Qualitätsmessung: M. Hose: Glanz und Elend der Zahl

Von
Martin Hose, Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München

"Alles ist Zahl." (Pythagoras zugeschrieben)
"Am Ende der Saison stehst du genau auf dem Tabellenplatz,
auf den du gehörst." (Otto Rehhagel zugeschrieben)

Die Hochschulreformen der letzten Dezennien haben die deutschen Universitäten wohl tiefgreifender verändert als zunächst abzusehen war. Unter den Schlagwörtern von "Zukunfts-" und "Wettbewerbsfähigkeit" (die augenscheinlich als Synonyme figurieren) sind Forschungs- und Studienbedingungen etabliert worden, deren Sinnhaftigkeit noch nicht recht allen durchschaubar ist. Damit verbunden, haben sich auch die inneren Strukturen der Hochschulen verändert, darunter insbesondere die Aufgabenstellungen der Universitätsleitungen. Waren sie einstens Einrichtungen, die eine Alma mater (lediglich) zu verwalten hatten, so wird ihnen heute abverlangt, die jeweilige Hochschule zu lenken und ihre Entwicklung zu steuern. Die meisten Bundesländer haben hierauf durch entsprechende Reformen des Hochschulrechts Rücksicht genommen. In meinem Bundesland Bayern etwa sieht das Gesetz ein Leitungsmodell vor, das Elemente des Geschäftsmodells des FC Bayern München mit Prinzipien der katholischen Kirche verbindet. Die Kompetenzen der Leitungen sind zuungunsten der alten Kollegialorgane, also der Fakultätsräte, des Senats, der Versammlung etc., wesentlich erweitert worden, um rasche und eindeutige Entscheidungen, etwa über die Verteilung der Mittel in der Universität, treffen zu können. Selbst die Entscheidung über Berufungslisten obliegt in Bayern inneruniversitär in letzter Instanz der Leitung; die Fakultät ist davon ausgeschlossen, der Senat berät nur noch. Dieser Kompetenzgewinn ist ein wesentlicher Baustein der "Zukunftsfähigkeit".

Mit diesem Gewinn geht freilich auch eine erhöhte Last der Verantwortung einher. Denn nun kann eine Leitung Berufungslisten nicht einfach mit Verweis auf die Beschlüsse der alten Gremien an das Ministerium weiterleiten (und ggf. bedauern, dass die Liste nicht "stärker" ist), sondern hat diesen Vorschlag selbst beschlossen; sie ist verantwortlich für Stelleneinzüge und Neuzuweisungen, für strategische Entscheidungen über Schwerpunktsetzungen etc. Hieraus resultiert ein unerhörter Informationsbedarf der Leitung, muss sie doch idealiter genau wissen, was sie schwächt, was sie stärkt. Zudem hat sie einen inneruniversitären Legitimationsbedarf bei derartigen Umverteilungen, will sie die Binnenmotivation nicht beschädigen, die sie prinzipiell eher stärken denn schwächen muss, um genügend Energie für die allfälligen Wettbewerbe mit anderen Universitäten zur Verfügung zu haben. Diese strukturellen Rahmenbedingungen, so scheint mir, gilt es bei jeder Diskussion über das Feld von Ratings, Rankings und Co. zu beachten.

Grundsätzlich liegt allen mir bekannten Verfahren von universitärer Qualitätsmessung eine gedankliche Operation zugrunde, deren Voraussetzung das eingangs zitierte Pythagoras-Dictum bildet, die Vorstellung, dass sich wenn nicht sämtliche, so wesentliche Merkmale wissenschaftlicher Arbeit als bzw. in Zahlen ausdrücken lassen. Ist etwas als Zahl ausdrückbar, kann man es mit anderem, das auch als in Zahl ausdrückbar aufgefasst wird, vergleichen. Zahlen haben den Charme, zueinander in einem klaren Verhältnis zu stehen. Drei etwa ist mehr als zwei und weniger als vier... Wenn sich Wissenschaft arithmetisieren lässt, ergibt sich für Hochschulleitungen ein Ausweg aus den skizzierten Schwierigkeiten von Verantwortung und Legitimation. Dies haben die Hochschulleitungen längst erkannt, und um die Arithmetisierung zu befördern, ist eine veritable Industrie entstanden, die vorgibt, für beliebige universitäre Einrichtung extern - und damit in der rhetorischen Pose der Neutralität - die ersehnten Zahlen zu ermitteln.

