Historikertag 2008: Zeitgeschichte vor 1945

Von
Marc Buggeln, Universität Bremen

Besprochene Sektionen

"Ungleichheiten in der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft""
"Wirtschaftliche Ungleichheit als globales Problem des 20. Jahrhunderts"
"Ungleichheit, Prosperität und Glück. Wirtschaftshistorische Perspektiven"
„Visualisierung der Ungleichheit“

Historiker und Historikerinnen beweisen manchmal prognostische Fähigkeiten, wie die Wahl der Überschrift „Ungleichheiten“ für den Historikertag 2008 auf dem Historikertag 2006 in Konstanz zeigt. Die Wahlerfolge der Partei „Die Linke“, vor allem aber die schwere, globale Finanzkrise zeigen, dass die Auseinandersetzung mit „Ungleichheit“ derzeit äußerst aktuell ist. Gegenüber den Themen vorheriger Historikertage zeichnete sich durch diese Wahl eine erhöhte Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlich brennenden Fragen ab. Ob damit allerdings eine Rückkehr zur Sozialgeschichte verbunden ist, wie Christoph Cornelißen 1 vermutet, muss bei einem Blick auf die Vielfalt des Programms bezweifelt werden. „Ungleichheiten“ bildeten nicht nur für die Sozialgeschichte ein lohnendes Gebiet, auch für wirtschafts- und kulturgeschichtliche Ansätze eröffneten sich zahlreiche Fragestellungen. Auch für das Feld der Zeitgeschichte bot die Überschrift zahlreiche Anknüpfungspunkte, so dass der für den Historikertag in Konstanz 2006 konstatierte Bedeutungsverlust der Zeitspanne sich nicht bestätigte. 2 Insbesondere gab es wieder eine größere Anzahl von Sektionen, die sich der Zeit des Nationalsozialismus widmeten.

Die Sektion „Ungleichheiten in der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft’“ orientierte sich an der durch Götz Alys „Volksstaat“ aufgeworfenen Frage, ob die NS Herrschaft egalisierende Tendenzen gehabt habe. Mehrheitlich wandten sich die Vortragenden gegen diese Ansicht und wiesen stattdessen auf die neuen Ungleichheiten hin, die in den Jahren 1933 bis 1945 entstanden. Gleichzeitig wurden aber auch die Angebote des Staates an seine Bevölkerung in den Blick genommen und deren Attraktivität untersucht. Das Panel lieferte dadurch auch Erklärungsansätze für die phasenweise starke und aktive Loyalität breiter Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber der NS-Diktatur.

Der Begriff „Volksgemeinschaft“ wurde bereits in der Weimarer Republik sowohl von der SPD als auch von liberalen und konservativen Parteien verwendet, so MICHAEL WILDT (Hamburger Institut für Sozialforschung). Auch wenn sich das Bedeutungsfeld dort deutlich von dem der NSDAP unterschied, stand der stark kollektivistische Zug im Gegensatz zu dem Verständnis von angloamerikanischen, demokratischen Parteien. In den USA oder Großbritannien erlangte der Begriff darum keine vergleichbare Relevanz. ARMIN NOLZEN (Ruhr-Universität Bochum) untersuchte die Eintrittswellen der deutschen Bevölkerung in die NSDAP und die ihr angeschlossenen Verbände unter dem Aspekt der Selbstmobilisierung. Seiner Schätzung nach waren 1939 zwei Drittel aller Deutschen Mitglied zumindest einer NSDAP-Organisation, was auf ein erhebliches Maß an Zustimmung und Selbstmobilisierung schließen lasse. FRANK BAJOHR (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg) betonte die weitere Ausdifferenzierung der Arbeiterlöhne während der NS-Zeit. Während Unterschiede auf diese Weise erhalten und sogar verstärkt wurden, bemühte sich die NSDAP, den Wert der Arbeit ideologisch aufzuwerten, wobei sie insbesondere in technologisch innovativen Industriezweigen erfolgreich war. SYBILLE STEINBACHER (Friedrich-Schiller-Universität Jena) zeichnete den beibehaltenen Ausschluss der Frauen aus der Politik nach. Jedoch erhielten Frauen durch neue Arbeitsplätze andere Möglichkeiten des Aufstiegs und der Anerkennung und damit auch Chancen zur Herrschaftsausübung. BIRTHE KUNDRUS (Hamburger Institut für Sozialforschung) analysierte die Selektionspolitik im Warthegau und im Generalgouvernement. Für Volksdeutsche und Teile der polnischen Bevölkerung, die als „eindeutschungsfähig“ deklariert wurden, bot diese Politik Vor- wie Nachteile. Für die Ausgeschlossenen, insbesondere die jüdische Bevölkerung, waren Verfolgung, Vertreibung und Mord die Folgen. DIETMAR SÜß (Friedrich-Schiller-Universität Jena) fragte, ob der Luftkrieg die deutsche Bevölkerung zusammenschweißte oder eine Zermürbung bewirkte. In seinem Fazit gab Süß jedoch keine eindeutige Antwort, sondern betonte eher eine Vielfältigkeit von Differenzen, die durch den Luftkrieg entstanden oder sich durch ihn verschärften.

