Historikertag 2012: Didaktik der Geschichte

Von
Simone Rauthe, Historisches Institut, Universität zu Köln

Besprochene Sektionen:

"Europäische Geschichtsbücher, digitale Lernplattformen oder bilaterale Schulbuchprojekte? Transkulturelle Sichtweisen in der europäischen Schulbuchdarstellung"
"Medialer Geschichtsunterricht: Innovation statt Beliebigkeit - Öffentlich-rechtliche Medien und Geschichte"
"Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft – und warum ein solches Ideal im Prozess des historischen Lernens unweigerlich Konflikte auslöst"
"Ressourcen von Geschichtslehrkräften – Ressourcen für den Geschichtsunterricht?"

Das Motto des Historikertags 2012 „Ressourcen-Konflikte“ erwies sich für die geschichtsdidaktischen Sektionen als äußerst segensreich. Es ermöglichte wichtige Spannungsfelder des derzeitigen Geschichtsunterrichts, das transkulturelle Geschichtslernen, die Leitmedien „Schulbuch“ und „Internet“ sowie das Fach „Geschichte unterrichten zu lernen“, sektionsübergreifend zu verbinden.

Insbesondere in der Sektion „Europäische Geschichtsbücher, digitale Lernplattformen oder bilaterale Schulbuchprojekte?“ gelang es verschiedene Initiativen wie das organisch wachsende europäische Geschichtsportal HISTORIANA1 (GEERT KESSELS, Den Haag, und SYLVIA SEMMET, Speyer), das deutsch-französische Geschichtsbuch (PIERRE MONNET, Frankfurt am Main, PETER GEISS, Berlin, und RAINER BENDICK, Osnabrück) sowie das deutsch-polnische Schulbuchprojekt (KARL HEINRICH POHL, Kiel, und ROBERT TRABA, Berlin) gleichzeitig zu präsentieren und zu problematisieren. Dazu verhalf auch die Außenperspektive von MARAT GIBATDINOV (Kazan), der positive und negative Stereotype der Tataren-Völker in deutschen und europäischen Schulbüchern aufdeckte.

Die Repräsentanten der beiden bilateralen Schulbücher betonten, die Projekte besäßen einen Wert für die historisch-politische Verständigung der jeweiligen Länder an sich, räumten aber auch Durchsetzungsschwierigkeiten in den Schulen ein. Herausragend war der Beitrag von PETER GEISS (Berlin), der in einem fiktiven Gespräch zwischen einem Deutschen und einem Franzosen den „Dialog der Unterrichtskulturen“ während der Schulbucherarbeitung karikierte. Dabei erregte die Charakterisierung der Deutschen „als Hohe Priester der Kompetenzorientierung“ Heiterkeit im Hörsaal. Später wieder ernster, schrieb Geiss der deutschen Geschichtsunterrichtskultur die Merkmale „Autonomie und Diskursivität“ und der französischen „Struktur und Verbindlichkeit“ zu und sah in dem vorliegenden deutsch-französischen Ansatz eine gelungene Synthese.

KARL HEINRICH POHL (Kiel) und ROBERT TRABA (Berlin) verwiesen neben den unterschiedlichen Unterrichtskulturen in Deutschland und Polen auch auf inhaltliche Schwierigkeiten. Die deutsch-polnische Geschichte sei noch heiß und Traba rekurrierte dabei auf die Deutung von Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er verwies zudem auf die Perspektive des Buchs: „Weltgeschichte durch die deutsche und polnische Brille“.

Leider wurde die kluge Leitfrage von SIMONE LÄSSIG (Braunschweig, Georg-Eckert-Institut) „Verständigung um welchen Preis?“ in der Abschlussdiskussion zu wenig aufgegriffen. Mit Rückbezug zu den jeweiligen Einführungen von ULRICH BONGERTMANN (Rostock) und ROLF WITTENBROCK (Saarbrücken) thematisierte sie die mögliche „Reduktion des Innovationspotentials bi- oder transnationaler Projekte durch die Vielzahl von Rahmungen“ durch die beteiligten Akteure, die jeweiligen curricularen Vorgaben und die Bedingungen der Schulbuchproduktion. Stattdessen verteidigte WALTRAUD SCHREIBER (Eichstätt) die Kompetenzorientierung, indem sie unter Bezug auf die europäische Geschichte forderte, die Lernenden müssten das Konzept „Konflikt“ kennen. Ein Geschichtslehrer aus Hannover verlangte hingegen von Didaktikern „Inhalte zu verantworten und nicht auf den Tisch der schulischen Fachkonferenzen abzuwälzen“. In Verbindung dieser beiden Interessen hätten aus dem Fundus der vorgestellten bi- und transnationalen Projekte mehr konkrete Konflikte der europäischen Geschichte aufgezeigt werden müssen, anhand derer das Konzept „Konflikt“ im Geschichtsunterricht exemplarisch erarbeitet werden kann.