Theoretisch gibt es damit zwei Wege, sich mit der Qualitätsmessung zu beschäftigen. Der eine würde bedeuten, grundsätzlich nach der Berechtigung der Arithmetisierung zu fragen, der andere (er wird meines Wissens gegenwärtig beschritten), sich mit der Praxis, das heißt in der Regel: der Bresthaftigkeit in der Durchführung der Arithmetisierung, zu befassen. Mit Blick auf die Geisteswissenschaften scheint die Praxis zunächst interessanter. Freilich: Was kann eine Arithmetisierung bieten? Vor einiger Zeit beauftragte meine Universität das augenscheinlich führende deutsche Institut mit einer bibliometrischen Analyse der Fakultäten. Für die Geisteswissenschaften ergaben sich bestimmte Probleme (etwa wurden Bücher nicht berücksichtigt, zahlreiche Zeitschriften waren offenbar dem Institut nicht zugänglich etc.), so dass sie aus der Untersuchung wieder ausgeklammert wurden. Doch lieferte das Institut offenbar beachtliche brauchbare Ergebnisse für den Bereich der Naturwissenschaften. So brachte die bibliometrische Analyse zweifelsfrei ans Licht, dass die Physik an meiner Universität deutlich über dem Bundesdurchschnitt liege, während die übrigen Bereiche mehr oder weniger etwas über dem Durchschnitt landeten. Angesichts eines an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrenden Nobelpreisträgers, zahlreicher Großforschungseinrichtungen an der Fakultät und schließlich des Erfolgs, den die Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität in der Exzellenz-Initiative (mit immerhin zwei bewilligten Clustern) erzielte, wäre man zu eben diesem Ergebnis wohl auch mit bloßem Auge gelangt.

Nun könnte man den Schluss ziehen, dass die Konvergenz zwischen bibliometrischer Analyse und Realität doch beweise, wie brauchbar das Instrument für die Qualitätsermittlung ist. An dieser Stelle freilich muss die Frage gestellt werden, ob sich in den Geisteswissenschaften ebenso 'einfach' (es sei hiermit nicht behauptet, dass es für die Naturwissenschaften schlichtweg 'einfach' ist) Zahlen erheben lassen. Basal liegt bibliometrischen Analysen eine Zusammenstellung von Publikationen und deren Zitationen zugrunde. Es geht neben der Zahl der Publikationen (hier pflegt man nach Publikationsort zu hierarchisieren) um die Zahl der Zitationen. Beides kann gegebenenfalls noch verknüpft werden (etwa zum so genannten Hirsch-Faktor). Vorausgesetzt ist jedoch, dass eine Zitation aussagekräftig für die wissenschaftliche Valenz einer Arbeit ist. Idealiert bedeutet dies, dass eine Arbeit a einen Datensatz liefert, mit dem eine Arbeit b, eine Arbeit c etc. weiterarbeiten, oder den die Arbeit b modifiziert oder korrigiert und damit in die Position als zukünftige Referenz tritt. Es ist eine bekannte Erscheinung, dass sich in den Naturwissenschaften in dieser Form das Wissen innerhalb etwa eines Jahrzehnts erneuert. "Älteres" ist dann nur noch als Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte relevant. Anders in mindestens einigen Bereichen der Geisteswissenschaften – hier wie im Folgenden beziehe ich mich auf mein eigenes Fach, die Gräzistik bzw. die Klassische Philologie. Zwar lässt sich auch hier beobachten, wie Aufsätze und Bücher aus dem Diskurs ausscheiden und nicht mehr berücksichtigt werden, doch vollzieht sich dies in der Regel nicht deshalb, weil sie von anderen Arbeiten ersetzt würden, sondern zumeist dann, wenn die in diesen Arbeiten verfolgten Fragestellungen nicht mehr im Zentrum des Fachinteresses stehen. Insofern lässt sich in der Gräzistik keine 'Erneuerung des Wissens' in bestimmten Intervallen konstatieren, sondern eine Verschiebung des Fokus. Ferner bieten Zitationen ein breiteres Spektrum von Funktionen. Gewiss kennt auch die Gräzistik das Zitat einer anderen Arbeit, auf deren Daten aufgebaut wird; freilich wird eine solche "Schuld" nicht immer in empirisch brauchbarer Form mitgeteilt, sondern oft nur summarisch zu erkennen gegeben: "Alle folgenden Angaben zu den Handschriften nach Turyn" (oder ähnlich) – mag auch im weiteren Text an die hundert Mal das Buch Turyns die Informationen liefern, es wird doch nur einmal genannt. Ein solches Verfahren ist durchaus üblich, sinnvoll und ökonomisch, da jeder Fachwissenschaftler, der meine Arbeit benutzt, damit genau weiß, woher ich meine Daten zu den Handschriften etwa des Euripides bezogen habe. Dem Ruhm Turyns hat meine Zitierweise keinen Abbruch getan, sondern vielmehr die kanonische Geltung seines Werkes bestätigt. Das Problem entsteht erst dann, wenn Turyn (er ist freilich schon lange tot) darauf angewiesen wäre, möglichst häufig zitiert zu werden, um einen hohen "Hirsch-Faktor" zu erreichen...