Leider fehlte den Vorträgen meist eine vergleichende Perspektive zu anderen Ländern. Oft blieb in den Vorträgen offen, ob die diskutierten Fragen eine Spezifik des Nationalsozialismus darstellten oder sich in anderen Ländern ähnlich ausformten. Auch ergab sich eine gewisse Differenz zwischen Postulat und Umsetzung: Die meisten Vortragenden forderten zwar explizit einen Zugriff über die soziale Praxis ein, konnten diesen aber aufgrund der als Forschungsüberblicke konzipierten Manuskripte kaum einlösen. So wurde zwar mehrfach betont, dass Gewaltpraxen ein wichtiges Mitmach-Angebot des NS-Regimes darstellten, doch wie diese konkreten Aktionen aussahen, und welche Gewinne die Akteure aus ihr zogen, blieb leider unausgeführt. Trotz dieser Defizite, die auch in der Kürze der Zeit begründet waren, war die Sektion die kohärenteste aller von mir besuchten Sektionen. Alle sechs Vorträge gaben zudem Forschungsüberblicke auf höchstem Niveau.

Während die Wirtschaftsgeschichte auch durch den Aufstieg der Kulturgeschichte in den letzten Jahren oft ein Randdasein in der Geschichtsforschung führte, hat die Konjunktur der Globalgeschichte wie auch die zunehmende öffentliche Diskussion über Ungleichheiten Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die in der Wirtschaftsgeschichte seit längerem eine wichtige Rolle spielen. In der Regel analysiert die Wirtschaftsgeschichte dabei das Handeln von Unternehmern und politischen Funktionsträgern oder versucht auf Basis statistischer Daten Zusammenhänge herzustellen. Die Sektion „Ungleichheit, Prosperität und Glück. Wirtschaftshistorische Perspektiven“ suchte zu ihren Fragen vor allem über statistisches Material Antworten. Erörtert wurde jedoch auch die Überlegung, inwieweit eine Befragung der Bevölkerung Aufschlüsse über Ungleichheit zu bringen vermag. So wertet die ökonomische Glücksforschung Umfrageergebnisse aus, um anhand dieser eine Relation zwischen den ökonomischen Verhältnissen einer Person und ihrem allgemeinen Wohlbefinden herzustellen. ULRICH WOITEK (Universität Zürich) berichtete über verschiedene Verfahren der ökonomischen Ungleichheitsmessung, die er an der Einkommensverteilung von Schweizer Lehrern im 19. Jahrhundert illustrierte. Eine ökonomische Glücksforschung ist seiner Ansicht nach hingegen nur für die letzten dreißig Jahre möglich, in denen ausreichend Befragungen der Bevölkerung darüber vorliegen, wie zufrieden Menschen in ihrer Situation sind. Für die Auswertung der Daten wäre, so Woitek, eine Zusammenarbeit zwischen Ökonomen und Psychologen notwendig. Dieser stand er allerdings skeptisch gegenüber. Mitunter betont die ökonomische Glücksforschung, dass ärmere Menschen nicht unglücklicher sind als Wohlhabende. In der Debatte wurde deshalb die Frage aufgeworfen, ob die ökonomische Glücksforschung nicht vor allem der Verklärung ökonomischer Ungleichheit diene. MICHAEL PAMMER (Johannes-Kepler-Universität Linz) untersuchte die ungleiche Vermögensverteilung in einigen Bundesländern des Königreichs Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert. Dabei entwickelte er ein vielschichtiges Instrumentarium zur Erklärung der Unterschiede. JAN-OTMAR HESSE (Georg-August-Universität Göttingen) legte dar, dass das Einkommen von Professoren in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts mitunter mehr als zehn Mal höher lag als das des Durchschnittsverdieners. Heute hingegen sei die Differenz lediglich zweieinhalb Mal so hoch. Er stellte fest, dass es ob dieses vergleichsweise deutlich zu Tage tretenden ökonomischen Positionsverlustes überraschend wenig Proteste gegeben habe.

