Historikertag 2010: Geschichte jenseits des Nationalstaats - imperiale und staatenlose Perspektiven

Von
Benno Gammerl, Forschungsbereich Geschichte der Gefühle, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Besprochene Sektionen

"An den Grenzen des Nationalstaats. Staatsbürger und Staatenlose zwischen Heimatlosigkeit und Weltbürgertum"
"Grenzüberschreitungen an imperialen Randzonen. Biographische Zugänge zum transkulturellen Austausch"
"Grenzgänger – Imperiale Biographien in Vielvölkerreichen. Das Habsburger, das Russische und das Osmanische Reich im Vergleich (1806–1914)"
"Die Darstellung von Grenzen und Grenzen ihrer Darstellung. Karten in Ostmitteleuropa als Medium von Geschichtskultur und Geschichtspolitik"

Über den Grenzen nationalstaatlicher Container sucht die Geschichtswissenschaft heutzutage immer häufiger ihr Glück. Neben globalhistorischen Ansätzen gibt es noch weitere Passagen ins Jenseits der Nationalstaatshistoriografie, von denen zwei hier im Zentrum stehen sollen: die Geschichte, die sich in den meist engen Lücken zwischen den nationalstaatlichen Behältern abspielte und die Geschichte von imperialen Formationen.

Auf dem Historikertag 2010 in Berlin nahmen mehrere Sektionen derlei nicht-nationalstaatliche Räume und Konstellationen in den Blick. Die folgende Zusammenfassung stellt drei Aspekte der dort geführten Diskussionen ins Zentrum: Erstens, das Verhältnis zwischen Nationalstaatstaatlichkeit einerseits, Imperialität andererseits sowie nicht-nationaler, etatistischer Staatlichkeit als einer dritten zentralen Dimension politischer Ordnung im 19. und 20. Jahrhundert; zweitens, die Raumvorstellungen und die Handlungsspielräume, die sich jenseits nationalstaatlicher Einhegungen eröffneten; und drittens, die ambivalenten Identitätspositionen, die sich in der Staatenlosigkeit und in imperialen Formationen entwickeln konnten.

Nationalstaat – Staat – Reich

Das Ausblenden imperialer und kolonialer Verwicklungen beim Schreiben nationaler Geschichtserzählungen stellt eine ebenso unzulässige Verkürzung dar wie umgekehrt das Unterschlagen der Relevanz nationalstaatlicher Konzepte bei der Beschreibung moderner Imperien. Die Verschränkung von Nationalstaatlichkeit und Imperialität äußert sich einerseits darin, dass sie sich in wechselseitiger Abgrenzung voneinander konstituierten, und andererseits darin, dass beide auf etatistische Staatlichkeit als ein drittes Modell politischer Ordnung rekurrieren konnten.

Dieses staatliche Regime gerät schnell in den Blick, wenn man sich mit Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit befasst. ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) betonte in seinem Beitrag den etatistischen Willen zur eindeutigen Zuordnung einer jeden Person zu einem bestimmten Staat im langen 19. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive war die Staatenlosigkeit ein Fehler im System, ebenso wie die damals häufiger auftretenden und problematisierten Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Erst in der Folge von zwei Weltkriegen sowie den angehörigkeitsrechtlichen Maßnahmen des Dritten Reichs und der Sowjetunion – beides Formationen, die nationalstaatliche und imperiale Elemente miteinander kombinierten –, also erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts sei, so Fahrmeir, die Staatenlosigkeit zu einem relevanten Problem geworden. In der Diskussion wurde auf die Dekolonisierung als weiteren Produzenten von Staatenlosigkeit hingewiesen. In ähnlicher Weise betonte auch DIETER GOSEWINKEL (Berlin) in seinem Kommentar den etatistischen Ursprung der Staatsangehörigkeit um 1800. Erst später sei dieses Rechtsinstitut nationalisiert und die Staatenlosigkeit unter den Bedingungen der Nationalstaatlichkeit für die Betroffenen zu einem existentiellen Problem geworden.

