Forum: Diskussionsbeitrag zum Konzept für die Ausstellungen der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

Von
Wolfram von Scheliha, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Visualisierte Fußnoten formen keine gute Ausstellung

Die Autoren der „konzeptionellen Überlegungen“ sind ausgewiesene Wissenschaftler, ihre inhaltlichen Bedenken haben sie plausibel formuliert und der Text ist inhaltlich wohldurchdacht und wissenschaftlich gut begründet. Doch was sie vorgelegt haben, ist eher ein Konzept für ein interessantes Buch. Bereits Reinhard Rürup hat in seinem Kommentar einige kritische Anmerkungen zur Frage der musealen Umsetzung des Konzeptes gemacht. Ich möchte diesen Aspekt aufgreifen und noch an einigen Punkten vielleicht auch etwas polemisch zuspitzen.

Zur musealen Umsetzung heißt es in dem Konzept: „Sowohl die Dauerausstellung als auch die Wechselausstellungen der Stiftung sollen ihrem pädagogischen Charakter nach als historische Dokumentation angelegt werden, hauptsächlich gestützt auf filmische, auditive, fotografische und schriftliche Quellen. Dreidimensionale Exponate sollen nur eine untergeordnete Rolle spielen.“ Hier zeigt sich, dass die Autoren des Konzepts in erster Linie „Papierhistoriker“ sind, wie man in Museumskreisen zur Stabilisierung des eigenen Egos sagt. Was sie entworfen haben, ist ein „begehbares Buch“. Eine solche Ausstellungsform ist jedoch heute (wenn sie es denn je eine war) nicht mehr zeitgemäß und würde die in sie gesetzten Erwartungen in Hinblick auf die Rezeption durch die Besucher verfehlen.

Warum, so fragt man sich, sollen Menschen sich überhaupt die Mühe machen, die Ausstellung zu besuchen und sich vor Texttafeln, Schaubildern, Audio- und Videostationen die Beine in den Bauch zu stehen. All das kann man sich heute über eine gut gemachte Webseite bequem und ohne lästige Nebengeräusche anschauen und anhören. Große internationale Museen wie das United States Holocaust Memorial bieten bereits Online-Ausstellungen an, in denen man alles findet, wovon im Konzept die Rede ist: filmische, auditive, fotografische und schriftliche Quellen. Und das sogar in vielen Sprachen erschlossen, so wie es in keinem „richtigen“ Museum ohne weiteres möglich ist.

Wozu also noch eine reale Ausstellung? Der ursprüngliche und eigentliche Zweck von historischen Museen und Ausstellung ist die öffentliche Darbietung von Originalen und Unikaten. Das betrifft vielfach einfach den historischen Ort, wie zum Beispiel in KZ-Gedenkstätten. Bei der geplanten Vertreibungsausstellung im Deutschlandhaus in Berlin-Kreuzberg ist das allerdings nicht der Fall. Deren Alleinstellungsmerkmal lässt sich allein durch die Präsentation von Originalexponaten definieren und in der Regel sind dies dreidimensionale Objekte. Sie allein machen es für den Besucher lohnend, sich auf den Weg zu begeben. Denn dreidimensionale Objekte strahlen eine Aura aus, die keine Abbildung in einem Katalog oder keine Internet-Präsentation transportieren kann. Sie ermöglichen dem Besucher eine sinnliche Kontaktaufnahme mit der Vergangenheit. Dies allein rechtfertigt die Millionen von Euro, die Produktion und Unterhalt der geplanten Ausstellung kosten sollen. Der entscheidende Unterschied zwischen einer Ausstellung und einem wissenschaftlichen Buch ist, dass das Buch in erster Linie den Intellekt, eine Ausstellung aber die Sinne und eben auch die Emotionen anspricht. Wer das intellektuelle Interesse schon hat, der ist mit einem Buch in jedem Fall besser versorgt. Eine Ausstellung bietet aber die Chance, über die sinnliche Erfahrung das intellektuelle Interesse zu wecken. Wenn ein Besucher ein Exponat sieht und dann, weil sein Interesse geweckt ist, auf den Begleittext schaut, ist das ein Erfolg. Je spektakulärer, je überraschender die Exponate, desto mehr kann man die Besucher fesseln und sie für eine Auseinandersetzung mit dem Thema gewinnen. Gute Ausstellungen werden von den Exponaten her erzählt, der Text ist nur ein Beiwerk.