In dieser Sektion gab es außer dem Oberthema „Ungleichheit“ wenig Verbindendes, was dazu führte, dass in der Diskussion keine übergreifenden Zusammenhänge erörtert wurden. Das Publikum stellte lediglich konkrete Nachfragen zu den einzelnen Vorträgen. Ein Grund hierfür war zweifelsohne der kurzfristige Ausfall des Vortrags von Mark Spoerer (Berlin) über Ungleichheit in Westeuropa im 20. Jahrhundert. Doch auch mit ihm dürfte eine sinnvolle inhaltliche Verbindung zwischen Schweizer Lehrern, österreichischen Bundesländern und deutschen Professoren über unterschiedlichen Zeiten hinweg kaum einfacher geworden sein.

Die Sektion „Wirtschaftliche Ungleichheit als globales Problem des 20. Jahrhunderts“ erweiterte die Perspektive um die globale Dimension der Ungleichheit. Warum es überhaupt reiche Länder gebe, fragte PEER VRIES (Universität Wien). China und Indien hätten zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen größeren Marktanteil an der Weltwirtschaft gehabt als Europa. Im Pro-Kopf-Einkommen seien die Europäer zwar reicher gewesen, doch höchstens im Verhältnis von eins zu zwei. Heute habe sich das Ungleichverhältnis vervielfacht. Wie diese Differenz entstand, beleuchtete er am Beispiel von China und Großbritannien. Großbritannien war im 18. Jahrhundert ein fiskal-militärischer Staat, der in der Regel etwa 80 Prozent seines Staatsbudgets für das Militär ausgab. China trieb kaum Steuern ein und unterhielt nur wenig Militär. Das war unproblematisch, solange die Welt noch nicht kapitalistisch organisiert und die Transportzeiten sehr lang waren. Mit der Zunahme kapitalistischer Konkurrenzverhältnisse und der Verkürzung der Transportwege wurde Chinas militärische Unterlegenheit relevant. Europa konnte sich nun durch seine militärische Dominanz wirtschaftliche Vorteile sichern, was die Unterschiede zwischen den Ländern schnell deutlicher werden ließ. Vries betonte abschließend, dass für den Aufstieg reicher Länder letztlich die differente Organisation des Staates entscheidend war und genau dies Ökonometristen nur bedingt erklären könnten.

Während Vries die Entstehung von armen und reichen Ländern untersuchte, fragten die folgenden Vorträge nach dem Blick vorwiegend westlicher Experten auf die im 20. Jahrhundert zunehmend zur Kenntnis genommene Ungleichheit zwischen Ländern und Kontinenten. DANIEL SPEICH (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich) beleuchtete den Umgang von Wirtschaftsstatistikern mit Fragen globaler Ungleichheit, der in den 1940er- und 1950er-Jahren seine erste Konjunktur hatte. Durch diesen sei zwar ein Problembewusstsein entstanden, aber eben auch eine Norm, wie sich Länder der Peripherie zu entwickeln hätten. ALEXANDER NÜTZENADEL (Viadrina-Universität Frankfurt/Oder) sah in der Rückkehr des Hungers nach Europa im Ersten Weltkrieg den auslösenden Moment dafür, Hunger als globales Problem zu begreifen. Bereits in der Zwischenkriegszeit, vor allem aber in den 1940er- und 1950er-Jahren entstanden global agierende Organisationen der Hungerhilfe. Doch blieben diese – zum Beispiel auch die Food & Agricultural Organization (FAO) – bis zu den Hungerkrisen der 1960er-Jahre unterfinanziert und mit geringem politischem Einfluss. CORINNA UNGER (Deutsches Historisches Institut Washington) untersuchte die „Modernisierungsstrategien“ der Rockefeller und der Ford Foundation in der Dritten Welt. Sie betonte das große Engagement der in den Stiftungen arbeitenden Experten, die einem universellen Fortschrittsversprechen verpflichtet waren. Gleichzeitig meinte sie, dass es den Stiftungen auch um die Regulation der unübersichtlichen Länder der Dritten Welt gegangen sei. Das Scheitern der Modernisierungsstrategien begründete sie vor allem mit dem westlichen Blick der Experten und der nicht ausreichenden Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten. Damit folgte sie der Kritik, die in den Stiftungen selbst seit den 1970er- und 1980er-Jahren formuliert wurde.

