Kopf oder Zahl. Die Quantifizierung von allem im 19. Jahrhundert
Zahlen sind objektiv, rational, unabhängig von regionalem Dialekt oder Zeitstimmung, so scheint es. 2+2 ergibt 4, gleichgültig, ob dies heute ein chinesischer Erstklässler, ein Schweizer Kernphysiker oder im 19. Jahrhundert ein badischer Kolonialwarenbesitzer errechnet(e). Zahlen bringen Vernunft, Ordnung, Kalkulierbarkeit in die menschlichen Angelegenheiten, in die Wissenschaft, die Verwaltung, die Industrie, den Handel, das Bankwesen.
Sobald jedoch über die rationale Formalität der Zahl hinaus dasjenige in den Blick kommt, was gezählt wird, verschwindet alle Vernunft, und starke Gefühle treten auf: persönlicher Reichtum, das Handelsvolumen einer Volkswirtschaft, die Armeestärke, die Fläche eines Nationalstaates oder umkämpften Territoriums. Das Glücksspiel reizt mit Zufall und Unberechenbarkeit der Zahl. Aus mythischen und religiösen Quellen speist sich die irrationale Alltagsmacht der 3 („Alle guten Dinge …“), der 7 („Die glorreichen …“) oder der 13 („Freitag, der …“)
Im 19. Jahrhundert vollzieht sich die allgemeine Modernisierung nicht zuletzt als Quantifizierung aller Lebensbereiche. Regional verschiedene Maßeinheiten und Zeittaktungen werden genormt und vereinheitlicht, Bevölkerungsstatistik und Nationalökonomie entstehen, Handel und Geldverkehr werden standardisiert, nationalisiert und ansatzweise globalisiert, an den Börsen von St. Petersburg, Brüssel, New York, Warschau oder München wird im Medium der Zahlen auf die Zukunft gewettet. Die „bare Zahlung“ verbessert die freie Verfügbarkeit vieler neuer Waren, macht zugleich aber alle Waren immer austauschbarer. Nicht wenige Denker des 19. Jahrhunderts beklagen den Verlust aller Qualitäten zugunsten umfassender Quantifizierung.
Auf der Tagung widmen sich Kunst- und Technik-Historiker, Literaturwissenschaftler und Mentalitätsforscher dem bis heute folgenreichen Triumph der Zahl in allen Lebensbereichen des 19. Jahrhunderts. Die Quantifizierung vereinfachte und versachlichte, und zugleich abstrahierte und mystifizierte sie das tägliche Leben.