Die „konzeptionellen Überlegungen“ verfolgen den umgekehrten Weg. Es ist ein gut begründeter, aber eben ein intellektueller Ansatz. Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass in der Ausstellung der Text im Mittelpunkt steht. Die Exponate werden so zu visualisierten Fußnoten. Schriftliche Quellen sollen ausgestellt werden. Ein Text wird so durch einen anderen illustriert. Als Historiker freut man sich natürlich darüber, kann man doch gleich überprüfen, ob die Kollegen eine Quelle richtig gedeutet haben. Historiker sind gewohnt, viele Texte zu verarbeiteten und beherrschen das „Powerreading“. Der „normale“ Besucher ist mit einer solchen Textlastigkeit überfordert und wird sich spätestens nach einer halben Stunde ermüdet abwenden. Alle Multiperspektivität, von der in dem Konzept richtigerweise gesprochen wird, nützt nichts, wenn der Besucher überhaupt nur die Kraft hat, gerade einmal eine Perspektive zu rezipieren. Zum Thema Vertreibung wird es zudem viele Quellen auf Tschechisch oder Polnisch geben. Die kann aber kaum ein Besucher lesen. Das gleiche Problem betrifft auch Briefe, Tagebücher etc., die - wie in der fraglichen Zeit üblich - in Sütterlin-Schrift verfasst sind. Die entsprechenden Quellen müssten daher übersetzt oder transkribiert werden, es entsteht also noch mehr Text.

Audio- und Videosequenzen sind in historischen Ausstellungen zweifellos wichtige Medien. Sie sind aber kein Exponat im eigentlichen Sinne. Oral-History-Dokumente, zumal in einem großen zeitlichen Abstand zum historischen Ereignis entstanden, sind ohnehin eine problematische Quelle, die nur sehr sparsam eingesetzt werden sollte. Zeitgenössische Filmaufnahmen sind unter Umständen aufgrund ihres Entstehungskontextes (Propaganda) ebenfalls problematisch. Erfahrungen zeigen, dass einzelne Audio- und Videodokumente nicht länger als zwei bis drei Minuten gehört werden. Dann schaltet der Besucher ab. Wenn man davon ausgeht, dass ein durchschnittlicher Ausstellungsbesuch nicht länger als zwei Stunden dauert, kann man sich ausrechnen, wie sparsam dieses Medium gerade auch angesichts der Textlastigkeit des vorgesehenen Ausstellungskonzepts nur eingesetzt werden kann.

Eine Ausstellung muss man von den Bedürfnissen der Besucher und nicht von denen des wissenschaftlichen Beirats oder der verschiedenen Interessengruppen her denken und konzipieren. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass deren Argumente bei der Konzeption nicht berücksichtigt werden sollten. Aber es gibt doch –deutliche Interessenkonflikte zwischen den Erwartungen der Wissenschaft auf der einen Seite und den Besuchern auf der anderen Seite (die Erwartungen der Vertriebenenverbände und der Politik möchte ich an dieser Stelle ausklammern). Wissenschaftler wollen Differenzierungen, Gedankengänge transparent machen, Thesen und Fakten belegen. Besucher wollen sich nicht langweilen und keine schweren Beine bekommen. Sie möchten Kontakt mit der Vergangenheit aufnehmen, erwarten Unterstützung bei der Orientierung, haben aber in der Regel wenig Sinn für akademische Diskurse. Das Thema Flucht und Vertreibungen, die Schicksale der betroffenen Menschen sind schrecklich genug: Besuchern, die sich in der Regel freiwillig und in ihrer Freizeit die Ausstellung anschauen, sollte man daher den Aufenthalt so angenehm und inhaltlich so anregend wie möglich machen. Es ist durchaus auffällig, dass in den „konzeptionellen Überlegungen“ die „Zielgruppe“ erst an vorletzter Stelle erwähnt wird. Wenn dieser Punkt an die erste Stelle gesetzt und zum Ausgangspunkt der Überlegungen geworden wäre, sähe das Konzept der Ausstellung (nicht des Inhalts) vielleicht auch ganz anders aus. Bemerkenswert ist auch, dass von einer „den Besuchern zugewiesenen Position“ gesprochen wird. Hier kann man noch den erhobenen Zeigefinger einer überkommenen Museumsdidaktik erahnen. Es ist nicht die Aufgabe von Museen und Ausstellungen, den Besuchern Plätze zuzuweisen. Ausstellungen sind vielmehr ein Angebot, durch sinnliche und kognitive Erfahrungen den Besucher dabei zu unterstützen, sich selbst zu dem jeweiligen Thema zu positionieren.