Die idealisierte Vorstellung der selbstständigen Arbeit von Schülerinnen und Schülern mit dem Internet bestimmte auch die Sektion „Medialer Geschichtsunterricht. Innovation statt Beliebigkeit – öffentlich rechtliche Medien und Geschichte“. Die Sektion diente im Schwerpunkt der Vorstellung der Homepage des Geschichtslehrerverbands2 (CHRISTIAN JUNG, Eberbach) und des im Internet oder als DVD verfügbaren, durch Unterrichtsmaterialien ergänzten Geschichtsfernsehens zweier Rundfunkanstalten.

NIKO LAMPRECHT (Wiesbaden) unterstrich zunächst die große Bedeutung der neuen Medien für den Geschichtsunterricht und wollte „Jugendliche dort abholen, wo sie stehen“. Auch STEFAN BRAUBURGER (Mainz), stellvertretender Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte, betonte die Erwartungshaltung der Jugendlichen, im Geschichtsunterricht mit neuen Medien zu lernen. Er empfahl acht ZDF-Formate, darunter die 20-teilige Serie „Die Deutschen“3 und das Projekt „Gedächtnis der Nation“.4 ULRICH BROCHHAGEN (Leipzig) navigierte die Sektionsteilnehmer durch das beachtenswerte gemeinsame Internetprojekt „Eure Geschichte“5 (DDR-Geschichte) von MDR und Geschichtslehrerverband mit ausführlichen Lehrerinformationen. Er beabsichtigt die Schülerinnen und Schüler „zu sinnvollem Surfen anzustiften“.

Kritisch flankiert wurde die Vorstellung der Internetressourcen von RALPH ERBAR (Mainz, VGD), der das Potenzial von Geschichtsfernsehen in der Schule auslotete und dabei noch einmal auf den Konstruktcharakter von Geschichte, die Bedeutung des Films als Quelle und das Problem des Zeitzeugenfernsehens verwies und schließlich forderte, Filme im Geschichtsunterricht medienkritisch anzugehen. Ebenso wog VADIM OSWALT (Gießen) auf der Basis eines Modells, mit dem die „Geschichtskultur“, die „Historische Bildung“ und die „jugendliche Lebenswelt“ als interdependent charakterisiert wurden, „Möglichkeiten des web 2.0“ und „Lernfallen“ gegeneinander ab und riet den „kritisch-partizipativen Umgang“ mit neuen Medien zu stärken.

Da die Lernenden außerhalb des Geschichtsunterrichts weniger mit Quellensammlungen, umso mehr mit „fertiger“ Geschichtsdarstellung konfrontiert werden, sind Public-History-Produkte im Geschichtsunterricht unverzichtbar. Doch leider hat sich die Sektion an den eigentlichen Kern des Problems, wie man Geschichtsfernsehen dekonstruiert, nicht herangewagt. Wie sollen die Schülerinnen und Schüler beispielsweise beurteilen lernen, ob die Aufnahme Karls des Großen in die ZDF-Serie „Die Deutschen“ überhaupt gerechtfertigt ist und welche Absicht die Redaktion damit verfolgt?

In Zeiten, in denen öffentlich über Konventionen im Umgang mit digitalen Medien diskutiert und teils eine ‚digitale Diät’ gefordert wird, muss der Einsatz des Internets im Geschichtsunterricht gut begründet sein. Geschichte kann nicht bloß ein Vehikel sein, um die Informationsentnahme aus dem Internet zu üben. Daher hätte die Sektion die Stärken der vorgestellten Formate hervorheben müssen: Sie bieten im Gegensatz zum Schulbuch audio-visuelle Quellen an, die in eine „digitale Erzählweise“ (Oswalt) eingebunden sind.

Der Titel der Sektion „Geschichte als Ressource des Menschseins in der Migrationsgesellschaft“ erinnert an die Forschungsperspektive der Historischen Anthropologie, die in den 1980er-Jahren auch von der Geschichtsdidaktik aufgegriffen wurde. Doch das „leitende Paradigma“ der als zwei Round Tables (I. Grundlagen, II. Empirie) organisierten, interdisziplinär ausgerichteten Sektion war die „Diversität“ im Geschichtsunterricht: „Wer darf wann welche Geschichten erzählen?“, fragte MARTIN LÜCKE (Berlin) und betonte die Bedeutung der „Mikro-Narrative“. MICHELE BARRICELLI (Hannover) setzte die theoretische Rahmung der Sektion fort, indem er die Überwindung der Meistererzählung und des Eurozentrismus beschwor („Geschichte als postkoloniale Kulturwissenschaft“).

