Historikertag 2012: Zeitgeschichte

Von
Hanno Hochmuth, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Besprochene Sektionen:

"Sound History"
"Zeitgeschichte ohne Ressourcen? Probleme der Nutzung audiovisueller Quellen"
"Gab es 'den' Wertewandel?"
"Reaktionen auf die globalen Energiekrisen der 1970/80er Jahre"
"Zeitpolitik und Zeit-Geschichte im 20. Jahrhundert"

Die Zeitgeschichte boomte auch auf dem Historikertag in Mainz. Knapp ein Drittel der 64 Sektionen befassten sich mit zeithistorischen Themen. Dabei wurde dem breiten Motto des diesjährigen Historikertags „Ressourcen – Konflikte“ auf sehr verschiedene Weise entsprochen. Einige Sektionen beschäftigten sich sehr direkt mit materiellen Rohstoffen und konflikthaften Reaktionen auf deren Verknappung, wobei die Zeit des Strukturbruchs im Mittelpunkt des Interesses stand und somit die gegenwärtige Debatte um die 1970er-Jahre fortgesetzt wurde. Andere Sektionen dehnten den Ressourcenbegriff und behandelten immaterielle Ressourcen wie Zeit und Werte und den Wandel dieser Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert. Mehrere Sektionen nahmen schließlich historische Quellen als primäre Ressourcen der zeithistorischen Forschung in den Blick und diskutierten die Möglichkeiten ihrer wissenschaftlichen Erschließung. Damit widmete sich der Mainzer Historikertag auch ganz elementaren handwerklichen Fragen der Zunft. Hierzu gehörte die gesteigerte Aufmerksamkeit für moderne Quellentypen, deren systematische Erschließung gerade erst einsetzt und besondere methodische Herausforderungen mit sich bringt.

Nachdem GERHARD PAUL (Flensburg) auf vergangenen Historikertragen die Auseinandersetzung mit den visuellen Quellen des 20. Jahrhunderts angeschoben hatte, warb er nun mit seiner Sektion „Sound History“ für einen neuen historischen Ansatz. Dabei stellte er die Beschäftigung mit dem Sound in einen engen Zusammenhang mit seinen bisherigen Arbeiten zur „Visual History“. So erhofft er sich durch eine Geschichte des Sounds ein besseres Verständnis für das visuelle Zeitalter. Der neuen „Sound History“, für die es noch keinen etablierten Begriff gebe, empfahl DANIEL MORAT (Berlin) methodische Anleihen bei den Sound Studies, die bislang vor allem an Kunsthochschulen, in der Musikwissenschaft, Medienwissenschaft und in der Ethnologie betrieben werden. Historiker seien auch in diesem Fall wie „Blutsauger in den Nachbardisziplinen“, müssten sich aber von ihren eigenen historischen Fragestellungen leiten lassen. Ziel sei dabei jedoch kein naiver Sound-Historismus („wie es eigentlich geklungen habe...“), so JAN-FRIEDRICH MISSFELDER (Zürich), sondern eine Akkustomologie als Sozialgeschichte von unten. Ein solcher gesellschaftsgeschichtlicher Zugang erweist sich jedoch als schwierig, wenn in der „Sound History“ vor allem bekannte akustische Ikonen wie Wagners Walkürenritt untersucht werden, der von Gerhard Paul als Fallbeispiel vorgestellt wurde. HANS-ULRICH WAGNER (Hamburg) betonte in seinem abschließenden Statement zur Klangarchäologie von Radiostimmen, dass auch Tondokumente keine historische Authentizität beanspruchen können, sondern das Ergebnis von Archivierungs-, Deutungs- und Kanonisierungsprozessen sind.