Demgegenüber haben es Arbeiten, die intelligent Abwegiges behaupten, viel leichter, in einem ‚Citation-Index‘ zu reüssieren. Stellt man Thesen auf wie etwa die, dass Herodot alle seine Zahlenangaben frei erfunden habe, dass Ovid nie verbannt worden sei, dass Homer ein Eunuch im Dienste Assyriens gewesen sei, so ist einem in nahezu sämtlichen Arbeiten zu diesen drei Autoren mindestens eine Zitation sicher, mag sie auch mit der Bewertung "falsch" verbunden sein. Kurzum, jegliche 'Qualitätsmessung', die mit Zitationen arbeitet, bevorzugt tendenziell spektakuläre (und unter Umständen falsche) Ergebnisse, benachteiligt aber Grundlagenforschung und nachhaltige Resultate, benachteiligt prinzipiell zudem diejenigen, die in entlegeneren Gebieten arbeiten, in denen die Forschungsintensität ohnehin geringer ist.

Nun könnte man die Auffassung vertreten, dass hiermit lediglich technische Probleme der Durchführung bezeichnet werden, die sich mit etwas Intelligenz beheben ließen. Eben der Umstand, dass sich Maßnahmen erdenken lassen, um derartige Messungen vermeintlich seriös und sinnvoll durchführen zu können, verstellt in der Regel den Blick auf das grundsätzliche Problem, wie angemessen die Ermittlung von Zahlen, also die Umsetzung der eingangs zitierten phythagoreischen Devise, überhaupt ist. Denn die Einführung der Zahl bedeutet sowohl den Verzicht auf Urteilsfähigkeit wie auch die prinzipielle Etablierung eines neuen Ziels für Wissenschaft. Dies ist leicht einzusehen, da traditionelle Bewertungssysteme, die wissenschaftliche Arbeiten (sei es in Form einer Rezension, sei es im Rahmen eines Berufungsverfahren) evaluierten, dies in den Geisteswissenschaften in Form einer Auseinandersetzung inhaltlicher Art mit den Ergebnissen vollzogen – man las eine Arbeit und referierte über sie. In den Natur- und Sozialwissenschaften scheint dies längst durch den Gebrauch diverser Formen von ‚Citation-Indices‘ ersetzt; Kandidaten, die in diesen Verzeichnissen 'visible' sind, dürfen auf ihr Fortkommen hoffen, diejenigen, die nicht sichtbar sind, werden vermöge des geringen Zahlenwerts mit dem Stempel der Provinzialität versehen abgelegt. Es gilt also, zu 'punkten', um, wie von Otto Rehhagel verlangt, einen ordentlichen Tabellenplatz zu bekommen. Wissenschaftliche Arbeit erhält damit ein neues Ziel: sie muss Punkte einspielen; dies ist gewiss ein veritabler Paradigmenwechsel, da das alte Ideal (dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, muss nicht eigens betont werden), "der Wahrheit zu dienen" (gelegentlich findet sich dies noch in hehren Inschriften in Universitäten formuliert, doch listigerweise zumeist in Sprachen, die den moderni nicht vertraut sind) damit aufgegeben wird. Mit dem neuen System einher geht in der Regel eine tiefgreifende Veränderung der Publikationsformen, in der einige wenige Zeitschriften privilegiert sind und damit den Markt