Interessanter Weise zielten die Vorschläge zur Lösung dieses Problems wiederum auf transnationale oder globale Strukturen der Staatlichkeit. MIRIAM RÜRUP (Göttingen) analysierte zunächst die Lösungsversuche des Völkerbunds in der Zwischenkriegszeit, als das Prinzip der Nicht-Abschiebung von Staatenlosen und der Nansen-Pass durchgesetzt werden sollten. Erst 1954 entschärfte ein in den Strukturen der UNO vereinbartes internationales Abkommen, dessen Ratifizierung sich teilweise bis in die 1970er-Jahre verzögerte, das Problem ein Stück weit. Insgesamt ging die Staatengemeinschaft also dilatorisch mit der Frage der Staatenlosigkeit um. Weniger zögerlich, aber noch erfolgloser waren die zivilgesellschaftlichen Bemühungen der World-Government-Bewegung nach 1945, die JULIA KLEINSCHMIDT (Göttingen) untersuchte. Hier wurden gegen Staatenlosigkeit und Krieg als vom Nationalstaat verursachten Übeln Lösungsansätze im Sinne eines „Weltstaats“ entwickelt. Insgesamt blieb die von Elementen einer elitären Zivilisierungsmission geprägte Debatte über eine postnationale Weltordnung jedoch weitgehend wirkungslos. Erst später gewannen ähnliche Universal- und Menschenrechtsdiskurse für transnationale politische Strukturen breitere Relevanz.

Ebenso wie das Problem der Staatenlosigkeit verweist auch die Beschäftigung mit Reichen in verschiedenerlei Hinsicht auf das Spannungsfeld zwischen national, staatlich und imperial geprägten Ordnungsvorstellungen und Herrschaftspraktiken. Dabei geraten zunächst nationale Oppositionen gegen die imperiale Zentrale in den Blick, wie sie JULIA SCHMID (Tübingen) in der Sektion „Die Zentralität der Peripherie“ mit Blick auf die Bedeutung der „Sprachgrenze“ für den deutschösterreichischen (und den reichsdeutschen) Nationalismus im habsburgischen Kontext beschrieb. Das Erstarken von Nationalismen und die jeweiligen Wege, auf denen verschiedene Reiche diesem Phänomen begegneten, wurden auch in der Sektion über „Grenzgänger“ diskutiert. Dabei zeigte sich insbesondere, wie fruchtbar es sein kann, imperiale Kohäsions- und nationale Desintegrationskräfte nicht als einander ausschließende Faktoren, sondern in ihrer teilweisen Komplementarität und in ihrem Wechselspiel zu untersuchen.

Ähnliches gilt für das Verhältnis von Modernität und imperialen Formationen, welche die ältere Historiografie zumeist als Modernisierungsbremsen betrachtet hat. Demgegenüber eröffnen sich vielversprechende Forschungsperspektiven, wenn man Reiche als Katalysatoren von Modernisierungsprojekten begreift, die in je besonderer Weise mit etatistischen Handlungsmustern und nationalstaatlichen Vergleichsmaßstäben verknüpft waren. HANNES GRANDITS (Graz/Berlin) richtete seinen Blick auf den aus Österreich-Ungarn ausgewanderten Omer-pasa Latas und dessen Karriere im Osmanischen Reich, wo der zum Islam Konvertierte zum Hauslehrer des Kronprinzen und zum Kriegsminister avancierte. Anhand dieses Beispiels verwies Grandits auf die Ambivalenz zwischen militärischer Gewalt und (segensreicher) bürokratischer Modernisierung im Kontext des großen osmanischen Reformanlaufs im 19. Jahrhundert und auf die spezifischen Modernisierungswirkungen von Imperien.

