaftlich schönste Strecke die Wegeführung bestimmte. Da wo es in der DDR um Takt und rational-planerische Dienstbarmachung von Zeit gegangen sei, ging es im NS-Staat um Rhythmus und die rhythmische Versöhnung von Beschleunigung und Entschleunigung.

Die NS-Zeitkultur unterlag, so Sabrow, mit der Dauer des Regimes und vor allem dem Fortgang des Zweiten Weltkrieges einem Prozess der radikalen Entzeitlichung. In dieser "Flucht in die Ewigkeit", die mit der Dauer der NS-Herrschaft immer stärker zum Ausdruck kam, suchte Sabrow eine Erklärung dafür, warum die NS-Gesellschaft und ihre politische Führung trotz der im Verlauf des Krieges dramatisch schrumpfenden Zukunftshorizonte so erstaunlich resistent waren gegen den Zerfall aller Zukunftsperspektiven. Demgegenüber konstatierte er für die DDR eine in den 1970er Jahren bereits einsetzende und sich dann rasant beschleunigende Erosion der Zukunftsgewissheit. Die rapide Entleerung des Fortschrittspathos trug maßgeblich zum inneren Zerfall des SED-Regimes bei. Utopieverlust bedeutete hier Legitimitätsverlust, und dieser Zusammenhang ist dann auch eine Erklärung dafür, warum der DDR-Sozialismus so vergleichsweise lautlos in sich zusammensank. Weniger äußerer Druck und Zwänge ließen das DDR-Regime implodieren, als vielmehr der mit dem Verlust der Zukunft einhergehende innere Akzeptanzverlust in der eigenen Gesellschaft.

Von besonderer, ausgesprochen politischer Relevanz wird die Frage nach unterschiedlichen Zeitkulturen und Differenzen im Epochenbewusstsein, je näher wir an die eigene Gegenwart kommen, deren Beginn scheinbar auf die doppelte Zäsurerfahrung 1989/91 und 11. September 2001 zu datieren ist. Die historische Einordnung dieser beiden vermeintlich oder tatsächlich zeitalterscheidenden Umbrüche und die Aufhellung der Zusammenhänge zwischen ihnen, das war die anspruchsvolle Aufgabe, die sich die von Wilfried Loth, Duisburg, organisierte Sektion "Nichts mehr wie es war? Der 11. September und die Wende von 1989 in historischer Perspektive" vorgenommen hatte. Dies unter anderem auch deshalb, um die diesbezüglichen Diskussionen nicht mehr nur den "Experten der Gegenwart" (W. Loth) zu überlassen. Das Thema von den konkurrierenden "time communities" und den Auswirkungen dieser Konkurrenz für das "politische Handeln aus historischem Bewusstsein" (T. Schieder) 4 wurde besonders deutlich in den Vorträgen von Detlef Junker, Heidelberg, "Die USA und Europa. Adaption, Erosion oder Bruch?" und Gudrun Krämer, FU Berlin, "Die arabische Welt. Integration oder Isolation?"

Junker beantwortete die von ihm selbst aufgeworfene Frage eindeutig: Seit dem Ende des Kalten Krieges und verstärkt seit dem 11. September 2001 unterliege das Verhältnis der USA zu Europa einem Prozess der Erosion - und dieser hänge nicht an der Person des Präsidenten George W. Bush, sondern sei strukturell bedingt. Ohne es mit diesem Begriff zu bezeichnen oder sich in diesen analytischen Bahnen zu bewegen, machte Junker klar, dass die gegenwärtige U.S.-amerikanische Politik von einem Epochenbewusstsein getragen ist, das sich in seinen wesentlichen Elementen in etwa so skizzieren lässt: Mit dem Ende des Kalten Krieges sei die Zeit einer unipolaren Welt angebrochen. In dieser seien die USA die einzig verbliebene Führungsmacht, deren enormen technologischen Vorsprung die anderen Mächte nicht einholen und deren erdrückendem militärischem Übergewicht die übrigen Mächte nicht auch nur annähernd Vergleichbares entgegenzusetzen hätten. Das U.S.-amerikanische Militär erscheint vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose als Weltarmee, die sich fallweise jeweils regionale Bündnispartner sucht, um Krisenherde zu eliminieren, Stabilität zu garantieren und die Globalisierung von ‚liberty' und ‚property' durchzusetzen. Dieses Selbstbild der einzig verbliebenen Supermacht treibe eine "neue amerikanische Unilateralität" aus sich hervor, die einhergehe mit einer tiefen Verachtung für die Europäer und die EU. Insgesamt konstatierte Junker einen Bedeutungsverfall Europas aus Sicht der U.S.-Führungseliten; die Amerikaner bräuchten Europa einfach nicht mehr.

