Grenzgängerin. Die Reportage-/literatur als entgrenztes Medium der Öffentlichkeitsgestaltung

Grenzgängerin. Die Reportage-/literatur als entgrenztes Medium der Öffentlichkeitsgestaltung

Veranstalter
Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt) und Henning Podulski (SFB 1512 Intervenierende Künste; FU Berlin)
PLZ
44388
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
24.10.2024 - 24.10.2024
Deadline
24.05.2024
Von
Henning Podulski, SFB 1512, Freie Universität Berlin

Die Reportage und die Reportageliteratur sind Medien des Dazwischenstehens, des Dazwischentretens – des Intervenierens und der Intervention. Dabei richten sie den Blick auf das Verdeckte, von der breiten Öffentlichkeit un- oder weniger gesehene. Sie fungieren somit als Medien der Demokratisierung von Öffentlichkeit(en) zwischen Journalismus und Literatur, deren Normen sie in ihrer Genese stetig herausgefordert haben. Der interdisziplinär ausgerichtete eintägige Workshop (Dortmund, 24.10.24) heißt Beiträge willkommen, die sich der Reportage und Reportageliteratur aus diachroner oder synchroner Perspektive widmen und ihr Verhältnis zu Öffentlichkeit(en) perspektivieren. Deadline CFP: 24.05.24.

Grenzgängerin. Die Reportage-/literatur als entgrenztes Medium der Öffentlichkeitsgestaltung

Die Reportage und die Reportageliteratur sind Medien des Dazwischenstehens, des Dazwischentretens – des Intervenierens und der Intervention. Nicht nur stehen sie durch ihre journalistische Faktenbasiertheit und ihre literarischen Qualitäten zwischen zwei Modi der Wirklichkeitsbetrachtung und -verarbeitung, sondern sie agieren auch selbst an Grenzen, an denen sie als Medium der Entdeckung und Aufdeckung Grenzen der Öffentlichkeit verschieben, zuvor Verdecktes ins Licht der Öffentlichkeit und zur Diskussion stellen, sowie marginalisierten Personenkreisen Stimmen und Gesichter verleihen. Dabei richten sie den Blick auf das Verdeckte, von der breiten Öffentlichkeit un- oder weniger gesehene. Sie fungieren somit als Medien der Demokratisierung von Öffentlichkeit(en) zwischen Journalismus und Literatur, deren Normen sie in ihrer Genese stetig herausgefordert haben.

