Mehrfachzugehörigkeit im Mittelalter

Mehrfachzugehörigkeit im Mittelalter

Veranstalter
Brackweder Arbeitskreis für Mittelalterforschung / Marcel Bubert (Universität Münster)
Ausrichter
Universität Münster
Veranstaltungsort
Münster
PLZ
48143
Ort
Münster
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
22.11.2024 - 23.11.2024
Deadline
30.06.2024
Von
Marcel Bubert, Universität Münster, Historisches Seminar

Die Tagung behandelt die spezifischen Formen und Bedingungen multipler Zugehörigkeiten im Mittelalter. Dabei wird etwa nach Praktiken der sozialen Profilierung sowie nach Unsicherheiten und Irritationen in Bezug auf die simultanen Zuordnungen von Akteur:innen zu mehreren sozialen Kategorien gefragt.

Mehrfachzugehörigkeit im Mittelalter

Die Einsicht, dass die Taxonomien der sozialen Welt Nutzungsangebote machen, die ganz unterschiedliche sowie zeitgleich multiple Selbstkategorisierungen von Akteur:innen erlauben, kommt in Bezug auf spätmoderne Gesellschaften, die als durch Intersektionalität und hybride Subjektformen geprägt beschrieben wurden, wenig überraschend daher. Wer dieser Tage jemand sein will, so hat man behauptet, muss sich mehrfach verorten. Nicht nur im Hinblick auf kulturelle Allgemeinbegriffe wie Geschlecht, Alter, Ethnizität oder Religion, sondern vor allem in Bezug auf die simultanen Mitgliedschaften in kleineren Sozialeinheiten, die als spezifische Kompilation einzelner Zuordnungen, etwa zu einer bestimmten Partei, einer besonderen Sekte, einer ausgefallenen Berufsgruppe, einem exklusiven Kegelklub oder anderen erlesenen Vereinigungen, ein individuelles Profil zu erstellen erlauben, das in dieser konkreten Form nur ein einziges Mal im Universum existiert, ist eine kreative Kombinatorik gefragt. Wer diese multiplen Zugehörigkeiten in Verbindung mit weiteren Persönlichkeitsmarkern, wie Fanschafen und Vorlieben (oder dezidierten Abneigungen und Ressentiments), gleichzeitig auf Facebook nachweisen und medial objektivieren kann, darf sich seiner Einzigartigkeit in der Weltgeschichte gewiss sein. Dabei scheinen die speziellen Praktiken der sozialen Profilierung, die durch die Digitalisierung entstanden sind, nicht nur neuartige Formen der Markierung von Zugehörigkeit, von Positionierung, Abgrenzung und Vernetzung, sondern auch ein intensiviertes Nachdenken über die damit einhergehenden Prozesse der Subjektbildung, Identitätskonstruktion und Selbstverortung stimuliert zu haben. Mehrfachzugehörigkeit ist, so könnte man mit Blick auf den gegenwärtigen Diskurs meinen, in einer historisch speziellen Weise reflexiv geworden.

Dass dieses Nachdenken im Kontext eines wahrgenommenen Wandels der sozialen Taxonomien stattfindet, in dem sich nicht nur Tendenzen zur Entkategorisierung (im Sinne einer Überwindung von Differenzen) auf der einen und identitäre Rückbesinnungen auf ersehnte stabile Zugehörigkeiten auf der anderen Seite mitunter unversöhnlich gegenüberstehen, sondern auch einst gültige Grenzziehungen, welche die nicht-menschliche Umwelt von Gesellschaften betreffen (etwa zwischen Mensch und Tier, Mensch und Maschine), in neuartiger Weise ins Wanken geraten, ließe die Vermutung plausibel erscheinen, dass reflexive Beobachtungen dieser Art, die sich auf die spezifischen Formen und Bedingungen multipler Zugehörigkeiten beziehen, ein Spezifikum der Spätmoderne darstellen, dessen Genese durch ganz neuartige politische und mediale Konstellationen begünstigt wurde. In früheren Gesellschaften, die weder durch ein ähnliches Streben nach ‚Singularität‘ noch durch identitätspolitische Debatten oder Grenzerosionen vergleichbaren Ausmaßes, sondern stärker durch eine soziale Praxis des ‚doing generality‘ gekennzeichnet waren, in deren Rahmen die Zuordnung von Akteur:innen zu kulturellen (Groß-)Kategorien weniger offen zur Disposition stand und nach deren Logik der Kombination unterschiedlicher ‚Mitgliedschaften‘, Persönlichkeitsmarker oder Habitusformen eine geringere Relevanz zur sozialen Profilierung zukam, wären in dieser Perspektive keine strukturell analogen Phänomene zu erwarten. Im Mittelalter, als die Welt noch in ordo war, wussten alle, wo sie hingehörten. Oder?

