Von
Christoph London / Pia Bußmann, Historisches Institut, Lehrstuhl für Alte Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte als Wissenskultur, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Besprochene Sektionen:

Die Griechen und die Macht der Zahlen: Zahlen und Zahlenangaben in der griechischen Antike und ihre Interpretation in der Forschung

Fragile Inszenierungen von „imperium“ im Rom der mittleren Republik

Zwischen Faktizität und Konstruktion. Fragile Fakten als historisches und historiographisches Problem in der Alten Geschichte

Agentenbasierte Modellierung und die Vermögensverteilung im Imperium Romanum

Fragile Fakten in den digitalen Geschichtswissenschaften. Fakes und Fehler oder Risiko und Chance?

„Fragile Fakten“ – das Rahmenthema des 54. Deutschen Historikertags – ist aus althistorischer Perspektive betrachtet ein „alter Hut“. Schließlich sind Wissensstand und Quellenbestand zu vielen Epochen, Ereignissen und Persönlichkeiten der griechisch-römischen Geschichte mit „lückenhaft“ oder „fragmentarisch“ noch recht schmeichelhaft umschrieben. Neben den quantitativen Besonderheiten der Überlieferungssituation rückt auch ein qualitatives Problem in den Blick: Nicht selten handelt es sich bei den überlieferten Texten der antiken Autoren um topoigepflasterte Aushandlungen und Konstruktionen, die zunächst als solche erkannt und dechiffriert werden müssen. So stellte Uwe Walter in seinem Bericht zum Kongress treffend fest, dass „fragile Fakten […] in der Alten Geschichte der Normalfall“ seien.1 Dementsprechend stellten die Fachsektionen der Alten Geschichte einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis, wie verfestigte und gewachsene historische Narrative mithilfe der Quellenkritik auf ihre Plausibilität zu überprüfen sind und legten dabei so manche notwendige Neuperspektivierung offen. Zugleich demonstrierten die einzelnen Panels auch die Offenheit des Fachgebiets für aktuelle Fragen und Methoden.

Von den insgesamt sieben Fachsektionen beschäftigte sich eine schwerpunktmäßig mit der griechischen Geschichte, eine mit der Römischen Republik und eine mit der römischen Kaiserzeit. Eine weitere spannte den Bogen über beide antike Großepochen. Drei weitere Veranstaltungen widmeten sich methodischen Fragen der Geschichtswissenschaft: Agentenbasierte Modellierung von Vermögensverhältnissen, Chancen und Risiken der Digital History sowie Game-based Learning.2 Bis auf die beiden zuletzt genannte Sektionen, die allgemeine Herausforderungen aufgriffen und Verschränkungspotentiale zwischen der Alten Geschichte und der Geschichtsdidaktik aufzeigten, waren epochenübergreifende Ansätze leider ebenso wenig im Programm wie die Spätantike. Der vorliegende Querschnittsbericht widmet sich zunächst drei ausgewählten Fachsektionen in chronologischer Perspektive, bevor abschließend die Ergebnisse und Diskussionen zweier methodischer Veranstaltungen nachgezeichnet werden.

Die Sektion „Die Griechen und die Macht der Zahlen“ von CHRISTOPH MICHELS (Münster) und KLAUS FREITAG (Aachen) war die einzige Sektion, die sich mit der Fragilität von Fakten im antiken Griechenland beschäftigte. Gegenstand der Sektion war die Generierung von Zahlen in antiken Quellen und ihre Diskursivierung in der Forschung. Dabei wurden bisher angewandte quantitative Methoden der modernen Forschung und die Grundlagen des für historische Interpretationen (re)konstruierten Zahlenmaterials reflektiert.

Zu Beginn widmete sich ROBIN OSBORNE (Cambridge) der Verwendung von Zahlen in Inschriften im antiken Athen. Dabei untersuchte er, was in Inschriften gezählt wurde und verglich dabei die athenische Praxis mit anderen Poleis. Osborne zeigte anhand der Aufzählung von Magistraten in frühen griechischen Inschriften, dass zunächst nur Zahlen festgehalten wurden, wenn ihnen eine hohe symbolische Bedeutung beigemessen wurde und sie zugleich statisch waren. Temporär gültige Informationen seien es demgegenüber nicht wert gewesen, festgehalten zu werden. Mit der Einführung des Münzgeldes wurden Wertbeträge der häufigste Zählgegenstand in Inschriften. Ziel war es, so Osborne, die Götter an die eigene Frömmigkeit im Sinne ihrer monetären Abgaben zu erinnern, bevor mit der Klassik auch weltliche Themen Einzug hielten. Anhand mehrerer Beispiele zeigte Osborne, dass sich ab dieser Zeit in den athenischen Inschriften scheinbar zweckungebundene Auflistungen von Geldbeträgen finden – ganz im Gegensatz zu den ursprünglich als „wertvoll“ geltenden Informationen. Er schlussfolgerte, dass die Inschriften in Athen nunmehr nicht den Zweck einer dauerhaften Bedeutung erfüllen sollten und stattdessen Aspekte wie Machtdemonstration, Prahlerei oder Werbung im Mittelpunkt standen.