Eine Habsburgische Variante imperialer Modernisierung, die die gängige Unterscheidung zwischen modernen, maritimen, westeuropäischen Kolonialreichen auf der einen und traditionalen, kontinentalen, mitteloseuropäischen Reichen auf der anderen Seite unterlief, präsentierte ALISON FRANK (Harvard), indem sie die maritimen Großmachtambitionen untersuchte, die im habsburgischen Adriahafen Triest kursierten. Auch dieses Beispiel verdeutlicht das imperiale Potenzial zum Aufbrechen traditionaler Strukturen. Bei der Analyse solcher imperialer Modernisierungsverläufe dürften sich vergleichende und transfergeschichtliche Ansätze als besonders lohnend erweisen.

Allerdings verdeutlicht gerade die Untersuchung konkreter imperial-peripherer Situationen, dass sich die Ablösung überkommener Muster zumeist nicht als eindeutig gerichteter Prozess, der von der Tradition in die Moderne führte und vom Zentrum in die Peripherie übertragen wurde, beschreiben lässt. TANJA BÜHRER (Bern) untersuchte in ihrem Vortrag über Emin Pascha – einen europäischen Regierungsbeamten im Sudan – die ambivalenten Beziehungs- und Transfergeflechte, innerhalb derer der ortsansässige Intermediär zwischen Kolonialmacht und lokalen Eliten handelte. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die Folgen solchen Handelns und Interagierens zu komplex sind, um in einem teleologischen Modernisierungsnarrativ aufgehen zu können.

Aus der Zusammenschau der Beiträge lässt sich also kein Argument ableiten, das Imperien vom Vorwurf der Rückständigkeit entlasten würde, indem es deren modernisierende Wirkungen aufzeigt. Vielmehr drängt sich eine profunde Skepsis gegenüber allen modernisierungstheoretischen oder anderweitig normativ aufgeladenen Überhöhungen sowohl nationaler als auch imperialer oder etatistischer Ordnungsmuster auf. Letztlich bergen Etatismus, Nationalstaatlichkeit und Imperialität jeweils spezifische Chancen und Gefahren, die es angemessen zu berücksichtigen gilt.

Räume und Akteure

Diese Möglichkeiten und Risiken werden insbesondere dann sichtbar, wenn man den Blick gezielt auf die Handlungsspielräume bestimmter Akteure richtet, wie es die Sektionen über „Grenzgänger“ und über „Grenzüberschreitungen“ taten, obwohl die letztlich immer mit thematisierten Grenzsetzungen und Eingrenzungen in den Titeln nicht auftauchten. In ähnlicher Weise verwies die Debatte über Staatenlosigkeit sowohl auf deren ermächtigende, weltbürgerliche als auch auf deren einschränkende, heimatlose Dimension. Miriam Rürup betonte unter Verweis auf Hannah Arendts Beschreibung der Staatenlosigkeit als Paradigma der Entrechtung deren entmachtende Auswirkungen. In eine ähnliche Richtung argumentierte CATHLEEN CANNING (Ann Arbor), die die konkreten Handlungsmöglichkeiten unterstrich, die ein aktives, partizipatorisches Verständnis der Staatsbürgerschaft eröffnete. Der Zugang zu diesem Potenzial war den Staatenlosen ebenso verwehrt wie den deutschen Frauen über weite Teile des langen 19. Jahrhunderts. KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) beschrieb Staatenlosigkeit und Diaspora dagegen eher in ihrer ermächtigenden Dimension als Imaginationsräume, die sich zum Kosmopolitischen hin öffnen konnten, und betonte den Chancenreichtum, den die Lücke zwischen den Nationalstaaten den Akteuren zu bieten hatte.