Bereits Ende der 1920er-Jahre beginnt im Kontext der Neuer Sachlichkeit und der Realismus-Debatte in der Weimarer Republik eine Diskussion um die Reportage und die Reportageliteratur (Michael Haller 2020). Linksintellektuelle wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Georg Lukács äußern Zweifel und Kritik an der Reportageliteratur und ihrer fehlenden „politisch-emanzipatorischen Wirksamkeit“, die wiederrum u. a. auf fehlende epistemologische Möglichkeiten und eine Vermischung von wissenschaftlichen und literarischen Erkenntnismethoden zurückzuführen sind (Stephanie Marx 2020). SchriftstellerInnen und JournalistInnen der 20er- und 30er-Jahre – wie die in der Weimarer Republik tätigen Egon Ewin Kirsch und Gabriele Tergit, die Österreicher Max Winter und Joseph Roth sowie die russisch-/sowjetische Schriftstellerin Larissa Reissner – stehen dabei in einer langen Tradition. VorgängerInnen der Reportage-AutorInnen sind dabei SchriftstellerInnen, die sich bereits im 19. Jahrhundert an der Grenze zwischen Literatur und Journalistik bewegen, wie Heinrich Heine und Ludwig Börne, aber auch AutorInnen, die Milieurecherchen und Sozialreportagen durchführten, wie William Thomas Stead, Friedrich Engels und Georg Weerth (Michael Haller 2020). Im englisch- und französischsprachigen Raum können hingegen Autoren wie Mark Twain, Charles Dickens, Ernest Hemingway und Émile Zola als Vorreiter bezeichnet werden (Hannes Haas / Gian-Luca Wallisch 1991). Akribische Recherche und Quellensuche sowie die Entwicklung von Verfahren zur „Überwindung von Recherchebarrieren“ zeichnet die Reportage und ihre ReporterInnen aus (Hannes Haas 1987). In den 1960er-/70er-Jahren kommt es dann sowohl in den USA als auch in Deutschland zu einer Anknüpfung an die Tradition der Reportage bzw. Reportageliteratur. Hierbei stellt sich betont die Grenzstellung zwischen Literatur und Journalistik heraus. Während in den USA der New Journalism rund um Tom Wolfe, Truman Capote und Norman Mailer ein neues Verständnis von Objektivität entwickelt und objektivierbare Recherchen mit subjektiven Eindrücken und narrativen Elemente verbindet – wobei journalistische Formen mit literarischen Erzählverfahren verknüpft werden und sich teile des Journalismus den literarischen Verfahren annähern –, kommt es in Deutschland zu einer umgekehrten Bewegung. Schriftsteller wie Günter Wallraff und Erika Runge prägen ab Mitte der 1960er-Jahren die Literatur der Arbeitswelt durch dokumentarische Verfahren und journalistische Recherche- und Montagemethoden und führen zu einer Annäherung von Teilbereichen der literarischen Öffentlichkeit an eine journalistische Praxis. Es entstehen ab den 1960er erneut Reportageromane bzw. Tatsachenromane, die sich ähnlich wie ihre Vorläufer in den 1920er/30er-Jahren vor allem dem Betriebsalltag der Arbeitenden widmen. Dabei ist es in der breiten Öffentlichkeit allen voran Günter Wallraff, der mit der Annahme von Rollen und dem verdeckten Eindringen in Betriebsöffentlichkeiten gesellschaftliche Missstände enthüllt, Öffentlichkeit schafft und ähnlich wie viele seine VorgängerInnen im mehrfachen Sinne als Grenzgänger bezeichnet werden kann.

Die zeitgenössische Reportage, erwachsen aus faktizierenden Augenzeugenberichten und schildernden Erlebnisberichten, vermittelt zwischen Ereignissen und Erlebnissen (Michael Haller 2020). Gerade aufgrund dieser Position des Dazwischens kann sie als textueller Möglichkeitsraum zwischen Literatur und Journalistik, Subjektivität und Objektivität, Faktizität und Narration fungieren, vermag es, „soziale Distanzen und institutionelle Barrien zu überwinden, um hinter die Fassade zu blicken“ und dies ästhetisch, stilistisch, rhetorisch und dramaturgisch zu organisieren (Michael Haller 2020). Damit zeigen Reportage und Reportageliteratur auf die blinden Stellen außerhalb der Öffentlichkeit, ziehen sie ins Blickfeld und ermöglichen eine Offenlegung bislang nicht in Betracht gezogener Erfahrungen. Sie fungieren damit als journalistisches wie literarisches Medium der Herstellung und Pluralisierung von (Gegen )Öffentlichkeit( en) in der demokratischen Gesellschaft.

Der interdisziplinär ausgerichtete eintägige Workshop heißt Beiträge aus der gesamten Breite der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften willkommen, die sich der Reportage und Reportageliteratur aus diachroner oder synchroner Perspektive widmen und ihr Verhältnis zu Öffentlichkeit(en) perspektivieren. Arbeitssprache ist Deutsch, englischsprachige Beiträge sind jedoch auch willkommen.

Ein Abstract von etwa 400 Wörtern und ein kurzes akademisches CV können bis zum 24. Mai 2024 an h.podulski@fu-berlin.de gesendet werden. Eine Rückmeldung erfolgt bis Mitte Juni. Die Kosten für Reise und Unterkunft werden für die Vortragenden übernommen.

Organisation: Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt) und Henning Podulski (Sonderforschungsbereich 1512 Intervenierende Künste; Freie Universität Berlin). Finanzierung: Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (Dortmund) und Sonderforschungsbereich 1512 Intervenierende Künste (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft). In Kooperation mit dem Bildungswerk Vielfalt e. V. Veranstaltungsort ist das LWL-Museum Zeche Zollern in Dortmund am 24.10.2024.

Kontakt

h.podulski@fu-berlin.de

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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Deutsch
Sprache der Ankündigung