Qualitätsmessung: U. Herbert / J. Kaube: Die Mühen der Ebene. Über Standards, Leistung und Hochschulreform

Von
Ulrich Herbert, Historisches Seminar, Universität Freiburg / Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Den vollständigen Text des Gesprächs finden Sie unter dem gleichen Titel abgedruckt in: Elisabeth Lack / Christoph Markschies (Hrsg.), What the Hell is Quality? Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2008, S. 1-15. Auslassung sind ersichtlich an […].

[…]

JÜRGEN KAUBE: Wenn heute von Qualitätsmaßstäben für die Geisteswissenschaften die Rede ist, stehen jene Jahre des geisteswissenschaftlichen 'Wissenschaftswunders' wie ein Vorwurf im Raum. Ob man nun an Koselleck, Wehler und die Mommsens, an Habermas und Luhmann, an Hennis und Dahrendorf oder an Blumenberg und Henrich denkt – man könnte diese Liste fortsetzen: alles sehr unterschiedliche Lebensläufe, unterschiedliche Fächer, unterschiedliche Temperamente. Aber lauter nichtverlangbare und in ihrer Dichte verblüffende Leistungen. Muss sich die Gegenwart nicht fragen, was geschehen ist, dass eine solche Fülle an weithin wirksamen Forschungen danach nicht wiederkam?

ULRICH HERBERT: Zum einen ist es ganz normal, dass nach den Gipfeln die Mühen der Ebene kommen. Gerade weil all diese Autoren so anregend, so produktiv im Entwerfen von großen Perspektiven waren, geht die Forschung danach stärker ins Detail. Allerdings: Zwischen der Jahrhundertwende und den späten 1950er Jahren war ein so ausgeprägter und dann auch unbefragter Kanon entwickelt worden, der mit den entsprechenden disziplinären Standards verbunden war, dass es seit den frühen 1960er Jahren ganz erheblicher Anstrengungen bedurfte, um diesen Traditionsüberhang zu überwinden und Innovation, Pluralisierung, Internationalisierung und die stetige Infragestellung überkommener Inhalte und Methoden als Vorzüge und Voraussetzung für wissenschaftliche Leistungen zu etablieren. Schon deshalb, könnte man vermuten, waren in Deutschland in den Geisteswissenschaften besonders angestrengte Bemühungen notwendig, um diesen Traditionsüberhang auszugleichen, der vielfach mit hohen Standards im Handwerklichen verknüpft war, aber in der Vielfalt der thematischen Felder und der methodischen Neuerungen spätestens seit den 1930er Jahren im Vergleich mit den Entwicklungen in der internationalen Forschung zurückstand. Nun aber wurde die kritische Haltung gegenüber den überkommenen wissenschaftlichen Traditionen nachgerade zum Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Bemühungen. Das hat einerseits zu enormen Fortschritten geführt, wie wir unschwer erkennen können, wenn wir unsere je eigenen Disziplinen im Jahr 1960 und im Jahr 2000 vergleichen. Andererseits sind auch die Verluste unübersehbar, vor allem der Verlust verbindlicher Übereinkünfte über bevorzugte Gegenstände und Methoden sowie über das, was man als gute Wissenschaft ansieht.

JÜRGEN KAUBE: Diese gewisse Gediegenheit im Handwerklichen, das Gelehrte und zugleich die Offenheit für Theoriefragen, der Wille, ins Grundsätzliche zu gehen, hatten gewiss auch strukturelle Voraussetzungen. Mir scheint, dass beides unwahrscheinlicher wird, sobald ein, sei es tatsächlicher, sei es vermeintlicher Publikationsdruck aufkommt. Ökonomen sprechen von der "Tragödie der Allmende", wenn immer kleinere Fische aus den Weltmeeren gezogen werden. Wenn immer unausgegorenere Beiträge publiziert werden müssen, weil zwischen Antragsbewilligung und Verlängerungsantrag gar keine nennenswerte Zeit mehr liegt, ist das ja ein ganz ähnliches Trauerspiel. […] Es scheint, als habe das Wachstum der Disziplinen zu beschleunigter aber zugleich stärker diffuser Produktion geführt.