Um den Sound des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, bedarf es allerdings eines freien Zugangs zu den medialen Ressourcen. So war es nur konsequent, dass sich auf dem Mainzer Historikertag eine eigene Sektion der Frage „Zeitgeschichte ohne Ressourcen?“ widmete und die vielfältigen Probleme bei der Nutzung audiovisueller Quellen diskutierte. In seinem Eingangsstatement betonte CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam), dass in Deutschland ein erhebliches Zugangsproblem herrsche, das in einem großen Widerspruch zur Relevanz audiovisueller Quellen für die zeithistorische Forschung stehe. Die Archivierung der Rundfunkquellen werde allein den Produzenten überlassen, die ihrerseits sehr unterschiedliche Regeln für die Nutzung des Materials aufstellen würden. Die Medienanstalten würden die Aufzeichnungen vor allem als interne Produktionsressourcen verstehen und Historiker nur als „Störfaktor“ betrachten. Darüber hinaus gebe es ein massives Quellenproblem, da viele Aufnahmen aus der Frühzeit des Radios und des Fernsehens schlicht nicht erhalten seien oder sich in einem beklagenswerten Zustand befänden. LEIF KRAMP (Bremen) ergänzte, dass die Forschung in Deutschland durch vielfältige Probleme beim Sammeln, Finden, Sichten, Kopieren und Vorführen audiovisueller Quellen beeinträchtigt werde. In Frankreich gebe es dagegen eine Pflichtabgabe der Rundfunkanbieter an die Medienarchive, und in den USA dürften die Sendungen sogar von staatlicher Seite aufgezeichnet werden. Im internationalen Vergleich erweise sich Deutschland somit als „schwacher“ Staat, da es hier keine verpflichtende und vollständige Archivierung der Sendeinhalte gebe. VEIT SCHELLER (Mainz), Leiter des ZDF-Rundfunkarchivs, verwies dagegen auf die im Grundgesetz festgehaltene Medienfreiheit und verteidigte die Archivpraxis der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Auch hier werde in einem klassischen Bewertungsverfahren eine Auswahl getroffen, welche Aufnahmen dauerhaft erhalten bleiben sollten. Schwierigkeiten sieht er vor allem in der retrospektiven Erschließung der heutigen redaktionellen Begleitquellen, da die E-Mails aus den Redaktionen nicht dauerhaft archiviert würden. In der abschließenden Diskussion suchten die Teilnehmer der Sektion nach Möglichkeiten, wie die audiovisuellen Quellen zukünftig besser erhalten und freier zugänglich gemacht werden könnten. FRANK BÖSCH (Potsdam) plädierte dafür, gezielt an Rundfunkräte und politische Entscheidungsträger heranzutreten. Erwogen wurde auch eine Resolution des Historikerverbandes zur Sicherung des audiovisuellen Erbes. Erste Erfolge zeichnen sich im Nachklang der Sektion bereits ab. So prüft der Historikerverband derzeit Maßnahmen, wie Wissenschaftler mehr Rechtssicherheit bei der Nutzung und Zitation audiovisueller Werke bekommen können. Darüber hinaus besuchte die Historische Kommission der ARD das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und beriet über einheitliche Zugangsregeln für Wissenschaftler.

Ein Schwerpunkt der zeithistorischen Sektionen auf dem Mainzer Historikertag galt den 1970er-Jahren. Auf die prosperierenden Jahrzehnte der Nachkriegszeit folgte eine Zeit politisierter Deutungskämpfe, zu denen auch die zeitgenössischen Diagnosen Elisabeth Noelle-Neumanns, Robert Ingleharts und Helmut Klages’ über den Wandel ideeller Werte als zentraler gesellschaftlicher Ressource zählten. In der Sektion „Gab es ‚den’ Wertwandel?“ diskutierte ANDREAS RÖDDER (Mainz) den Wert der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen für die zeithistorische Forschung und unterzog sie einer kritischen Historisierung, indem er die Wertewandels-Diagnosen mit der historisch-empirischen Realität abglich und somit Gewissheiten zu den 1970er-Jahren hinterfragte. CHRISTOPHER NEUMAIER (Potsdam) zeigte anhand seiner Untersuchungen zum Wandel der Familienwerte in Deutschland, dass sich im Gegensatz zum ubiquitären Sprechen über die Familie kein umfassender Wandel der Sozialstruktur feststellen lässt. Zwar seien alternative Familienmodelle überall diskutiert worden, doch stellten die neuen Lebensformen in den 1970er-Jahren noch kein Massenphänomen dar. Ebenso verdeutlichte JÖRG NEUHEISER (Tübingen) am Beispiel des Daimler-Werks in Untertürkheim die Beharrungskraft traditioneller Vorstellungen von Wertarbeit. Von einem Verlust des Arbeitsethos, wie er in den 1970er-Jahren beklagt wurde, könne hier keineswegs die Rede sein. Die beabsichtigte empirische Dekonstruktion des zeitgenössischen Wertewandel-Diskurses konnten die Beiträge der Sektion oft nur andeuten. Deshalb mahnte LUTZ RAPHAEL (Trier) in seinem Kommentar eine sozialhistorische Präzisierung an, da es bislang noch an breiten historischen Forschungen zu Arbeit und Familie in den 1970er-Jahren fehle. Zugleich forderte er jedoch auch eine wissenschaftsgeschichtliche Präzisierung, da sich die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse als Tatsachen tarnten und so die Werte selbst beeinflussten. Die 1970er-Jahre waren, so Raphael, auch eine Revolution der Semantik.