ANDREAS ECKERT (Humboldt-Universität zu Berlin) betonte in seinem Kommentar, dass man den Verkauf von Produkten in die Dritte Welt als Teil von Entwicklungsprojekten nicht unterschätzen sollte. Zudem gab er zu Bedenken, dass das Scheitern nicht allein durch einen westlichen Blick zu erklären sei. Vielmehr bestünde ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Rückständigkeit zu bekämpfen und dem Wunsch, den eigenen Machtstatus zu erhalten. Ulrich Herbert (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) entgegnete, dass dies doch die Instrumentarien einer veralteten Imperialismuskritik seien. Er plädierte dafür, den in den 1950er-Jahren entstehenden idealistischen Universalismus, der seiner Meinung nach erst im Vietnam-Krieg ins Zynische abglitt, ernst zu nehmen. Nun hätte man von der „streitbaren Zunft“ eine erhitzte Diskussion über den Sinn und Zweck der Weiterverwendung bestimmter analytischer Elemente der Imperialismuskritik erwarten können, doch die konträren Positionen blieben weitgehend unerörtert im Raum stehen.

Die Sektion „Visualisierung der Ungleichheit“ nahm sich der Analyse von Schaubildern und Grafiken an, die aus demographischen Statistiken generiert wurden. HEINRICH HARTMANN (Freie Universität Berlin) sah die Anfänge der demographischen Wissenschaften und deren Visualisierungsstrategien eng verbunden mit Bedürfnissen der Kriegsführung und dem Aufkommen von Wehrkraftstatistiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er wies dabei auf den Zwiespalt der Demographen hin, die sich zumeist als universelle und transnationale Forscher begriffen, in der Regel aber auf nationalstaatliche Daten zurückgriffen. SYLVIA KESPER-BIERMANN (Universität Bayreuth) untersuchte die Bedeutung von Torten- und Flächendiagrammen bei der Konstruktion und Verortung der „unheilbaren Verbrecher“ im Deutschland der 1930er-Jahre. DANIEL SCHMIDT (Universität Leipzig) analysierte die Verbreitung der 1932 vom Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer eingeführten Bevölkerungspyramide. Er konnte feststellen, dass diese sowohl in der BRD wie in der DDR die häufigste Visualisierungsstrategie der Bevölkerungswissenschaftler war. VERONIKA LIPPHARDT (Humboldt-Universität zu Berlin) beleuchtete die Versuche der Humangenetik und der Ökologie, die Bevölkerungswissenschaft als zentrale Beratungsinstanz der Politik zu verdrängen. Als langfristigen Wandel charakterisierte sie dabei, dass Burgdörfer 1932 ein wachsendes Volk als Ideal formuliert hatte. Er sah für Deutschland einen Bevölkerungsrückgang als große Gefahr. Die neueren Wissenschaftszweige begreifen heute ein alterndes, "stationäres" Volk im Zeichen des Bevölkerungswachstums als Ideal, während die eher wachsenden Völker der Dritten Welt als das zentrale Problem betrachtet werden, dem mit Bevölkerungskontrolle beizukommen sei. JAKOB VOGEL (Universität zu Köln) versuchte in seinem Kommentar eine Chronologie der Visualisierungsstrategien in den Bevölkerungswissenschaften zu entwerfen, die jedoch vom Publikum aufgrund der Heterogenität der Vorträge skeptisch kommentiert wurde. Die Diskussion fokussierte sich im Wesentlichen auf die Frage, inwieweit Schaubilder und Graphiken autoritäre Setzungen oder/und auch deutungsoffen sind, sowie inwieweit eine Erforschung der Rezeptions- und Aneignungsformen möglich und sinnvoll ist.