ULRICH HERBERT: […] Ja, der Zwang zum Publizieren ist ein Irrweg, und zwar in zunehmendem Maße. Wer nur vier Aufsätze und zwei Bücher anzubieten hat, hat bei Berufungsverfahren Probleme, mögen seine oder ihre Arbeiten noch so gut sein. Rein quantitative Auszählungsverfahren sind zur Feststellung der Qualität eines Wissenschaftlers in unseren Disziplinen jedenfalls nicht geeignet. Ich habe übrigens den Eindruck, als würde dies an den meisten Universitäten in Deutschland auch genauso gehandhabt. Übervolle Publikationslisten wirken oft eher kontraproduktiv.

Andererseits ist es ja sehr auffällig, dass, sieht man von erbitterten Schulenstreits ab, die zudem häufig noch von unterschiedlichen politischen Orientierungen und wissenschaftlichen Habitusformen unterfüttert sind, man sich im Kollegenkreise in der Regel eben doch schnell einig ist, ob dies ein gutes Buch, jene eine gute Wissenschaftlerin, jener hingegen ein Schaumschläger ist. Ebenso zeigt die Praxis der Blindbegutachtung bei referierten Zeitschriften sowie bei Gutachten in Promotions- und Habilitationsverfahren, dass es zwar immer wieder einmal – zuweilen erstaunliche – Unterschiede in den Beurteilungen gibt, aber doch als Ausnahmen. Tatsächlich kann also gar keine Rede davon sein, dass es keine weitgehend akzeptierten Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften gebe. Sie werden aber offenbar informell formuliert, beziehen sich zudem in der Regel auf die gleiche Fachrichtung und sind, in einer Reihe von Fächern, nicht ohne weiteres auf andere Subdisziplinen übertragbar. Natürlich gelten überall die Breite der Materialkenntnis, das Ausmaß an Belesenheit, die analytische Schärfe, die Findigkeit und Originalität der Recherche, die Plausibilität des Urteils, schließlich die Ästhetik der Sprache, in welcher der Text verfasst ist. Aber bei Anwendung dieser Kriterien gibt es doch große Spielräume – wie jeder zugeben wird, der soeben ganz für sich still und befriedigt konstatiert hat, wie vortrefflich all diese Kategorien auf das letzte eigene Werk zutreffen.

JÜRGEN KAUBE: Gilt dieser Konsens, was Standards betrifft, auch für die Lehre?

ULRICH HERBERT: Vermutlich nicht. Um die Lehre in den Geisteswissenschaften hat sich seit geraumer Zeit eine Art Schweigekartell gebildet. Schon das öffentliche Reden über die Qualität von Lehre wird als Ausdruck unakademischer Gesinnung gebrandmarkt. Nun haben die Probleme in der Lehre aber zunächst vor allem mit den gestiegenen Betreuungsrelationen zu tun. Seit den 1960er Jahren, von denen Sie eingangs sprachen, sind die Jahrgangsquoten der Studierenden von 15 Prozent allmählich auf etwa 25 bis 30 Prozent angestiegen. Viele, die sich heute an die goldenen Zeiten der Universitäten erinnern, sowohl die Konservativen wie die Achtundsechziger, vergessen das als eine Bedingung ihrer Nostalgie. Umgekehrt haben auch die Universitäten und die Hochschulpolitiker die Augen vor den Folgen des Wachstums verschlossen. Einer der Schlüsselbegriffe der Verwahrlosung an den deutschen Universitäten ist "Untertunnelung", also die in den 1980er Jahren gepflegte politische Vorstellung, man könne den demographischen Rückgang der absoluten Studierendenzahlen abwarten und in der Zwischenzeit die tatsächlich ansteigenden Studierendenzahlen mit demselben Personalumfang in der Lehre bewältigen. Es gab hier den Irrglauben, man komme irgendwann zu den 15 Prozent eines Jahrgangs zurück. […]

JÜRGEN KAUBE: Außerdem liegt ja für jeden Lehrenden die Haltung nahe: "Das sind erwachsene Menschen!" Jedenfalls wollen sie als solche wahrgenommen werden. […]