Mit den „Reaktionen auf die globalen Energiekrisen der 1970/80er Jahre“ befasste sich die gleichnamige Sektion von FRANK BÖSCH (Potsdam) und RÜDIGER GRAF (Bochum). Im Gegensatz zu den Wertewandelsdebatten standen hier Ressourcen im engeren Sinne im Mittelpunkt. Dabei bildete die Beobachtung den Ausgangspunkt, dass die erste Ölkrise von 1973 allgemein als zentrale Zäsur gelte, aber historisch bislang nicht ausreichend erforscht sei. In seinem Vortrag beschäftigte sich Rüdiger Graf mit der Frage nationaler Souveränität in einer Welt des Öls. Demnach bildeten die Ansprüche der OPEC-Länder eine große Herausforderung für die Souveränität der westlichen Staaten, da deren Legitimität vor allem auf ihrem Wohlstand gründete. Dieser Wohlstand basierte wiederum auf dem Öl, das in den 1950er-Jahren die Kohle als wichtigsten Energierohstoff abgelöst hatte. Die westlichen Länder reagierten auf diese Abhängigkeiten bereits vor der ersten Ölkrise mit gezielten Autarkiebestrebungen in Gestalt neuer Energieprogramme. Mit der Gründung internationaler Zusammenschlüsse verzichteten sie schließlich partiell auf ihre nationale Souveränität, um den Zugriff auf das Öl sicherzustellen. Im Gegensatz zur ersten Ölkrise fehlen für die zweite Ölkrise von 1979 vergleichbar populäre Medienikonen wie die leeren Autobahnen in der Bundesrepublik. Gleichwohl war die zweite Ölkrise in globaler Perspektive wesentlich einflussreicher, wie Frank Bösch in seinem Vortrag deutlich machte, denn diese koinzidierte mit dem Atomunfall in Harrisburg und der Iranischen Revolution und betraf auch den Ostblock viel stärker. Die Energiefrage gewann die größte politische Priorität und hatte einschneidende Folgen für die internationalen Beziehungen, aber auch für den Ausbau anderer Energieressourcen und für den Energieverbrauch. Dass die Länder hierbei sehr unterschiedliche Wege verfolgten, zeigte INGO KÖHLER (Göttingen) am Beispiel von Debatten über den Benzinverbrauch. So setzten die USA auf technische Produktnormierungen, um die Autos sparsamer zu machen, während die Bundesrepublik die Nutzung von PKW temporär reglementierte. Auch wenn es heute keine autofreien Sonntage mehr gibt, zeigte die Sektion doch, wie sehr die Folgen der beiden Ölkrisen bis in die Gegenwart hineinreichen. Deutlich wurde aber auch, dass ein differenzierter Blick auf die 1970er-Jahre als Jahrzehnt des Strukturbruchs notwendig ist.