Gudrun Krämer wies in ihrem Vortrag auf das so ganz anders strukturierte Zeit- und Geschichtsverständnis der orientalischen Welt hin und ging der Frage nach, ob die Wende von 1989/91 und der 11. September 2001 in der arabischen Welt auf die gleiche Art als Zäsuren wahrgenommen und erfahren wurden, wie dies in der westlichen Welt der Fall war. Weder der Fall der Mauer noch der Anschlag auf das World Trade Center markierten in der arabischen Welt eine Zäsur, argumentierte Krämer. Zwar sei 1989/91 auch für die arabische Welt das Ende der Bipolarität gekommen, doch stehe dieses Datum in der arabischen Wahrnehmung eher für den Aufbruch anderer. An dem Epochenbewusstsein der arabischen Welt, in einer seit langem währenden Krisen- und Schwächeperiode zu leben, habe das Ende des Kalten Krieges ebenso wenig etwas geändert wie der 11. September, obwohl der Anschlag von 2001 im Gegensatz zu 1989 aus der arabischen Welt selbst gekommen sei. An den Grundlagen der Machtstrukturen, an den Handlungsmustern und Akteurszusammenhängen hat die Erfahrung des 11. September nicht gerüttelt und auch die arabische Selbstwahrnehmung, die um die Schlüsselbegriffe "Krise" und "Opfer" kreise, sei dadurch nicht erschüttert worden. Vielmehr habe der von den USA angeführte Kampf gegen den Terrorismus und die U.S.-amerikanische Intervention in den Irak diese althergebrachten Selbstbeschreibungen noch einmal verstärkt.

Lässt sich also, das wäre dann meine Frage, der vielzitierte "clash of civilizations" im Kern als ein "clash of competing time communities" interpretieren; leben die westliche und die arabische Welt also in unterschiedlichen Zeitwelten und hilft uns diese neue Variation des Themas von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" die Konflikte unserer eigenen Gegenwart besser zu verstehen?

Fazit
Insgesamt waren in Kiel so vielfältige wie vielversprechende kommunikationsgeschichtliche Zugriffe auf die Zeitgeschichte zu beobachten, die sich freilich meist erst auf den zweiten Blick erschlossen. Auf diesen zweiten Blick wurde schnell deutlich, dass es für das Verhältnis von "Kommunikation und Herrschaft im 20. Jahrhundert" noch viel zu entdecken gibt, sofern das Phänomen nicht auf eine Geschichte der Propaganda und der Techniken der obrigkeitlichen Meinungsmanipulation oder auf eine simple Gleichsetzung von Medialisierung und Demokratisierung oder schlicht auf eine Geschichte der Massenmedien, ihrer Technik, ihrer Macher, ihrer Inhalte und ihres Publikums reduziert wird. In Kiel bewegten sich demgegenüber ganze Sektionen oder einzelne Beiträge jenseits dieser eingetretenen Pfade durchs 20. Jahrhundert und zeigten vielfältige Möglichkeiten auf, wie die immer noch stark politiklastige Zeitgeschichte durch die Einbeziehung kommunikationshistorischer Fragestellung kulturgeschichtlich erweitert werden könnte.

