Kursorische Gedanken zu den "Konzeptionellen Überlegungen für die Ausstellungen der Stiftung 'Flucht, Vertreibung, Versöhnung'"

Von
Stefan Troebst, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Dass eine in Berlin angesiedelte deutsche Stiftung mit dem Namen „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ primär eine nationalhistorische Perspektive anlegt und dabei „die Bedeutung der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik für die Gewaltphänomene des 20. Jahrhunderts“ betont, versteht sich gleichsam von selbst. Dennoch sollte das „europäische“ Kind nicht mit dem Bade der Ausstellung „Erzwungene Wege“ ausgeschüttet werden. Denn zum einen sind die zumeist staatlich induzierten Zwangsmigrationsprozesse im Europa der 1940er Jahre vielfältig miteinander verflochten, wie etwa das polnische Kompendium „ Aussiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen 1939-1959. Polen, Juden, Deutsche, Ukrainer. Atlas der polnischen Gebiete“ von 2008 – auf Deutsch 2009 als „Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Mittel- und Osteuropa 1939 bis 1959“ erschienen – eindringlich vor Augen führt. 1 Und zum anderen verstellt nationalgeschichtliche Engführung den Blick auf den ebenso fundamentalen wie frappierenden Wertewandel in europäischer Öffentlichkeit und modernem Völkerrecht bezüglich ethnischer Homogenisierung europäischer Nationalstaaten mittels Zwangsaus- und -umsiedlung, wie er im vergangenen Jahrhundert zu beobachten ist.

Denn während von den Balkankriegen 1912/13 bis tief in den Kalten Krieg hinein das, was mit dem Euphemismus „Bevölkerungstransfer“ als Mittel staatlicher Politik von der internationalen Gemeinschaft und ihren nationalen Öffentlichkeiten gebilligt oder zumindest hingenommen wurde – und zwar unbeschadet der ständig steigenden Wertigkeit von Minderheiten- und Menschenrechten -, wurde im post-jugoslawischen Kriegsjahrzehnt ein moralischer Paradigmenwechsel in Richtung Vertreibungsverbot und Recht auf Flüchtlingsrückkehr manifest. Was 1995 in Dayton im Friedensabkommen zu Bosnien und Herzegowina Papierform angenommen hatte, wurde dann 1999 in Rambouillet Handlungsmaxime der Staatengemeinschaft – in Gestalt des Luftkrieges gegen das Rest-Jugoslawien Slobodan Miloševics und dessen systematische Vertreibungspolitik im Kosovo. Und derzeit nimmt diese Entwicklung zunehmend greifbarere Form in der im Entstehen befindlichen völkerrechtlichen Norm einer „Responsibility to Protect“ bzw. Schutzverantwortung sowie in der Innovation eines völkerrechtlichen Delikts der Fluchtverursachung an.

Wie ist dieser europäische und weltweite Wandel im Rechtsempfinden bezüglich ethnopolitisch motivierter und staatlich initiierter Zwangsmigration zu erklären? Wie kam es, dass das, was seit dem Bosnien-Krieg mit dem Begriff „ethnische Säuberung“ belegt wird, fortan nicht mehr „nur“ als völkerrechtswidrig galt, sondern mit Hilfe der Staatengemeinschaft rückgängig zu machen war? Welche Konsequenzen hatte es, den Verjagten ein individuelles wie kollektives Recht auf Rückkehr zuzusprechen, das überdies aktiv durchgesetzt werden sollte? Und welche rückwirkenden Folgen hat dies für die zeithistorische, politikwissenschaftliche und museumspädagogische Beschäftigung mit den nationalsozialistischen, stalinistischen und „demokratischen“ Vertreibungsverbrechen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts? Fragen dieser Art sollten in der geplanten Dauerausstellung ebenso thematisiert werden, wie dort Seitenblicke auf Fälle von Vertreibung, Flucht und Versöhnung in anderen Teilen Europas und Übersee geworfen werden sollten – vor allem auf solche, die mit dem deutschen Fall in zeitlicher, regionaler und mitunter auch kausaler Verbindung stehen.