Wie schon auf früheren Historikertagen gab es auch in Mainz eine Sektion, die eine besonders große Aufmerksamkeit auf sich vereinigen konnte, weil sie zentrale Fragen nach dem Selbstverständnis der Historikerzunft aufwarf. Mit ihrer Sektion „Zeitpolitik und Zeit-Geschichte im 20. Jahrhundert“ widmeten sich ALEXANDER C.T. GEPPERT (Berlin) und TILL KÖSSLER (Bochum) der Zeit als der zentralen Kategorie des historischen Denkens und unterzogen sie einer kritischen Historisierung, indem sie nach dem Wandel von Zeitkonzepten und -konflikten im 20. Jahrhundert fragten. Wiewohl die Sektion den hohen Erwartungen nicht ganz gerecht werden konnte, eröffneten einige Beiträge neue Perspektiven auf die Zeit-Geschichte. Besonders eindrucksvoll, wenn auch aus früheren Zusammenhängen bekannt, war die Quelle, die ALF LÜDTKE (Erfurt) in den Mittelpunkt seines Vortrags stellte. Am Beispiel eines Essener Tagebuchs zeigte er, wie sich die Zeitlichkeit der Tagebucheinträge während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu den Alltagsnotizen aus den 1920er-Jahren verdichtete. Zugleich mahnte Lüdtke jedoch zur Vorsicht. Anstelle einer Beschleunigung der Zeitwahrnehmung während des Krieges vermutet er eher deren Intensivierung. Till Kössler zeigte in seinem Vortrag, wie das statische Selbstbild des frühen Franco-Regimes in den 1960er-Jahren einem neuen Selbstverständnis als Entwicklungsdiktatur in einem als rückständig empfundenen Land wich. Die rhetorische Dynamisierung der Herrschaftsform in der späten Franco-Zeit ging mit neuen Zeitordnungen einher, die jedoch auf den Widerstand der Bevölkerung stießen. Da sich die Franco-Diktatur 30 Jahre zuvor noch mit Gewalt gegen eine fortschrittsoptimistische Republik durchgesetzt hatte, entbehrt dieser doppelte Wandel von Zeit- und Zukunftsvorstellungen nicht einer gewissen Ironie und wirft neue Perspektiven auf die Entwicklung Spaniens im 20. Jahrhundert. Von einer großen Inversion der Zeitressourcen in der deutschen Zeitgeschichte sprach PAUL NOLTE (Berlin). Während die historischen Unterschichten früher erheblich mehr und länger als die Oberschicht arbeiten mussten, identifiziert er seit den 1970er-/80er-Jahren eine deutliche Arbeitszeitverringerung der neuen Unterschichten durch Teilzeitarbeit, Dauerarbeitslosigkeit und Frühverrentung, wohingegen sich bei den Oberschichten und oberen Mittelschichten eine immer stärkere Ausweitung und Entgrenzung von Arbeit ausmachen lasse. Die fortschreitende Unterhöhlung des klassischen 9-to-5-Arbeitszeitmodells für Beamte, Manager und Professoren und neue Zeitkrankheiten wie „Burn-out“ gingen mit diesem Wandel der Zeitregimes einher. Alexander Geppert entwarf in seinem Vortrag schließlich eine besonders radikale Perspektive auf die Verschiebung von Raum- und Zeitvorstellungen im 20. Jahrhundert. Er zeigte, wie die Erschließung des Weltraums eine immer größere Beherrschung von Raum und Zeit versprach, wobei Astrofuturismus und Zukunftsoptimismus eng miteinander verbunden waren. Die 1970er-Jahre bildeten jedoch auch hier eine Zäsur. Der ungebremste Fortschrittsglaube wich einer neuen Wertschätzung der Erde, die nicht zuletzt durch die ersten Aufnahmen des blauen Planeten aus dem Weltraum ausgelöst wurde.

Auf dem Mainzer Historikertag wurden zahlreiche Ereignisse des 20. Jahrhunderts als Medienikonen betrachtet. Eine besondere Aufmerksamkeit lag dabei auf den modernen audiovisuellen Quellen, vor allem auf dem Sound des Jahrhunderts. Die Sektion „Sound History“ gehörte zu einer ganzen Reihe von Sektionen, die sich mit dem wissenschaftlichen Zugang zu historischen Quellen beschäftigten und damit das Kernstück der geschichtswissenschaftlichen Forschung thematisierten. Dabei wurden auch ganz traditionelle Historikerquellen diskutiert, die inzwischen für immer näher heranreichende Zeiträume zur Verfügung stehen. Die 1970er-Jahre waren auf dem Mainzer Historikertag allgegenwärtig. Das Jahrzehnt gerät derzeit verstärkt in den Fokus der zeithistorischen Forschung, nicht zuletzt weil die dreißigjährige Aktensperrfrist abgelaufen ist und auf Grundlage des Bundesinformationsfreiheitsgesetzes auch Sperrakten leichter zugänglich werden.1 Die 1970er-Jahre boomen jedoch vor allem deshalb, weil sie uns mehr und mehr als Vor- und Problemgeschichte unserer Gegenwart erscheinen, wie LUTZ RAPHAEL (Trier) auf dem Historikertag erneut konstatierte. Zugleich machten die Sektionen auf dem Historikertag aber auch deutlich, dass die modische Zäsur nicht per se für alle Bereiche der zeithistorischen Forschung geltend gemacht werden sollte. Um zu einem fundierten und differenzierten historischen Urteil zu gelangen, müssen die 1970er-Jahre noch genauer untersucht werden. Hierfür hat sich der Zugang über Ressourcen und Konflikte sichtlich bewährt.

Anmerkung:
1 Zum Thema VS-Akten gab es auf dem Mainzer Historikertag eine eigenständige Sektion. Vgl. den Tagungsbericht von Elsbeth Andre: Zeitgeschichte, Archive und Geheimschutz – Ressourcen und Konflikte bei der Nutzung von Quellen. 25.09.2012-28.09.2012, Mainz, in: H-Soz-u-Kult, 07.11.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4474> (07.02.2013).