Zusammenfassend betrachtet lag eine Stärke des diesjährigen Historikertages aus der Perspektive der Zeitgeschichte in der Auseinandersetzung mit bis heute politisch bedeutsamen Themen. Dieses Lob können sowohl die sozial- und wirtschaftshistorischen wie auch kulturgeschichtlichen Sektionen für sich beanspruchen. Weiter ist hervorzuheben, dass der Bedeutung von Statistiken nachgegangen wurde. Durch sie konnten auch ansonsten eher verdeckte Ungleichheiten sichtbar gemacht werden. Positiv ist weiter zu vermerken, dass die Statistiken auf dem Historikertag nicht ausschließlich als getreues Abbild der Welt dargestellt, sondern auch auf ihren Konstruktionscharakter hingewiesen wurde. Bemerkenswert war außerdem, dass die postkoloniale Kritik am westlichen Blick schon fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Die Schwäche des Historikertags lag darin, dass das Handeln und die Blicke der Experten nicht in Relation zum Handeln und den Vorstellungen der Menschen gesetzt wurden, die „ungleich“ gemacht oder betrachtet wurden. Weder wurde die soziale Praxis der Herstellung von Ungleichheit analysiert, noch beschäftigte sich eine Sektion mit den Vorstellungswelten der „Ungleichen“. Völlig aus dem Blick gerieten Formen des Widerstandes gegen Ungleichheit. Gerade diese Abwesenheit erstaunt, formulierten doch fast alle Redner bei der Eröffnungsveranstaltung oder bei Kurzeinführungen in die Sektionen, dass Ungleichheit ein häufiger Anlass zum Protest war und ist. Auf dem Historikertag waren jedoch weder Gewerkschaften noch andere soziale Bewegungen ein Thema, ganz zu schweigen von Protestbewegungen in der Dritten Welt. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Analyse der Vorstellungswelten von Politikern, Managern und Wissenschaftlern ist ein wichtiger Bestandteil, um die Welt zu verstehen. Diese bilden aber nur einen Teil des Ganzen, denn in der Praxis gibt es immer dort, wo sich Macht manifestiert auch Widerstand. Erst durch die Analyse der Interaktionen und den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen lässt sich ein differenziertes Bild vom Zustand der jeweiligen Zeit zeichnen, denn die Praxen üben starken Einfluss auf die Vorstellungen über die Welt aus. So ist zum Beispiel Kriminalität im Sinne des „Labeling Approach“ zwar immer auch eine Zuschreibungspraxis, aber die Zuschreibungen sind ohne das tatsächliche Brechen von Gesetzen kaum verstehbar. Darum wird eine Untersuchung, die sich ausschließlich auf die Vorstellungen von Eliten beschränkt, immer nur einen Ausschnitt des Ganzen zeigen können. Werden weder Praxen noch Widerstand dargestellt, bleibt „Ungleichheit“ merkwürdig steril.

Eine weitere Folge dieser Blickverengung war, dass die blutigen und dreckigen Seiten von Ungleichheit höchstens am Rande erwähnt wurden. Selbst bei den Sektionen über den Nationalsozialismus standen vor allem strukturelle Ungleichheiten und Selbstmobilisierungen der deutschen Bevölkerung im Blickpunkt. Gewalt wurde erwähnt, aber nur selten im Detail analysiert. Auch bei allen anderen Themen blieben, etwas bildlich gesprochen, die Leichen im Keller. Nur ansatzweise wurde beispielsweise geschildert, welche dramatischen Folgen die nicht ausreichende Macht der Welternährungsorganisationen bis in die 1960er-Jahre hatte oder welche gewalttätigen Praxen mit den Modernisierungsstrategien westlicher Experten in der Dritten Welt verbunden waren. Eine Verbindung der Analyse von politischen Entscheidungen mit ihren Auswirkungen in der Praxis vor Ort ist leider, insbesondere bei der Untersuchung der Länder der Dritten Welt, immer noch eine Seltenheit. Es bleibt zu hoffen, dass für künftige Historikertage genauso spannende Überschriften wie dieses Jahr gefunden werden und es den Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern dann gelingt, das Thema noch multiperspektivischer anzugehen.

Anmerkungen:
1 Interview mit Christoph Cornelißen, in: Berliner Tagesspiegel vom 30.9.2008, <http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/;art304,2625669> (20.10.2008).
2 Isabel Heinemann: Zeitgeschichte (bis 1945), in: H-Soz-u-Kult, 20.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=832&type=diskussionenonen> (20.10.2008).