Dass die Psychologie und Pädagogik wichtige Bezugsdisziplinen geschichtsdidaktischer Überlegungen zum transkulturellen Lernen sind, bewies zuerst JÜRGEN STRAUB (Sozialtheorie und -psychologie, Bochum), der in seinem bemerkenswerten Diskussionsbeitrag auf Geschichten verwies, die Allen zu schaffen machen: Geschichten ausgeübter und erlittener Gewalt. Letztendlich gehe es beim transkulturellen Geschichtslernen um die Anerkennung von Verletzungen. WERNER HERZOG (Allgemeine und historische Pädagogik, Bern) hob mit seiner Leitfrage „Was konstituiert die Möglichkeit von Unterricht?“ die soziale Dynamik im Prozess des Geschichtsunterrichts hervor. Auf Basis empirischer Befunde postulierte er, die Prozessmerkmale des Unterrichts seien wichtiger als die Strukturmerkmale.

Neben vielen weiteren Diskussionsimpulsen wie dem „Schweizermachen“ und der Diskussion um den Einbürgerungstest im Kanton Aargau von BÉATRICE ZIEGLER (Aarau) könnte das noch ganz am Anfang stehende Forschungsvorhaben von CARLOS KÖLBL (Bayreuth), LENA DEUBLE und LISA KONRAD (beide Hannover) der empirischen Rekonstruktion von interkulturellem Lernen im Geschichtsunterricht mit einem eigens entwickelten Forschungsstil in Anlehnung an die Grounded Theory und die Dokumentarische Methode (Verfahren qualitativer Sozialforschung), weiterführend sein. Ob und inwiefern im Geschichtsunterricht überhaupt interkulturell gelernt, also eine Verhaltensänderung (Arbeitsbegriff Kölbl) herbeigeführt werden kann, bleibt nämlich weiterhin offen.

Die beiden an die Round Tables anschließenden Diskussionsrunden orientierten sich an dem in der Sektion vertretenen geschichtstheoretischen Zugriff und dem „Ernstfall“ im Klassenzimmer: Auf die Frage eines Osteuropahistorikers: „Wie deutsch ist Ihre Diskussion?“ räumten die Sektionsleiter den westlichen Ursprung des Diversity-Konzepts ein. In Reaktion auf LARS DEILE (Berlin), der über die Herausforderung des Konzepts für die akademische Lehrerbildung referierte, wurden die Begriffe „Ausländerpädagogik“, „Interkulturalität“ und „Transkulturalität“ reflektiert. In diesem Zusammenhang wies JOSEFINE PAUL (MdL, Düsseldorf), Sprecherin für Frauen- und „Queer“-politik für BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, auf die Problematik der inhaltlichen Unbestimmtheit dieser und anderer Begriffe wie „Inklusion“ in der politischen Diskussion hin.

Leider konnten die zahlreich anwesenden Geschichtslehrer/ innen und Fachleiter/ innen aus der Sektion kaum konkrete Hinweise für die Gestaltung von Unterrichtsprozessen, in denen die Lernenden verschiedenster Herkunft ihre Geschichten einbringen und diese gegenseitig anerkennen, mitnehmen. So hätte auch diskutiert werden müssen, wie mit den Geschichtenerzähler/ innen im Unterricht verfahren werden soll, die Diversität partout nicht zulassen möchten. Und zuletzt: Müssen die Lernenden nicht zunächst eine Meistererzählung als solche identifizieren können und sich ihrer westlichen Perspektive bewusst sein, bevor sie im Stande sind anders zu denken?

Mit der inhaltlich und forschungsstrategisch wichtigen Sektion „Ressourcen von Geschichtslehrkräften – Ressourcen für den Geschichtsunterricht“ konnten erste empirische Studien zu der fachwissenschaftlichen und -didaktischen Expertise von Geschichtslehrkräften und deren Selbstverständnis gebündelt werden. Endlich die Profession der Geschichtslehrer/ innen in den Blick zu nehmen wird viel Anklang bei den Praktikern finden und verspricht zudem eine hohe Anschlussfähigkeit an die Forschung in den Bildungswissenschaften.

