Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende

Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende

Veranstalter
Prof. Dr. Iwan-Michelangelo d’Aprile (Universität Potsdam), Prof. Dr. Jürgen Overhoff (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), Prof. Dr. Julia A. Schmidt-Funke (Universität Leipzig), Prof. Dr. Joachim Scholz (Ruhruniversität Bochum) (Rochow Kulturensemble Reckahn)
Ausrichter
Rochow Kulturensemble Reckahn
Veranstaltungsort
Rochow Kulturensemble Reckahn
PLZ
14797
Ort
Kloster Lehnin, OT Reckahn
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2022 - 29.09.2022
Von
Joachim Scholz, Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Die interdisziplinäre Konferenz setzt die Reckahner Tagungen zur Erforschung der Aufklärung fort. Sie thematisiert unter dem Titel „Aufklärung und Anthropozän“ sowohl konkrete Projekte der Volksaufklärung als auch übergeordnete Fragen zur aufgeklärten Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur.

Aufklärung und Anthropozän. Neue Verhältnisbestimmungen von Mensch und Natur im Zeichen der anthropologischen Wende

Mit dem Begriff des Anthropozäns ist die Frage, ab wann anthropogene Prozesse den Planeten Erde so grundlegend veränderten, dass von einem eigenen Erdzeitalter gesprochen werden muss, untrennbar verbunden. Klar benannt und präzise datiert wird die „Great Acceleration“, mit der ein massives Ansteigen u.a. der Weltbevölkerung, des CO2-Ausstoßes und der Durchschnittstemperaturen um die Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben wird. Weniger exakt wird hingegen angegeben, wann diese Entwicklungen ihren Anfang nahmen. Als Ursprung wird „die“ Industrialisierung vielfach nur als Schlagwort genannt und in ihrer Ungleichzeitigkeit kaum problematisiert. Vermeintliche Eindeutigkeit suggerieren hingegen die einschlägigen Diagramme und Zahlenreihen, die vielfach das 18. Jahrhundert als Ausgangspunkt wählen, ungeachtet der Tatsache, dass für diese ‚vorstatistische‘ Zeit nur wenig valides Datenmaterial vorliegt.

Implizit oder explizit wird also das 18. Jahrhundert zur Vorgeschichte des Anthropozäns erklärt. Doch steckt dahinter mehr als die traditionelle Setzung des 18. Jahrhunderts als Beginn der Moderne? Inwiefern ist es gerechtfertigt, diese Ära als einen Take-off des Anthropozäns zu interpretieren? Betrachtet man allein die demographischen, industriellen oder agrarischen Entwicklungen, so sind selbst in den größten Teilen Europas nur moderate Veränderungen zu beobachten. Unter dem aufklärerischen Schlagwort der Verbesserung war gleichwohl ein tiefgreifender Wandel der Lebensverhältnisse gewollt. Darauf zielten zahlreiche gewerbliche, agrar- und forstwirtschaftliche, medizinische, landes- und wasserbauliche Projekte und Reformvorschläge ab, die der Forschung als Initiativen der ökonomisch-gemeinnützigen Aufklärung oder Volksaufklärung bekannt sind.

Nicht nur aus heutiger Sicht erscheinen diese ,aufgeklärten‘ Maßnahmen – etwa die systematische Dezimierung von Spatzen, die Ausrottung von Raubtieren, die Entwässerung der Auen oder der intensivierte Abbau von Torf – als schädlich für Biodiversität und Klima. Obwohl unter den Bedingungen knapper Ressourcen und prekärer Versorgung zumeist als gemeinnützig und fortschrittlich propagiert und legitimiert, wurden entsprechende Maßnahmen auch im 18. Jahrhundert von kritischen Stimmen begleitet: von den betroffenen Menschen, die ihre traditionellen Lebensweisen und Wirtschaftsformen nicht kurzerhand ‚verbessert‘ wissen wollten, ebenso wie von nachdenklichen Gelehrten, die wie Jean-Jacques Rousseau oder Benjamin Franklin den Fortschritt der Zeit philosophierend in Frage stellten, oder aber bereits aus eigener Anschauung erschüttert auf die Zerstörung von Landschaften und Lebensräumen blickten.

Wie dies vor dem Hintergrund der Anthropozän-Debatte in die größere Geschichte der Mensch-Natur-Beziehungen einzuordnen ist, bleibt zu klären. Sicherlich zu differenzieren ist Philippe Descolas Position, der zufolge sich die Kultur-Natur-Dichotomie im 17. Jahrhundert (oder, wie er schreibt, einige Jahrzehnte nach Montaignes Tod) durchsetzte. Stattdessen ist eher von einem anhaltenden Ringen um eine Verhältnisbestimmung von Kultur und Natur auszugehen, das im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert ebenso wenig entschieden wurde wie davor und danach. Jüngere Studien zur protestantischen Natur- bzw. Physikotheologie zeigen denn auch die langanhaltende Verbindlichkeit schöpfungstheologischer Vorstellungen (auch und gerade bei Protagonisten wie Linné), und diese Vorstellungen verschwanden im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht einfach, sondern wirkten adaptiert und überformt bis weit ins 19. Jahrhundert fort. Vor diesem Hintergrund ist auch noch einmal ein neuer Blick auf die Traditionalität respektive Modernität der von Heinrich Detering ‚entdeckten‘ Ökologie bei Brockes, Haller, Goethe und Humboldt zu werfen. Ebenso gilt es, die als Signum der Aufklärung verstandene ‚anthropologische Wende‘ einer Neubewertung zu unterziehen.