Ältere Mittelalterbilder, die in Fortschreibung der Renaissance-Erzählung Jakob Burckhardts auf der Imagination eines Zeitalters der Kollektive, der Stände und Korporationen, beruhten, würden die Annahme einer solchen holzschnittartigen Gegenüberstellung auf den ersten Blick stützen. Träumend oder halbwach, jedenfalls wenig singulär, lebte der mittelalterliche Mensch demnach als integraler Teil eines sozialen Kollektivs, als Bürgerin, Kaufmann, Ritter oder Bauer, als Benediktinerin, Zisterzienser oder Kartäuserin, als Wollschläger, Kürschner, Seidenspinnerin, Lederer oder Hutmacherin, als Spielmann, Apotheker oder Barbier. Grenzgänger und extravagante Spezialisten waren in dieser Welt rar. Ein Bedürfnis, aus diesen Bindungen auszubrechen und den „Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen“ (Burckhardt), durch eine wilde Transgression sozialer Kategorien zu überlisten, wäre den Wollschlägern aus dieser Sicht wenig zielführend erschienen. Also keine multiplen Mitgliedschaften, keine hybriden Subjekte oder intersektionalen Mischwesen im Mittelalter?

Diejenigen, die sich, als Angehörige der mediävistischen Zunft, mit der Epoche auskennen, wissen natürlich, dass das so nicht richtig ist. Es gibt, auf ganz verschiedenen Ebenen sogar, Mehrfachzugehörigkeiten im Mittelalter, die sowohl die kulturellen Großkonzepte, wie Religion, Ethnizität oder Geschlecht, als auch die sozialen Meso- und Mikroeinheiten, wie Stadtkommunen und Städtebünde, Dörfer und Gemeinden, Gilden, Zünfte und Bruderschaften, Orden, Ritterorden, Adelsgesellschaften, Vereine oder Universitäten (sowie darin wiederum Fakultäten), involvieren. Die soziale Rolle im Rahmen einer bestimmten ‚Profession‘ (etwa als Kaufmann oder Inquisitor) oder als Absolvent einer Fakultät (als Theologe oder Jurist) konnte sich in der Selbst- und Fremdbeobachtung von Akteur:innen mit andere Zugehörigkeiten, zu einer natio, einem Orden, einer Stadt oder einer rechtlichen oder religiösen Gruppe kreuzen. Die italienischen, flandrisch-niederländischen oder deutschen Kaufleute, die jeweils in Brügge, Rom oder Genua unterwegs waren, hat diese Frage ebenso beschäftigt wie einen aragonesischen Inquisitor, für dessen Selbstbeschreibung es relevant war, gleichzeitig studierter Theologe sowie Mitglied des Dominikanerordens zu sein, oder die Angehörigen verschiedener nationes und Sprachgemeinschaften, die sich in zisterziensischen Abteien in Irland tummelten, von denen manche wiederum in lokale (teils verfeindete) Familienverbände verstrickt waren.

Schon lange ist freilich in der Forschung das alte, im Zuge der Burckhardt-Rezeption prädisponierte Image des Mittelalters als Zeit der gemeinschaftlichen Bindungen, die für Individualität wenig Raum ließe, in Frage gestellt und revidiert worden. Soziale Akteur:innen des Mittelalters konzeptualisierten und praktizierten ihre jeweilige ‚Individualität‘, so hat man hervorgehoben, schlicht auf andere Weise und in anderen Formen als die Angehörigen moderner Gesellschaften. Doch hängt dies auch dezidiert mit Mehrfachzugehörigkeit zusammen? Eine Reihe von merkwürdigen Figuren, die beson-ders seit dem Hochmittelalter auf den Plan treten, scheinen darauf hinzudeuten. Als prominentes Beispiel für einen Akteur, der sich hartnäckig einer eindeutigen sozialen Zuordnung entzogen hat, gilt der vielseitige Philosoph, Liebhaber und ‚Querdenker‘ Peter Abaelard, über dessen Umtriebigkeit sich schon zeitgenössische Beobachter in dieser Hinsicht echauffierten: „Du bist weder ein Kleriker noch ein Laie noch ein Mönch. Ich bin nicht fähig zu entscheiden, welchen Namen ich dir geben soll“, schrieb Roscelin von Compiègne in einem Brief an Abaelard, womit er die Schwierigkeit artikulierte, eine Person zu klassifizieren, die sich nicht in die etablierten Muster der sozialen Wirklichkeit einfügte. Mit Blick auf die multiplen Rollen, die Abaelard in seinem Leben verkörperte, bezeichnete ihn Bernhard von Clairvaux als „Mensch, der sich selbst unähnlich ist“ (homo sibi dissimilis). Auch der moderne Biograph Abaelards, Michael Clanchy, hatte Mühe, die verschiedenen Gesichter seines Protagonisten unter einen Hut zu bekommen, und entschied sich daher, dessen Wirken nach sozialen Rollen zu differenzieren: als Lehrer, Logiker, Ritter, Liebhaber, Mönch, Theologe u.a. Umtriebige Akteur:innen, die sich, wie etwa auch die Philosophin, Schriftstellerin und Intellektuelle Christine de Pizan, auf vielfältige Weise betätigten und sich in ganz unterschiedliche Belange einmischten, ließen sich kaum mehr in Schubladen stecken, die leicht zu handhaben waren.