Ein anderes Beispiel für die Ermächtigung eines individuellen Akteurs in einer Lücke, die sich zwischen Staaten, Imperien und anderen Herrschaftsformationen auftat, lieferte BENEDIKT STUCHTEY (London), der die gleichsam privaten und staatsfreien Eroberungen schilderte, die James Brook Mitte des 19. Jahrhunderts zum „weißen“ Raja von Sarawak auf Borneo machten. In diesem Fall eröffnete ein spezifischer Gestus des Erschließens eines unerschlossenen Raums, der Abenteuer und evangelikale Zivilisierungsmission miteinander verknüpfte sowie in multiplen Identitäten und gespaltenen Loyalitäten resultierte, einem einzelnen aufgeklärt-kolonialen Despoten zumindest für eine gewisse Zeit enorme Handlungsspielräume. Auch MALTE ROLF (Hannover) konzentrierte sich in seinem Vortrag zum Romanov-Imperium auf individuelle Akteure, nämlich auf die Karrieren zweier Bürokraten. Dabei untersuchte er, wie das Überschreiten räumlicher Grenzen sowohl aufseiten der Verwalter als auch aufseiten der Verwalteten zu einer Multiplikation von Differenzwahrnehmungen führte, und zeigte, wie das imperiale Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungshorizonte enorme Deutungsspielräume eröffnete, die sowohl Konflikt- als auch Kooperationspotenzial bargen. Stuchteys und Rolfs Beiträge vermitteln einen Eindruck von den vielfältigen Typen imperialer Grenzüberschreiter und Grenzgänger: friedfertige Vermittler trafen auf kulturelle Entdecker, die mitunter die Wege gewalttätiger Eroberer kreuzten.

Insgesamt fällt auf, dass viele Beiträge biografische Zugänge zur Imperiengeschichte wählten. Diese erlauben es, die Handlungsspielräume und Deutungshorizonte einzelner Akteure genau auszuleuchten. Allerdings bergen sie auch Risiken. Ein Blick auf die beiden Sektionen zu „Grenzgängern“ und „Grenzüberschreitungen“ verdeutlicht insbesondere die Gefahr, die Biografien von Angehörigen der Eliten zu privilegieren und darüber andere Akteure aus den Augen zu verlieren. Eine nicht- oder semi-elitäre Gruppe, die in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand historischer Untersuchungen geworden ist, sind „nicht-europäische“ Agenten im Dienste der Kolonialmacht, wie die „schwarzen“ Kolonialsoldaten, deren ambivalente Position entlang der kolonialen frontier STEFANIE MICHELS (Frankfurt am Main) in ihrem Beitrag zur Sektion „Grenzmissverständnisse in der Globalgeschichtsschreibung“ thematisierte. Diese Akteure verdienen insbesondere deswegen die Aufmerksamkeit der Forschung, weil die Beschäftigung mit ihnen eine Perspektive nahe legt, welche die imperiale Heterogenität ernst nimmt und sich klaren bipolaren Zuordnungen verweigert.

Diese imperiale Komplexität können einerseits Untersuchungen von unterschiedlichen Akteursgruppen einfangen. Andererseits kann eine Fokussierung auf heterogene Räumlichkeiten und Raumwahrnehmungen ebenfalls anregend sein. Das zeigte die Sektion zur „Darstellung von Grenzen“, die Formen kartografischer Wissensproduktion diskutierte. Karten, so betonten VADIM OSWALT (Gießen) und PETER HASLINGER (Marburg/Gießen) in ihren Beiträgen, sind insbesondere deswegen als historische Quellen und als historiografisches Darstellungsmittel reizvoll, weil sie visuell und nicht-oppositional strukturiertes Wissen vermitteln sowie mit ihrer transmedialen Integration räumlicher und nicht-territorialer Dimensionen der Abbildung von Heterogenität in besonderer Weise gerecht werden können.

Diesen Prozess der Integration veranschaulichte UTE WARDENGA (Leipzig) anhand der redaktionellen Arbeit des Verlags Perthes, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Berichte von Abenteurern, Entdeckern und Forschern aus Afrika in ein Darstellungsformat übersetzte, das mit westlichen Modi der Wissensabbildung kompatibel war. Dabei unterstrich Wardenga insbesondere den ambivalenten und instabilen Charakter der Beziehung zwischen Karte und Wirklichkeit. In noch stärker konstruktivistischer Manier beschäftigten sich SEBASTIAN BODE (Gießen) und MATHIAS RENZ (Gießen) mit Grenzdarstellungen auf oft mit politischen Ansprüchen und Forderungen verbundenen mittelosteuropäischen Geschichtskarten. Dabei unterschieden sie verschiedene, narrativ produzierte Grenzformen zwischen Inkongruenz, Suggestion, Labilität und Persistenz. Diese Beiträge verdeutlichen, wie fruchtbar Analysen kartografischer und anderer Raumkonstruktionen sein können. Sie liefern eine wichtige Ergänzung zu den biografischen Untersuchungen von Grenzgängern. Denn sie zeigen, dass diese sich nicht einfach nur von einem – stabilen, containerhaften – Raum in einen anderen begaben. Vielmehr trugen sie durch ihre Bewegungen zur – niemals gänzlich abgeschlossenen – Konstitution räumlicher Heterogenität bei.