ULRICH HERBERT: Wer heute fragt: "Was tun Sie, damit die Studierenden die 50 Seiten zur Vorbereitung der Sitzung auch tatsächlich lesen?", erhält die Antwort: "Ich bin Wissenschaftler, kein Polizist". Das Selbstbild der Wissenschaftler als Teil einer freien Lehr- und Lerngemeinschaft, eines akademischen Arkadien, steht im Vordergrund. Die Wirklichkeit der Lehre ist ein Ärgernis, sie zu ändern verstieße aber gegen das postulierte Selbstbild. Und dann lässt jeder ein bisschen nach, die einen bei den Anforderungen, die anderen bei den Leistungen, und es verbreitet sich der Eindruck, alles funktioniere ja auch so ganz gut. An unserem Fachbereich hat eine Erhebung ergeben, dass etwa die Hälfte der Studierenden weniger als eine Stunde pro Woche auf die Vorbereitung eines Seminars verwendet. Andererseits gelten die Veranstaltungen, welche das höchste Lektürepensum verlangten und dies auch konsequent überprüften, bei den Studierenden als die besten. Die Behauptung, es ginge nicht anders, man müsse die Standards senken, trifft also nicht zu. Aber wenn nichts verlangt wird und man weiterhin so tut, als müssten die Studierenden von sich aus die Voraussetzungen bereits mitbringen, das notwendige Lesepensum zu absolvieren, wird sich hier nichts ändern. […]

JÜRGEN KAUBE: Die Frage ist nur, welche Anreize es dafür gibt, wenn die Mittelzuweisung an die Absolventenquote bzw. -zahl gebunden wird, wenn also Studiengänge wichtige Gründe dafür haben, so viele Zertifikate wie möglich zu verleihen. Der Wissenschaftsrat hat ausgerechnet, dass die Durchschnittsnote aller Fächer an deutschen Universitäten 1,8 ist. Es gibt Studiengänge, in denen es schlechterdings kaum möglich ist, eine Prüfung nicht zu bestehen.

ULRICH HERBERT: Die Notengebung, aus den 1970er Jahren kommend, suggeriert ja, dass man in der Universität, in den geisteswissenschaftlichen Fächern ebenso wie in vielen Naturwissenschaften, nach anderen Kriterien und Maßstäben lebe und arbeite als die Welt da draußen. Man verweigert sich dem Notendruck und der Utilitarisierung von Forschung, Lernen und Wissenschaft im Ganzen. Wer Wissenschaft nicht um ihrer selbst betreibe, so das Credo, der habe nicht verstanden, worum es gehe. Dem kann man ja in Momenten idealistischer Aufwallung durchaus folgen. Nur was ist mit denen, die Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen treiben, sondern weil sie einen Beruf ergreifen wollen, die auf welchem Weg auch immer möglichst gute Noten erzielen wollen und denen der romantische Akademismus der Hochschullehrer egal ist? Derzeit schleift man sie irgendwie mit, sie bekommen auch ein Examen, schon um Ärger zu vermeiden – und konzentriert sich auf die happy few, die womöglich promovieren und Wissenschaft betreiben wollen. Wie kann man das ändern? Durch gute Lehrveranstaltungen und durch den Nachweis, dass ein qualitativ hochstehendes Studium selbst mit einer Zwei minus abgeschlossen erheblich wertvoller und lohnender ist als ein Bluff-Studium ohne Substanz, aber mit "sehr gut".

JÜRGEN KAUBE: Wobei das Dilemma der Lehrerbildung vielleicht sogar noch größer ist, weil ja tatsächlich eine Universität, die sich unter dem Studenten in erster Linie einen zukünftigen Forscher vorstellt, auch Gefahr läuft, an ihnen vorbei zu unterrichten. […]