Am systematischsten geschah dies in den Sektionen von Frank Bösch/Norbert Frei und Martin Sabrow, die beide auf ihre Art neuartige Längsschnitte durch das 20. Jahrhundert zogen, anregende Systemvergleiche ermöglichten und damit ihren Beitrag zur Überwindung der weiterhin dominanten räumlichen und zeitlichen Kleinteiligkeit der Zeitgeschichte leisteten. Besonders ergiebig für das Projekt der kulturgeschichtlichen Erweiterung der Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts erwies sich in Kiel die eingehende Beschäftigung mit den unterschiedlichen Zeitkulturen von Herrschafts- und Gesellschaftsordnungen - ein Gegenstandsbereich, von dem Martin Sabrow meinte, dass dessen systematische Einbeziehung in die zeithistorische Forschung noch ausstehe. Dem ist nur zuzustimmen, weil in den für diesen Bericht referierten Beiträgen das Innovationspotential dieses Ansatzes kräftig genug durchschimmerte, um eine eingehendere Beschäftigung mit diesem Thema sinnvoll erscheinen zu lassen. Die Perspektive auf Zeitkulturen eröffnet nicht nur neue Zugriffe auf die verschiedenen 'Epochen' des 20. Jahrhunderts, sondern ermöglicht auch fruchtbringende Vergleiche, sowohl was diachrone Längsschnitte als auch was den synchronen Blick anbetrifft. Letzterer war besonders deutlich in der von Wilfried Loth geleiteten Sektion, die gerade durch den 'historischen Blick' auf die eigene Gegenwart ein stückweit dazu beitrug, eben diese Gegenwart neu und anders zu verstehen.

Diese innovativen Ansätze, die sich in Kiel beobachten ließen, sind auch ein Ergebnis der Tatsache, dass die meisten Beiträger in den von mir besuchten Sektionen erkennbar bemüht waren, sich auf das Rahmenthema einzulassen und "Kommunikation und Raum" für die eigenen Vorträge produktiv nutzbar zu machen, so unterschiedlich dann auch die Akzente jeweils gesetzt wurden. Gleichwohl wurden "Zeitkulturen" und "Herrschaft" in Kiel für meine Begriffe immer noch nicht eng genug auf "Kommunikation" bezogen, wurde das, was kommuniziert wurde, noch zu wenig in Abhängigkeit von dem Wie und dem Warum der Kommunikation analysiert. Es reicht unter kommunikationsgeschichtlichem Aspekt meines Erachtens nicht aus, Zeitkulturen und konkurrierende "time communities" in ihrer Relevanz für das Politische beschreibend zu rekonstruieren und kontrastierend miteinander zu vergleichen, wie es in Kiel meist geschah. Es hätte auch der Frage nach Mitteln, Strategien und Praktiken der Kommunikation bedurft, um das mit kommunikationshistorischen Ansätzen verbundene Erkenntnispotential voll auszuschöpfen.

Hinter diesem Plädoyer für eine stärkere Beschäftigung mit dem Wie der Kommunikation steht letztlich die Einsicht, dass soziale Sinn- und Vorstellungsbildung prozesshaft verläuft, dass kulturelle Sinn- und Ordnungssysteme keine sozialen Tatsachen an sich sind, sondern als "Konstruktionen am Rande des Chaos" (Berger/Luckmann) in und durch soziale Kommunikation entstehen. Sie werden zwischen verschiedenen Kommunikationspartnern ausgehandelt, erstritten, immer neu legitimiert, im Lichte neuer historischer Erfahrungen umgebaut oder für ungültig erklärt.5 Nicht zuletzt deshalb ist Kommunikation ja die Basiskategorie des Politischen und des Sozialen überhaupt.

PD Dr. Volker Depkat ist Privatdozent und wissenschaftlicher Oberassistent am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. Seine wissenschaftlichen Interessen liegen in der deutschen und nordamerikanischen Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Homepage: http://userpage.fu-berlin.de/~jfki/history/depkat_d.shtml

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu ausführlich: Depkat, Volker, Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung, in: Spieß, Karl-Heinz (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003, S. 9-48.
2 Requate, Jörg, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstand historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-32, hier: S. 15.
3 Schildt, Axel; Sywottek, Arnold (Hgg.). Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.
4 Schieder, Theodor, Politisches Handeln aus historischem Bewusstsein, in: HZ 220 (1975), S. 4-25.
5 Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1980, S. 111.