Ambivalente Identitätsformationen

Diese Raumvielfalt wirkte sich wiederum auf das Selbstverständnis der Akteure aus. Die Diskussion über verschiedene Formen von Identitätsbildungsprozessen bildete einen dritten Schwerpunkt innerhalb der Sektionen, die sich mit Geschichte jenseits des Nationalstaats und in imperialen Zusammenhängen beschäftigten.

Ein klassisches Beispiel für eine heterogene Räumlichkeit, die ambivalente und gespaltene Identitätseffekte zeitigt, präsentierte Kirsten Heinsohn. Sie analysierte Eva Reichmann-Jungmanns im Londoner Exil entwickelte positive Lesart der staatenlosen Diaspora als chancenreichem Raum, der gleichzeitig die Erfahrung von Fremdheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit ermögliche. Diese Interpretation war, so Heinsohn, einer spezifisch deutsch-jüdischen Denktradition verpflichtet, die weder einer Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft noch der zionistischen Forderung nach der Gründung eines jüdischen Nationalstaats das Wort reden wollte und nach alternativen Auswegen suchte. Aus dieser Perspektive bildete die Situation der Diaspora, die sich nationalstaatlichen Homogenisierungen verweigerte, eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Pflege jüdischer kultureller Muster und Lebensweisen, die auf die Pluralisierung möglicher Identitäten jenseits eindeutiger Zuordnungen und letztlich auf ein kosmopolitisches Verständnis der Anerkennung des Anderen abzielten.

Ähnlich ambivalente Identitätseffekte zeigten sich auch in imperialen Kontaktzonen oder entlang kolonialer frontiers. Tanja Bührer verwies auf die postkolonialen Theorieangebote Homi Bhabas, der diese Zwischenzonen als Räume beschreibt, innerhalb derer binäre Gegensätze aufgehoben und stattdessen gespaltene und mehrdeutige Identifikationsprozesse in Gang gesetzt werden. Auf amüsante Art und Weise leuchtete STIG FÖRSTER (Bern) einen solchen Zwischenraum aus. Förster erzählte von James Achilles Kirkpatrick, der in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die British East India Company in Hyderabad repräsentierte, und von dessen Liebesbeziehung mit Khair-un-Nissa, einer jungen Muslima aus den lokalen Eliten, die Kirkpatrick nach seiner Konversion zum Islam heiratete. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Begegnungen, welche die imperialen Zwischenzonen ermöglichten, die Etablierung klarer Unterscheidungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten durchkreuzen und gemischte oder hybride Identitäten hervorbringen konnten.

Vergleichbar komplexe Konstellationen waren auch für die Zwischenräume charakteristisch, die an den Rändern des Russischen Reiches entstanden. MICHAEL KHODARKOVSKY (Chicago) widmete sich dem Kaukasus und analysierte die fluiden und flexiblen Identitäten, die sich aus der Position lokaler Intermediäre zwischen imperialer Metropole und autochthoner Peripherie sowie zwischen Anpassung und der Formierung neuer Selbstbilder ergaben. Der Zerfall dieses Reichs in und nach der Revolution von 1917 kann ebenfalls als eine Zeit der intensivierten Verunsicherung von Identitätspositionen beschrieben werden. Dies zeigte DITTMAR DAHLMANN (Bonn) in seinen Anmerkungen zu Baron Robert Ungern-Sternberg, einem in Graz geborenen zaristischen Offizier mit deutschbaltischen Wurzeln, der in den Wirren des Bürgerkriegs „als Erbe Tschingis Khans“ für kurze Zeit die Kontrolle über das Territorium der Mongolei übernahm.