ULRICH HERBERT: Das ist nicht nur ein Problem der Geisteswissenschaften. In manchen Naturwissenschaften werden Lehramtsstudierende geradezu mit Verachtung behandelt. […] Dann darf man sich nicht wundern, wenn die Studentenzahlen in diesen Fächern sinken. Die Lehramtskandidaten waren früher sehr oft die besseren unter den Studierenden. Heute sind es oft diejenigen, die den Stoff sofort daraufhin mustern, ob sie das wirklich später in der Schule brauchen, wobei sie noch unterstützt werden durch Erziehungswissenschaftler, die ihnen einreden, das Wichtige am Unterricht sei ja auch gar nicht die Beherrschung des jeweiligen Faches, sondern die "Methode". So, als sei Methode alles und Sachkenntnis nachrangig. […]

JÜRGEN KAUBE: Über eine "Vermassung" der Forschung redet übrigens auch niemand, obwohl es doch offenkundig ist, dass hier ebenfalls merkwürdige Wachstumsphänomene zu beobachten sind. Übertrieben gesprochen: Im vergangenen Jahrzehnt hat jede Wissenschaftlergruppe, deren Aufsätze von einem Journal abgelehnt worden sind, ein eigenes gegründet. […]

ULRICH HERBERT: Diversifizierung und Pluralisierung der Forschungsrichtungen haben mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen, dass die Profile der Disziplinen oft kaum mehr erkennbar sind und es weder informelle noch formelle Vereinbarungen über, sagen wir, die Mitte eines Fachs mehr gibt. Damit verbunden ist der Verlust von übergreifenden Qualitätskriterien. […] Der Ruf nach Standards in Qualität und Kanon ist also vor allem pragmatisch zu begründen. Die Notwendigkeit von Vereinbarungen ist aber auch schon deswegen evident, weil ohne Kanon keine Kritik an ihm, ohne Qualitätsbegriff keine Sprengung desselben. Nur wo Normalnull definiert ist, kann man deren Unter- und Überschreitung erkennen. […] Allerdings war es historisch betrachtet stets so, dass die Mehrzahl der Forscher wie auch der Studierenden eher mittelmäßig war…

JÜRGEN KAUBE: Es können schon rein rechnerisch nicht alle über dem Durchschnitt liegen…

ULRICH HERBERT: Nur, dass durch das Wachstum der Wissenschaft, übrigens auch der zur Verfügung stehenden Zeit, heute die Dissertation das ist, was früher die Habilitation war, und die Magisterarbeit das, wofür man einst einen Doktortitel erhielt. In Bezug auf solche Qualifikationsarbeiten hat die Qualität eindeutig zugenommen. Zugleich gibt es in manchen geisteswissenschaftlichen Fächern einen Verlust an Identität und an wissenschaftlichen Standards. […]

JÜRGEN KAUBE: Man vermisst gerade in manchen Geistes- und Sozialwissenschaften wie der Germanistik, der Soziologie oder der Pädagogik ein Bewusstsein davon, was der Stand dieser Fächer ist, hinter welchen Errungenschaften man auf keinen Fall zurückbleiben kann, um ernst genommen zu werden. […] Andere Fächer wie die Kunstgeschichte oder die Altertumshistorie verdanken ihren vergleichsweise guten Zustand vielleicht gerade diesem Bewusstsein vom Stand des Erreichten. […]

ULRICH HERBERT: In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gibt es tatsächlich nicht nur keinen Konsens über die Kriterien für gute und schlechte Wissenschaft, es gibt auch keinen Konsens mehr über die Gegenstände der Wissenschaft und die sinnvollerweise zu verwendenden Methoden. Die Germanistik, so einige ihrer Vertreter, sei hierfür ein besonders aussagestarkes Beispiel. Zwischen den verschiedenen Subdisziplinen und Schulen existiere nurmehr eine rudimentäre Kommunikation. Das scheint aber keine Besonderheit der Germanisten zu sein. Die kleinen Fächer hingegen tun sich oft leichter mit der Verständigung über Kriterien, weil es dort manchmal nur fünfzig bis einhundert Spieler auf dem gesamten Feld gibt. […] Wichtig ist jedenfalls, dass Forschungen mangelnder Qualität tatsächlich kritisiert werden, selbst wenn die entsprechenden Auseinandersetzungen noch so anstrengend sind, weil sie auch die Kollegialität strapazieren…

JÜRGEN KAUBE: … dafür aber die Moden in Grenzen halten.