beherrschen (bedeutet doch ein Aufsatz dort einen höheren ‚Impact-Faktor‘ als ein Buch in einer nicht ganz so wichtigen Reihe); Verfahren mit einem 'blind peer review' sollen in diesen Zeitschriften Qualität sichern, doch de facto entsteht damit das Risiko, dass neue Ideen verhindert werden, wenn als Gutachter jene gerade zum Gegenstand des Aufsatzes ausgewiesenen Gelehrte beauftragt werden, deren Thesen der Aufsatz hinterfragt bzw. widerlegt. Zwangsläufig werden sich gerade die Jüngeren in den Geisteswissenschaften eben an den Spielregeln des ‚Impact-Faktors‘ orientieren und ihre Forschung entsprechend ausrichten müssen, wenn sie ihr Fortkommen nicht gefährden wollen. Mit dem nächsten Generationswechsel wird dann auch an den Universitäten das 'neue Denken' in Zahlen fest implantiert sein.

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Grundsätzlich betrachtet, könnte Arithmetisierung der Leistung eines Wissenschaftlers als Abstraktionsleistung aufgefasst werden und damit als eine Art von Fortschritt in der Wissenschaftssystematik figurieren. Einem solchen Denken läge ein mehr oder weniger latenter Platonismus zugrunde, in dem sich alle Einzelerscheinungen auf eine Idee bzw. ein Konzept zurückführen lassen; die Arithmetisierung wäre der notwendige Vorgang, mit dem die Einzelerscheinungen verbunden werden. Allerdings ließe sich einem derartigen "Wissenschaftsplatonismus" genau die Kritik entgegenhalten, die auch der historische Platon durch seine Widersacher erfuhr: dass es nämlich nur sinnvoll sei, etwa vom Guten zu reden, wenn man bestimmt, in Bezug worauf etwas gut sein soll – und analog bedeutet dies, dass Zahlen nur einen Aussagewert haben, wenn ihr Bezugspunkt genau benannt ist (was zur Konsequenz hat, dass ihre universelle Geltung nicht mehr besteht). Ich selbst jedoch sehe in der Zahl als Ausdruck einer wissenschaftlichen Leistung eine Metapher – Arithmetisierung wäre damit eine Metaphorisierung und folglich eine Kategorie der Poetik oder Rhetorik. Die Konsequenzen, die man hieraus ziehen müsste, lasse ich hier unerörtert.

Es gibt eine alte antike Überlieferung, dass der Pythagoreer Hippasos von Metapont das Prinzip der Inkommensurabilität entdeckt habe. Hiermit widerlegte er, ohne es vielleicht beabsichtigt zu haben, den Lehrsatz, alles sei Zahl. Zur Vergeltung sei er von den Pythagoreern ertränkt worden. Ob sich in den Hochschulleitungen genügend Entdecker der Inkommensurabilität finden werden, darf man bezweifeln: zu groß scheint die Not, die sich aus den neuen Kompetenzen ergibt, zu stark der Zauber, der von der augenscheinlichen Simplizität des Prinzips Zahl ausgeht.

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Martin Hose ist Professor für Griechische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Griechisches Drama, Historiographie, Hellenistische Dichtung und Griechische Literatur der Kaiserzeit.