Eine weitere Dimension der Hybridität brachte TIM BUCHEN (Berlin) in seinen Überlegungen zu Joseph Samuel Bloch zur Sprache. Die Biographie des galizisch-jüdischen Abgeordneten im österreichischen Reichsrat des späten 19. Jahrhunderts belegt nicht nur ein weiteres Mal, wie imperiale Zwischenräume zur Entstehung ambivalenter Selbstbilder beitragen konnten, sondern sie zeigt auch, wie eine hybride Identität gezielt und im Sinne bestimmter politischer Zwecke konstruiert werden konnte. Blochs Entwurf einer „Österreichischen Identität“ steht paradigmatisch für den typisch cisleithanischen – und letztlich gescheiterten – Versuch, den nationalistischen Antagonismen mittels der Propagierung einer trans- oder multi-nationalen, staatszentrierten und mit der imperialen Ordnung kompatiblen Identität entgegenzuwirken.

Dieses Wechselspiel zwischen zentrifugalen Nationalisierungs- und zentripetalen Integrationstendenzen war entscheidend für die Modi der Identitätsbildung innerhalb imperialer Formationen im 19. und 20. Jahrhundert. Im Hinblick auf die Diskrepanzen zwischen imperialisierenden und nationalisierenden Formen kartografischer Identitätsproduktion zeigte das VERONIKA WENDLAND (Marburg) in ihrer Analyse von Darstellungen der Ukraine zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Dieser Raum erschien dabei zunächst als nicht umgrenztes, ungefähres Gelände, später als peripherer und unbezeichneter Teil des Russischen Reichs sowie zuletzt als ein von national-ethnografischen Grenzen durchzogenes Gebiet. Ähnliche Beobachtungen stellte auch VYTAUTAS PETRONIS (Marburg) an, der den Streit um die Verortung von Vilnius auf ethnografischen Karten des frühen 20. Jahrhunderts – in der litauisch-sprachigen oder der russisch-sprachigen Zone – schilderte.

Von der kosmopolitisierenden Diaspora über hybridisierende Zwischenräume und pluralisierende Imperien bis hin zu nationalisierenden Peripherien, die einzelnen Beiträge zeigten eine Fülle von ambivalenten Identitätsformationen, die (vielleicht nicht nur) jenseits des Nationalstaats wirksam und denkbar waren. Eine genauere Untersuchung und vergleichende Analyse dieser in je spezifischen Kontexten auftretenden Identitätseffekte, das macht die Synopse ebenfalls deutlich, steht allerdings noch aus und verspricht weitere Einsichten.

Die Beschäftigung mit den Lücken zwischen den (National-)Staaten und mit imperialen Konstellationen ist gewinnbringend und eröffnet neue, aussichtsreiche Forschungsperspektiven, die die Geschichtsschreibung sowohl aus dem nationalstaatlichen Container heraus als auch über die Fokussierung auf Europa hinaus führen können.

Scheinbar bieten biografische Herangehensweisen einen besonders reizvollen Zugang zu diesem Forschungsfeld. Der Versuch, dabei auch nicht-elitäre Perspektiven und Praktiken in den Blick zu bekommen, darf allerdings auf Dauer genauso wenig unterbleiben wie eine Ergänzung solcher biographischer Forschungen durch andersartige Ansätze und Analysen.

Besonders vielversprechend scheinen in dieser Richtung die teilweise angedeuteten vergleichenden und transfergeschichtlichen Perspektiven zu sein, die nicht nur die Verflechtungen innerhalb einzelner, sondern auch zwischen verschiedenen Imperien untersuchen. Es wäre zu wünschen, dass dabei in Zukunft die auf diesem Historikertag noch weitgehend aufrecht erhaltene Grenze zwischen östlich-kontinentalen und westlich-kolonialen Imperien häufiger überschritten wird.