ULRICH HERBERT: Da gibt es Unterschiede, manche Moden sind durchaus hilfreich. In der Geschichtswissenschaft gibt es ja diese Buchproduktion auf Jahrestage und Aktualitäten hin, das kann einem schon auf die Nerven gehen. […] Ganz anders die modischen Theorien, die aber gerade von den besseren Studenten oft begierig aufgesaugt werden, weil sie ein sehr waches Empfinden dafür haben, in welchen Bereichen derzeit die interessantesten, kontroversesten Debatten geführt werden. Natürlich verliert das nach einer gewissen Zeit an Bedeutung und Schärfe, und viele Forschungskontroversen werden eben auch entschieden; danach weiß man besser, was plausibel ist und weiterführend und was nicht. Insofern ist die Kritik an den "Moden" ebenso kurzlebig wie die Moden selbst. Wir haben in den Geschichtswissenschaften seit geraumer Zeit wichtige Debatten über die Ausweitung der Geschichtswissenschaft über den nationalen Rahmen hinaus, zu Bereichen, die nicht vom Nationalen her zu entschlüsseln sind. Zwar kann man den Begriff "transnational" dann bald nicht mehr hören, aber die Sache bleibt wichtig und hat uns auch erhebliche Horizonterweiterungen gebracht. Aber es gibt natürlich auch rein repetitive oder imitative Tendenzen. […]

JÜRGEN KAUBE: Der stark über Drittmittel und Projektverbünde laufende Forschungsbetrieb begünstigt dieses Imitationsverhalten.

ULRICH HERBERT: […] Es kommt aber darauf an, dass keine forscherische Schattenwirtschaft entsteht: Projektforschung als Oberfläche, als Pflichtübung, die die Forscher von der Beschäftigung mit dem eigenen, seit Jahren sorgfältig vorbereiteten Buchvorhaben abhält. Es kommt darauf an, die tatsächlichen Forschungsinteressen und -kompetenzen der Einzelnen so miteinander zu verzahnen, dass man von einem kooperativen Projekt mehr hat als von einem Einzelvorhaben – und dies dann auf besserem Niveau auch tatsächlich betreiben kann. Problematisch bei der Projektforschung ist allerdings die unkontrollierte Produktion von Post-Doktoranden, also promovierten Mitarbeitern, die für ein Projekt an der Uni gehalten werden, ohne dass man ihnen eine halbwegs gesicherte Zukunft garantieren oder auch nur in Aussicht stellen kann.

JÜRGEN KAUBE: […] In den Geisteswissenschaften sind die Bewerberzahlen noch sehr hoch, in den Naturwissenschaften fehlt es an wissenschaftlichem Nachwuchs, und viele gute Leute sind in die USA abgewandert. Auch bei den Geisteswissenschaftlern hat es ja in den vergangenen Jahren zahlreiche solcher Fälle gegeben.

ULRICH HERBERT: Tatsächlich wird der Professurenberuf unattraktiver. Wer die neue TVL-Entlohnung für wissenschaftliche Mitarbeiter verabschiedet hat, der muss schon sehr weit entfernt sein von der Lage an den Unis. Mit der Eingangsstufe "TVL 13" kommen sie auf ein Gehalt, das deutlich unterhalb der Einkünfte derer liegt, die nach dem Studium gleich an eine Schule gegangen sind. Nicht anders verhält es sich mit der W-Besoldung: Eine Nachwuchsstelle auf W-Basis ist heute in der Größenordnung eines Realschullehrergehalts angesiedelt. Die Zahl der befristeten Stellen ist deutlich gewachsen. Schlecht bezahlt, unsichere Arbeitsplätze, hohe Belastung – in welchem anderen Bereich von solcher Bedeutung gibt es derartige Verhältnisse? Darin drückt sich auf ganz ungeschminkte Art ein veritabler Anti-Intellektualismus aus, der in Deutschland ausgeprägter ist als anderswo und einen trüben historischen Hintergrund hat. Wer heute die Hochschullaufbahn – die ja gar keine Laufbahn ist – einschlägt, muss in unseren Fächern mit etwa 50-prozentiger Sicherheit damit rechnen, nach erfolgreicher Promotion, Habilitation und sechs bis zehn Jahren Lehrerfahrung keine Professur zu bekommen. Und da es an der Hochschule nahezu keine Alternative gibt, bedeutet das: berufliches Scheitern und in vielen Fällen auch soziales Scheitern. Wer sollte denn ein solches Risiko auf sich nehmen? Und warum? Vor allem, wenn ich in Großbritannien oder den USA eine ordentliche Bezahlung und eine feste Stelle erhalten kann.