„Suchenden“ und „Fragenden“, heißt es in dem Konzept, solle mit der Ausstellung eine „kritisch-distanzierte Aufarbeitung“ geboten werden. Das ist ein hehres Ziel, doch es ist eine Überforderung sowohl der Besucher als auch der Möglichkeiten einer Ausstellung. Erfahrungen in den „Gedenkstätten mit zweifacher Vergangenheit“ zeigen, dass trotz aller ausgefeilten Konzepte, die an diesen Orten geschehenen nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen sauber zu trennen und differenziert darzustellen, zumal viele Besucher die Unterschiede, ja überhaupt die Existenz zweier unterschiedlicher Lager gar nicht realisieren. Denn wo keine Fragen sind, dringen auch die Antworten nicht durch.

Zurecht weisen die „konzeptionellen Überlegungen“ darauf hin, dass bei einem Großteil der Zielgruppe (Schüler und Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund, Touristen aus dem Ausland) kaum Vorkenntnisse angenommen werden können. Diese Erkenntnis findet in dem Konzept aber viel zu wenig Berücksichtigung. Eine Ausstellung ist schon ein Erfolg, wenn sie die Besucher zu ermuntern vermag, überhaupt erst Fragen zu entwickeln. Den Stimulus dazu können allein die Exponate geben. Der historische Überrest setzt die Kommunikation über die Vergangenheit in Gang. Nur so funktioniert eine Ausstellung. Denn anders als bei der Lektüre eines Buches, bei der man mehr oder weniger automatisiert die Seiten umblättert, ist der Besucher einer Ausstellung aktiv handelnd. Er muss von Exponat zu Exponat, von Text zu Text gehen und sich ihm ganz real zuwenden. Jedes Mal muss er erneut zu der Endscheidung finden: „Das interessiert mich, das will ich lesen.“ Das betrifft gerade auch Schüler, die vor allem, wenn sie im Klassenverband kommen, die Ausstellung in der Regel nicht freiwillig, aus eigener Initiative besuchen. Untersuchungen haben ergeben, dass der kognitive Lernerfolg bei einem Ausstellungsbesuch ohne eine damit verbundene Projektarbeit bei Schülern, die kein Vorinteresse mitbringen, in einem erschreckenden Maße gering ist. Aber auch für erwachsene Individualbesucher trifft bei einer großen Ausstellung, wie sie geplant ist, zu, dass der Spannungsbogen nicht ohne attraktive dreidimensionale Exponate gehalten werden kann.

Zudem hat auch bei Ausstellungen der Satz Gültigkeit: Weniger ist mehr. Je komplizierter, je verschachtelter eine Ausstellung konzipiert ist, desto weniger verständlich wird sie für den Besucher, desto geringer der kognitive „Lernerfolg“. Dies ist kein Plädoyer gegen die vorgeschlagene „Multiperspektivität“. Im Gegenteil: Sie ist ein wichtiger Ansatz, Besucher mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten anzusprechen. Aber man kann eine Ausstellung nicht wie ein Buch in Ober- und Unterkapitel und Unterunterkapitel gliedern. Ausstellungen müssen übersichtlich und mit einem kurzen Blick erfassbar aufgebaut sein. Die Vorstellung, man könnte Besucher durch eine „kritisch-distanzierte Aufarbeitung“ zur Revision vorhandener Geschichtsbilder oder Vorurteile veranlassen, entspricht nicht den Erfahrungen der Besucherforschung in Museen und Gedenkstätten: Die empirische Forschung, schreibt Bert Pampel, „lehrt Bescheidenheit hinsichtlich der Einflussmöglichkeit von Gedenkstättenarbeit“.1 Diese Erfahrungen sollten bei der Konzeption der Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ unbedingt berücksichtigt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass von den inhaltlich kaum zu beanstandenden Einsichten der gelehrten Universitätshistoriker bei den Besuchern nur eines ankommt: ein semantisches Rauschen.

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Wolfram von Scheliha ist Osteuropahistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig sowie am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropa e. V. an der Universität Leipzig. Von 1998 bis 2002 arbeitete er an der Konzeption und Realisierung des Museums „Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen“ in der Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg mit. 2002-2003 war er an der Erstellung der Ausstellung „Stalingrad erinnern. Die Schlacht von Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis“ am Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst beteiligt.

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Die Beiträge zum Diskussionsforum „Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können Sie auf der Webseite von H-Soz-u-Kult einsehen unter der Adresse: http://www.hsozkult.de/index.asp?pn=texte&id=13501350.

Anmerkung:
1 Vgl. Bert Pampel: „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher. Frankfurt am Main 2007, S. 365 f.