Unter dem Titel „Aufklärung und Anthropozän“ setzt die interdisziplinäre Konferenz die Reckahner Tagungen zur Erforschung der Aufklärung fort und öffnet sie für ein breites Spektrum an möglichen Fragestellungen. Thematisiert werden sowohl die konkreten Projekte der sogenannten Volksaufklärung als auch übergeordnete Fragen zur aufgeklärten Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur.

Programm

Mittwoch, 28. September 2022

12.30–13.00 – Begrüßung und Einführung

13.00–13.45 – Prof. Dr. Julia A. Schmidt-Funke (Universität Leipzig): Aufklärung und Anthropozän – ein Problemaufriss

Pause

Sektion I: Aufklärerische Reflexionen über den menschlichen Eingriff in die Natur und sein Handeln als „Prometheus der neuern Zeiten“ (I. Kant).

14.15–15.00 – Prof. Dr. Jürgen Overhoff (Universität Münster): Jean-Jacques Rousseaus Kritik am Wirken des Menschen, der „das Klima verwirrt“. Über die Anfänge des Anthropozäns im 18. Jahrhundert

15.00–15.45 – Dr. Nastasja Dresler (LMU München): Der entfesselte Prometheus – Zur Gründungsfigur des Anthropozäns in Kunst und Literatur um 1800

Kaffee

Sektion II: Neuentdeckung und vertieftes Verständnis der Natur

16.30–17.15 – Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile (Universität Potsdam): Aufgeklärter Naturalismus. Spielarten des Naturverständnisses im 18. Jahrhundert

17.15–18.00 – Prof. Dr. Sebastian Engelmann (PH Karlsruhe): „...Zöglinge sollen keine Tiere sammeln“ – Bernhard Heinrich Blasches Naturbildung

Abendessen

19.00 – Keynote lecture: Prof. Dr. Jason Kelly (University of Indiana-Purdue University): The Anthropocenic Consciousness and the Long Eighteenth Century

Donnerstag, 29. September 2022

Sektion III: Physikotheologie – Die Schöpfung als „Weltgebäude“

9.00–9.45 – Prof. Dr. Hanno Schmitt (Universität Potsdam): Johann August Ephraim Goeze als Physikotheologe und Naturforscher

9.45–10.30 – Hendrik Holzmüller (Universität Münster): Physikotheologie in den Niederlanden – Jan Swammerdams „Bibel der Natur“ (1752)

Pause

Sektion IV: Volksaufklärung und Anthropozän

11.00–11.45 – Prof. Dr. Holger Böning (Universität Bremen): Die Entdeckung der Natur in der Volksaufklärung

11.45–12.30 – Prof. Dr. Stefan Brakensiek (Universität Duisburg-Essen):
Der Agrarreformer Peter Friedrich Hoffbauer (1750–1823) im preußischen Westfalen

Mittagessen

Sektion V: Agrarreformerische und landesbauliche Maßnahmen – Regionale Fallbeispiele

13.30–14.15 – PD Dr. Rainer Beck (Unterfinning/Konstanz): Anthropozän vor dem Anthropozän? Die Abschaffung der Wildnis – ein bayerisches Beispiel

14.15–15.30 – Prof. Dr. Joachim Scholz (RUB Bochum):
Segen oder Fluch? Der menschliche Eingriff ins Havelländische Luch seit dem 18. Jahrhundert

16.00 – Ende der Tagung

Kontakt

Dr. Silke Siebrecht-Grabig (tagung@reckahn.info)

Anmeldemodalitäten:
Da eine Tagungsgebühr nicht erhoben wird, ist eine förmliche Anmeldung nicht erforderlich. Tagungsteilnehmer:innen können sich jedoch auf einer Liste vermerken lassen, um sich dann bei der Ankunft am Tagungsort registrieren zu lassen. Wenden Sie sich dafür bitte unter Angabe Ihrer institutionellen Anbindung an Dr. Silke Siebrecht-Grabig (tagung@reckahn.info). Das Kontingent an Zimmern am Tagungsort ist begrenzt. Falls eine Übernachtung gewünscht ist, müssten Tagungsteilnehmer:innen nach Absprache mit der Tagungsorganisation also notfalls auch in Hotels oder Pensionen in Kloster Lehnin oder Potsdam ausweichen.