JÜRGEN KAUBE: Die unkluge Weise, in der hierzulande die Bachelor-Studiengänge eingeführt worden sind und vielerorts eingerichtet werden, trägt zu dieser abnehmenden Attraktivität der Universität bei.

ULRICH HERBERT: Ich finde die Einführung der Bachelor/Master-Studiengänge insgesamt so dumm nicht. […] Nach drei Jahren einen ersten Abschluss zu haben und sich dann zu überlegen: "Gehe ich in den Beruf oder mach ich noch den MA?" – das scheint mir eine vernünftige Sache, und die Erfahrungen etwa in Skandinavien oder Benelux bestätigen das auch. Der Bachelor-Studiengang nützt durch die größere Verbindlichkeit vor allem den Studierenden aus bildungsferneren Schichten, während er den stark intrinsisch Motivierten nicht schadet. Im Kern aber bleibt das eine Frage, wie die Dozenten ihre Lehrveranstaltung vorbereiten und organisieren – hier sehe ich die eigentlichen Defizite. Die Klage über BA und MA scheint mir weithin eine Ablenkung von den akuten Defiziten in der Lehre.

JÜRGEN KAUBE: […] Aber um noch einmal zur Forschung zurückzukehren: Mir scheint das Vertrauen in bibliometrische Verfahren ein Krisenindikator zu sein. Man weicht der Urteilsbildung aus, auch den Konflikten, die damit verbunden sind, und setzt auf Zahlen, von denen jeder weiß, wie wenig aussagekräftig sie sind und wie leicht sie manipuliert werden können.

ULRICH HERBERT: Dass Qualitätsmessung in den Geisteswissenschaften ein schwieriges Unterfangen ist, hat jedenfalls nicht nur damit zu tun, dass die vorwiegend qualitativen, hermeneutischen Verfahren der Geisteswissenschaften exakter Bemessung schwerer zugänglich sind als quantitativ orientierte und experimentelle Forschung. In anderen Ländern, den angelsächsischen zumal, gibt es ja bereits Zitations-Indices, Zeitschriftenrankings und sehr ausgefeilte Verfahren der Begutachtung wissenschaftlicher Arbeiten, insbesondere bei den Begutachtungen für das tenure track-System. Und wer würde behaupten, dass die wissenschaftliche Qualität in den Universitäten dieser Länder schlechter ist als bei uns? Gleichwohl, mein Vertrauen in rein bibliometrische Verfahren ist ziemlich gering.

JÜRGEN KAUBE: Aber kann man es nicht doch einfach beim Lesen als dem primären und irgendwie auch einzigem verlässlichen Verfahren der Qualitätsbeurteilung belassen? Mir leuchtet es nicht ein, wenn aus der Spezialisierung abgeleitet wird, man könne nicht mehr beurteilen, was die meisten Kollegen so machen, und sei darum gezwungen, ihre Aufsätze zu zählen […], um herauszufinden, ob man den Autor berufen oder ihm Drittmittel geben kann.