Wer, wie Abaelard aus der Sicht Bernhards, sich selbst ‚unähnlich‘ war, entsprach auch nicht der von Horaz in der Ars poetica formulierten Anweisung, neu erdachte Figuren als „mit sich selbst übereinstimmend zu fingieren“ (sibi convenientia finge). Die Literatur des Mittelalters erweist sich in verschiedenen Hinsichten als spezifisches Medium der Beobachtung und Thematisierung mehrfacher Zugehörigkeiten und der damit verbundenen Frage nach der Wiedererkennbarkeit von Figuren. Während Parzival durch seine Geburt dem Adel angehört, zunächst aber im Wald und quasi bäuerlich erzogen wird, bevor er um seine Zugehörigkeit zum Artushof ringt, und während Gyburg in Wolframs Willehalm als Araberin, konvertierte Christin und Ehefrau erscheint, begegnet Tristan bei Gottfried von Straßburg geradezu als Verwandlungskünstler, der fortwährend neue Zugehörigkeiten generiert: Tristan hat nicht nur zwei Väter, sondern tritt als Kaufmann, Jäger, Spielmann, Höfling oder Gesandter in Erscheinung. Die Suche nach der eigenen Zugehörigkeit, aber auch der Wechsel zwischen sozialen Rollen durch versierte Verstellungskünste, werden in der Literatur besonders seit dem Hochmittelalter immer wieder thematisiert, als sich die Frage nach der multiplen Verortung von Akteur:innen auch in anderen Bereichen auf neue Weise stellte. Erzählwelten und die dort entworfenen Unsicherheiten über Zugehörigkeiten, die narrative Konstruktion bestimmter Zugehörigkeitsensembles, aber auch Widersprüche gegen ästhetische Normen der Figurengestaltung können daher ein mögliches Feld für literaturwissenschaftliche Beiträge zur Tagung sein.

Doch welche konkrete Rolle spielte es für die soziale Praxis sowie für die Selbst- und Fremdbeobachtung von Akteur:innen im Mittelalter, mehreren kulturellen Kategorien anzugehören? War Mehrfachverortung eine Strategie sozialer Profilierung, die mitunter auch gezielt zum Einsatz kam? Inwiefern ergaben sich dabei Reibungen, Irritationen, Ambivalenzen, Unsicherheiten oder Konflikte in Bezug auf die soziale Verortung von Akteur:innen? Wurde die simultane Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen oder Kollektiven überhaupt als solche registriert, reflektiert, problematisiert, beansprucht und kritisiert oder vielmehr als fraglos gültige Gegebenheit hingenommen? War es für zeitgenössische Akteur:innen von Bedeutung, ein einheitliches Selbstkonzept, einen postulierten Kern des Selbst hinter multiplen Zuordnungen zu entwerfen oder wurde ein fluider Wechsel zwischen verschiedenen sozialen Rollen und Zugehörigkeiten als unproblematisch empfunden? Ging mit dem Wechsel zwischen Kategorien und Rollen mitunter auch eine Normenkonkurrenz einher, die als solche konfliktträchtig war? Findet in dieser Hinsicht eine zeitliche Entwicklung statt? Wie genau manifestiert sich die Struktur von Mehrfachzugehörigkeit in verschiedenen Regionen, Jahrhunderten und Kontexten des Mittelalters? Welches System von Kategorien, welche soziale Taxonomie, stand zeitgenössischen Akteur:innen überhaupt jeweils zur Verfügung, um sich zu verorten, zu profilieren oder positionieren? Wie veränderte sich diese im Laufe der mittelalterlichen Jahrhunderte in den jeweiligen Regionen und Kontexten? Lässt sich eine Art Epochensignatur der Mehrfachzugehörigkeit im Mittelalter identifizieren? Gibt es eine typisch mittelalterliche Struktur multipler Zugehörigkeit, welche die griechischsprachigen Einwanderer im frühmittelalterlichen Rom ebenso erfassen könnte wie den dominikanischen Inquisitor-Theologen aus Aragón im 14. Jahrhundert oder die "gentz Engleis Dirlande", die im Spätmittelalter als Nachfahren anglonormannischer ‚Kolonisten‘ in Irland lebten und sich dort kräftig als Förderer ihrer Muttersprache, des Gälischen, engagierten? Diese und weitere Fragen sollen auf der Tagung diskutiert werden, die am 22./23.11.2024 an der Universität Münter stattfinden wird.

Der interdisziplinären Ausrichtung des Brackweder Arbeitskreises entsprechend sind Beiträge aus allen mediävistischen Disziplinen, wie z.B. Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie, Theologie sowie weiteren relevanter Disziplinen erwünscht.

Vorschläge für einen Vortrag von ca. 25–30 Minuten senden Sie bitte bis zum 30.06.2024 mit einem kurzen Abstract (ca. eine halbe Seite) sowie einer Kurzvita (maximal eine Seite) nebst Kontaktdaten an Frau Katharina Michelson (k.michelson@uni-muenster.de). Fragen bitte an: bubertm@uni-muenster.de

Kontakt

Marcel Bubert (bubertm@uni-muenster.de)

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