Ausgehend von den bekannten, immer noch nachdenklich stimmenden Befunden der Belastungen des Lehrerberufs von Uwe Schaarschmidt (2004) auf arbeitspsychologischer Grundlage und der aktuellen Allensbach-Studie „Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik“ (2012), definierte MANFRED SEIDENFUSS (Heidelberg) „das Unterrichten lernen“ als wichtigste Ressource der Geschichtslehrkräfte. Er regte an, den Prozess der Professionalität unter drei Forschungsperspektiven zu betrachten: „strukturtheoretisch, kompetenztheoretisch und berufsbiografisch“.

Die im ersten Teil der Sektion präsentierten empirischen Studien und ihre Befunde zeugten von den interessanten Facetten des innerhalb der Geschichtsdidaktik noch am Anfang stehenden Forschungsfelds: GEORG KANERT (Heidelberg) befasste sich mit der Wirksamkeit der Geschichtslehrerbildung auch im Zusammenhang mit dem vielfach diagnostizierten „Praxisschock“. MONIKA FENN (Potsdam) beabsichtigt mit ihrer Studie nachzuweisen, dass sich die von herkömmlichen frontal-instruktiven Unterrichtsmustern überzeugten Probanden und Probandinnen mit einem eigens konzipierten Seminar für ein offeneres, auf die Selbsttätigkeit von Schülerinnen und Schülern zielendes Unterrichtskonzept gewinnen lassen. MARKUS DAUMÜLLER (Heidelberg) fragte in seiner Studie, wie Geschichtslehrer ihre Berufsbiografie konstruieren. BJORN WANSINK (Utrecht) deckte auf, dass niederländische Sekundarschullehrer Geschichte zwar als Konstruktion auffassen, diese epistemologische Überzeugung aber nicht zur Grundlage des Geschichtsunterrichts machen.

MARKO DEMANTOWSKY (Basel) und DIRK URBACH (Bochum) gewährten im zweiten Teil der Sektion einen Einblick in die Erforschung der Fach- und Selbstkonzepte angehender und praktizierender Geschichtslehrerinnen und –lehrer im Ruhrgebiet. Einführend verwies DEMANTOWSKY auf die Notwendigkeit der „Grundlagenforschung ohne Anwendungsanspruch“ im Bereich der „Fachlichkeit“ von Geschichtslehrkräften und regte eine induktive, langfristige und vergleichende empirische Vorgehensweise an. Dabei erachtete er die Erforschung des „pedagogical content knowledge“6, eine Art pädagogisches Geschichtswissen der Kolleginnen und Kollegen, für zentral. Auch THOMAS SANDKÜHLER (Berlin) rekonstruierte das Verhältnis von Fachwissen und fachdidaktischem Wissen bei 86 Berliner Studierenden des Master of Arts und Education.

Das anscheinend dringende Problem der mangelnden fachwissenschaftlichen Kenntnisse von jungen Geschichtslehrkräften und die Nutzung des Internets für die Unterrichtsvorbereitung wurden in den Diskussionen rege aufgegriffen: Ein Fachleiter bezweifelte die Selbsteinschätzung von jungen Lehrenden in der Studie von KANERT, die die Erarbeitung von Fachwissen bei weitem nicht auf Platz eins ihrer neuen Anforderungen sahen. Ein Lehrer wies auf die seit Jahrzehnten bestehende thematische Inkongruenz zwischen den Universitätsseminaren und den Anforderungen des Geschichtsunterrichts hin.

Den Prozess der Geschichtslehrer-Professionalisierung umfassend empirisch zu erforschen wird noch viel Anstrengung erfordern. Weiterführend wäre sicher auch zu fragen, welche Unterrichtsmaterialien Geschichtslehrerinnen und -lehrer verwenden und wie sie diese inhaltlich und didaktisch verstehen.

Die besonders guten Momente in den Sektionen waren die, in denen die vielen anwesenden Lehrenden und Fachleitenden für aktuelle geschichtsdidaktische Forschungsperspektiven interessiert werden konnten und sich ein konstruktives Gespräch ergab. Die Geschichtsdidaktik war gefragt und sie sollte mehr Antworten geben, jenseits von Rezepten.

Anmerkungen:
1 <http://www.historiana.eu> (07.12.2012).
2 <http://www.geschichtslehrerverband.de> (07.12.2012).
3 <http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/web/ZDF.de/Die-Deutschen/22587150/22785462/bf4afb/Alle-20-Folgen-von-Die-Deutschen.html> (07.12.2012).
4 <http://www.gedaechtnis-der-nation.de> (07.12.2012).
5 <http://www.mdr.de/damals/eure-geschichte/index.html> (07.12.2012).
6 Konzept des amerikanischen Psychologen Lee S. Shulman, 1986.

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