ULRICH HERBERT: Das ist richtig. Trotzdem können wir die Frage "Wie messt ihr Geisteswissenschaftler denn Leistung?" nicht einfach nur mit "Geht nicht!" beantworten. Wir können nicht ernsthaft so tun, als sei die Leistung eines Historikers oder eines Literaturwissenschaftlers nicht bemessbar, sondern im Wortsinn unermesslich. Zunächst bedeutet Leistungsmessung nur, dass die Standards der Geisteswissenschaften sich ebenso öffentlicher Überprüfung zu stellen haben wie jede andere Disziplin auch. In den meisten Geisteswissenschaften gibt es keinen Konsens und keine Praxis der Leistungsmessung in der Forschung. Ein System der referierten Zeitschriften wie in den Naturwissenschaften und auch den Sozialwissenschaften ist in den Geisteswissenschaften bislang nicht entwickelt worden. Nur auf dieser Grundlage ist ein bibliometrisches Verfahren auch sinnvoll. Denn dann sagt es mir: "Kandidat A hat neun Aufsätze in den Zeitschriften mit den höchsten Standards veröffentlicht, Kandidat B keinen, sondern hat nur in Sammelbänden und nicht referierten Journalen publiziert." Das würde ich als einen aussagekräftigen Hinweis auf die Qualität des Bewerbers akzeptieren.

Gegen solche Vorschläge wurde eingewandt, dieses Verfahren widerspreche den qualitativen Bedürfnissen der Geisteswissenschaften. Zudem sei wissenschaftliche Leistung in den Geisteswissenschaften ohnehin nicht präzise zu messen, vielmehr führe bereits der Versuch zur Herausbildung wissenschaftsfremder, letztlich ökonomistischer Kategorien. Eine Fächergruppe, die sich aus Tradition und Überzeugung einer intersubjektiven Überprüfung ihrer Leistungshöhe entzieht, wird aber in einem System, das in den vergangenen fünfzehn Jahren einen Übergang von der konsensorientierten Kollegialuniversität zum Modell der Wettbewerbshochschulen durchlaufen hat, an Bedeutung stetig verlieren. Daran wird die immer wieder erneute Anrufung der Sonderstellung der Geisteswissenschaften aufgrund der Dignität ihrer Gegenstände nichts ändern. Auf der anderen Seite müssen solche Verfahren die Spezifika der geisteswissenschaftlichen Disziplinen berücksichtigen, die durch Stichworte wie "Bedeutung der Einzelforschung", "individuelle statt arbeitsteilige Forschung", "Bedeutung der archivalischen, lexikalischen und editorischen Wissensspeicherung", "Pluralität der Methoden", "Vielfalt der Gegenstände", "Bedeutung von Sprache und künstlerischer Gestaltung" etc. formuliert sind. […]

JÜRGEN KAUBE: Mit anderen Worten: Wer sich, vielleicht mit guten Argumenten, nicht bibliometrisch messen lassen möchte, muss dafür sorgen, dass die Standards auf andere Weise durchgesetzt werden, sollte aber tunlichst Redensarten in die Richtung vermeiden, man könne den Geist keinen Kriterien unterwerfen?

ULRICH HERBERT: In der Tat. Das Postulat, in den Geisteswissenschaften sei Leistung nicht messbar – weder bei den Studenten, weshalb nur die Noten "Eins" und "Zwei" vergeben werden, noch bei den Professoren, weshalb kein System referierter Zeitschriften existiert –, überzeugt mich nicht. Qualitätsdefinitionen und Kanonbildung sind notwendige Prozesse innerhalb – nicht nur – geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Sie allein versetzen in die Lage, innerhalb des Faches belastbar zu kommunizieren und Neuerungen, auch Qualitätssprünge, zu bemerken. Nur: es handelt sich um pragmatische Vereinbarungen, wohl wissend, dass solche Systeme nur Hilfsmittel sind, um Kommunikation innerhalb von Disziplinen und darüber hinaus zu ermöglichen. Wir sollten uns hüten, nach Jahrzehnten der Diversifizierung und Relativierung nun in ein neues Zeitalter der Begrenzungen einzutreten, das Weitungen verhindert und Kreativität missachtet.

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Ulrich Herbert ist seit 1995 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau. Seit 2007 Direktor der School of History am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Zwischen 2001 und 2006 war er Mitglied des Wissenschaftsrates und leitete zuletzt die Arbeitsgruppe Geisteswissenschaften.

Jürgen Kaube ist Mitglied der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an deren Feuilleton er seit 1992 mitarbeitet. Er ist für Wissenschafts- und Bildungspolitik zuständig und seit August 2008 Ressortleiter für die Geisteswissenschaften.