Der in den „Konzeptionellen Überlegungen“ gewählte Ansatz „topographischer Modularisierung“ durch Fokussierung auf einzelne Städte erscheint dabei erwägenswert, sollte aber kein ausschließlicher sein. Mindestens genau so erkenntnisträchtig nimmt sich ein (kollektiv-)biographischer Ansatz aus, wie er etwa im eindrücklichen „Ort der Information“ des dem Deutschlandhaus als künftigem Standort der Dauerausstellung fast benachbarten Denkmals für die ermordeten Juden Europa gewählt wurde. Als individualisierende Exemplifizierung der Trias „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mag dabei die Person des vormaligen Bundespräsidenten Horst Köhler gelten: Geboren 1943 als Kind von bessarabiendeutschen Bauern, die 1940 in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts „heim ins Reich“ geholt und nach zweijährigem Lageraufenthalt an einem Ort im „Generalgouvernement“ angesiedelt wurden, den die SS zuvor von Polen „gesäubert“ hatte, floh die Familie 1944 vor der Roten Armee nach Mitteldeutschland und ein weiteres Mal 1953 aus der DDR in die Bundesrepublik, wo sie bis 1957 in verschiedenen Lagern in Baden-Württemberg lebte. Wohl problemlos wäre der Lebenslauf einer gleichaltrigen Polin zu finden, die 1939 nach Sibirien deportiert wurde, 1942 mit der Anders-Armee über den Iran in ein Auffanglager nach Uganda kam, um schließlich 1946 in Niederschlesien neue Wurzeln zu schlagen. Und auch die Biographie eines ebenfalls 1943 geborenen Flüchtlingskindes aus dem Griechischen Bürgerkrieg, das 1949 über Albanien und Ungarn in die SBZ gelangte, von wo es – nun erwachsen - 1973 in die Bundesrepublik übersiedelte, um 1982 nach Griechenland zurückzukehren, ließe sich leicht rekonstruieren. So würde deutlich, dass Flucht und Vertreibung eben doch ein Signum des „kurzen“ 20. Jahrhunderts in Europa sind.

Bleibt noch die schwierige Frage nach dem Zusammenhang von Flucht und Vertreibung einerseits und Versöhnung andererseits: Wer soll sich da mit wem versöhnen? Opfer mit Tätern? Oder deren jeweilige Rechtsnachfolger? Der einzelne Vertriebene mit seinem Schicksal? Die Deutschen untereinander, wie Tomasz Szarota angeregt hat? 2 Gar Völker, vertreten durch ihre Jugend? Hierin scheint die eigentliche intellektuelle Herausforderung zu liegen, welche die bislang unausgefüllte Hülle der neuen Bundesstiftung enthält, und entsprechend wären auch dazu konzeptionelle Überlegungen anzustellen.

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Stefan Troebst, Historiker und Slavist, ist seit 1999 Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und stv. Direktor des dortigen außeruniversitären Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO). Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität der Kulturministerien Polens, Ungarns, der Slowakei und Deutschlands, dessen Entstehungsgeschichte er in dem Band Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung (Osnabrück 2006) dokumentiert hat. Zum Thema erschien von ihm „Vom Bevölkerungstransfer zum Vertreibungsverbot – eine europäische Erfolgsgeschichte?“ (in: Transit. Europäische Revue, H. 36, Winter 2008/09, S. 158-182, sowie – herausgegeben gemeinsam mit Detlef Brandes und Holm Sundhaussen – das Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts (Wien, Köln, Weimar 2010).

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Die Beiträge zum Diskussionsforum „Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können Sie auf der Webseite von H-Soz-u-Kult einsehen unter der Adresse: http://www.hsozkult.de/index.asp?pn=texte&id=13501350.

Anmerkungen:
1 Rezension der polnischen Originalausgabe von Stefan Troebst in: H-Soz-u-Kult, 01.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-005>.
2 Der polnische Historiker Szarota gehörte bis zum Dezember 2009 dem wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung an.