Die berühmte Rede Wilhelm Liebknechts am 05.02.1872 vor dem Dresdner Arbeiterbildungsverein „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ kann als symbolischer Beginn einer stärkeren expliziten Auseinandersetzung der Arbeiterbewegung mit Bildungsfragen betrachtet werden. Bereits in dieser Rede wird die grundlegende Frage danach gestellt, ob „erst durch Freiheit“, d.h. durch ein „Hinwegschreiten über Staat und Gesellschaft“ „das Volk Bildung erlangen kann“, oder aber, ob Bildung selbst der Weg dazu ist, gesellschaftliche Macht zu erlangen. Diese Grundkontroverse begleitet seitdem die Diskussionen um proletarische Pädagogik. Unabhängig davon, wie sie jeweils beantwortet wird, beschreibt diese Frage doch auch die zentrale Grundausrichtung einer jeden proletarischen Pädagogik, nämlich das Wissen darum, dass Bildungsprozesse nicht losgelöst von den jeweiligen materiellen Bedingungen einer Gesellschaft zu betrachten sind.
Wohl kaum ein anderer pädagogischer Ansatz wurde so kontrovers von quasi-religiöser Heilserwartung bis hin zur Verdammung diskutiert. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es sich bei der proletarischen Pädagogik nicht nur um eine pädagogische Frage handelt, sondern diese immer auch die aktuell bestehende Gesellschaft mit in den Blick nimmt und i.d.R. zum Gegenstand der Veränderung macht. Angesichts des Scheiterns verschiedener Versuche der Umsetzung einer proletarischen Pädagogik stellt sich die Frage, inwiefern die dort formulierten pädagogischen Konzepte dem Anspruch genügen, Bildungsprozesse grundlegend anders zu gestalten. Diese Frage soll durch eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ansätzen proletarischer Pädagogik diskutiert werden. Als produktiv könnte sich hier erweisen, diese Umsetzungsversuche kritisch daraufhin zu analysieren, ob deren praktisches Scheitern bereits im marxistischen Denken selbst angelegt war und inwieweit kreatives Potential – gerade auch im jeweiligen historischen Kontext – herausgearbeitet werden kann.
Wir arbeiten bewusst mit dem (alten) Begriff der „proletarischen Pädagogik“, der Ende des 19. Jahrhunderts zumeist die Debatte bestimmte. Wir wollen mit diesem Begriff eine parteipolitische Positionierung vermeiden, wie sie mit später genutzten Begriffen wie „sozialistische Pädagogik“ oder „kommunistische Pädagogik“ oft gegeben ist. Es soll von daher auf der Tagung darum gehen, die Idee der proletarischen Pädagogik von ihrer Entstehung bis zu ihrem vorläufigen Ende in Deutschland mit Machtergreifung der Nationalsozialisten nachzuzeichnen. Gesucht werden Beiträge, die sich mit den bildungsphilosophischen, sozialgeschichtlichen oder ideengeschichtlichen Ansätzen einer proletarischen Pädagogik beschäftigen. Zwar haben wir den symbolischen Beginn der proletarischen Pädagogik mit 1872 gesetzt, doch werden genauso Beiträge gesucht, die theoretische Vorläufer beschreiben. Willkommen sind Beiträge, die sich mit der Situation in Deutschland beschäftigen, genauso wie internationale Beiträge.
Tagungstermin: 12. bis 13.05.2023, Justus-Liebig-Universität Gießen
Wir bitten um Abstracts mit einem Umfang von max. 3.000 Zeichen bis 30.09.2022 an folgende Adressen:
Ingrid Miethe
E-Mail: Ingrid.Miethe@erziehung.uni-giessen.de
Tobias Haberkamp
E-Mail: Tobias.Haberkorn@geschichte.uni-giessen.de
Christina Engelmann
E-Mail: Christina.Engelmann@erziehung.uni-giessen.de