ROBERTA FABIANI (Rom) untersuchte, inwiefern Zahlen Macht auf epigraphische Texte ausüben, also ob sie den jeweiligen Text strukturieren und mit bestimmten Intentionen verbunden werden können. Zu diesem Zweck betrachtete Fabiani Ordnungs- und Kardinalszahlen. Demnach schafften Ordnungszahlen keine eigene Struktur, sondern zeigten lediglich einzelne Elemente einer bereits bestehenden Struktur auf. Mit Blick auf die Kardinalszahlen zeigte sie hingegen, dass sie durch ihre Position im Text ein strukturbildendes Element sein konnten. Dabei würden Zahlen entweder in chronologischer oder numerischer Reihenfolge gelistet. Zugleich konstatierte Fabiani anhand der genannten Beispiele, dass nur in wenigen Fällen Texte auf Basis von Zahlenangaben strukturiert wurden, dies also keineswegs ein systematisches oder offensichtliches Vorgehen war. Dies zeige, dass der hierfür erforderliche Aufwand häufig als zu hoch und nicht lohnend betrachtet wurde. Sofern Listen vorgelegen hätten, habe man sich häufig für die chronologische Reihenfolge der Zahlen entschieden, da dies die einfachere und kostengünstigere Variante gewesen sei.

CHRISTOPH MICHELS (Münster) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf den Umgang mit Zahlen bei attischen Rednern im 4. Jahrhundert und inwiefern die Nutzung dieser Zahlen die Grundlagen der politischen Willensbildung der Volksversammlung im Athen des 4. Jahrhunderts widerspiegelt. Dies untersuchte er vor allem anhand mehrerer Reden des Demosthenes – besonders hervorzuheben ist hier die Erste Philippika – und die Rede des Aischines gegen Ktesiphon. Anhand dieser Quellen demonstrierte Michels, dass ein fundamentales Vertrauen in Fakten als Grundlage der Entscheidungsfindung in der Versammlungsdemokratie in Athen im 4. Jahrhundert existierte und dass der Redner mit der Nutzung von Zahlen dem genuin demokratischen Anspruch nach Transparenz entsprach. Zuletzt widmete sich Michels der Siziliendebatte bei Thukydides, in der ein unbekannter Versammlungsteilnehmer Kritik an den fehlenden Zahlenangaben des Nikias übt. Anhand dieses Beispiels zeigte Michels eindrücklich, dass die Verwendung von Zahlen keinesfalls als reines rhetorisches Mittel und vor allem nicht als exklusive Ressource des Rhetors zur Steuerung der Massen verstanden werden darf.

ATHENA KIRK (Cornell) untersuchte anschließend die Bedeutung der Zahlen und des Zählens in der griechischen Dichtung anhand der Ilias des Homer sowie der nephélai des Aristophanes und dem Artemis-Hymnos des Kallimachos. Kirk zeigte zunächst anhand der Figur des Agamemnon auf, dass sich bereits in der Ilias eine komplexe Zählweise findet. Durch diese wolle Homer Agamemnons Autorität in der Gruppe bekräftigen und verlorengegangenes Vertrauen in ihn wiederherstellen. Aristophanes übe in seiner komödiantischen Dichtung Nephélai Kritik an den Athenern, die poetisches oder philosophisches Zählen mit praktischer Finanzarithmetik verwechselten. In Anlehnung an Geoffrey Lloyds These, dass Zählen und Messen in einigen Kontexten überbewertet würden und dass im klassischen Griechenland durchaus Zweifel an der Präzision von Zahlen vorgeherrscht habe, argumentierte Kirk, dass sich diese Kritik in der Dichtung des Aristophanes widerspiegelt. 3 Der Artemis-Hymnos des Kallimachos beinhalte hingegen eine Darstellung der Geschichte der Göttin in präzisen Zahlen. Ebenso wie Homer für Agamemnon wolle Kallimachos Artemis durch die Nutzung konkreter Zahlen Legitimation verleihen. Kirk sieht aber einen Unterschied zwischen dem Umgang mit Zahlen in der Ilias und dem Artemis-Hymnos. So gebe Homer überdimensionierte Zahlen an, während sich Kallimachos in einem kleinen Rahmen auf präzise Zahlen beschränke.

KLAUS FREITAG (Aachen) beschäftigte sich mit der Zahl von Flottenkontingenten im Geschichtswerk des Thukydides. Dazu analysierte er die von Thukydides angewandten Gestaltungsprinzipien, indem er nach der Herkunft der Informationen und der Verwendung von Zahlensystemen fragte. Einleitend hinterfragte Freitag bisherige Forschungsmeinungen, denen zufolge Thukydides' Schiffszahlen falsch und inkonsistent seien, weshalb Zweifel an dessen sorgfältiger Arbeitsweise und an der Überlieferungssituation entstanden. Anhand mehrerer beispielhafter Auszüge aus dem Geschichtswerk konnte Freitag aufzeigen, dass Thukydides keinesfalls eine pseudoexakte Arbeitsweise vorgeworfen werden kann und dass er versuchte, Schiffszahlen genau zu ermitteln und sich der Unmöglichkeit exakter Zahlenangaben bewusst war. So nenne Thukydides zwar runde Zahlen, die aber auf einen realistischen Planungsstand zurückgeführt werden könnten. Zudem fänden sich ebenso unrunde Zahlen sowie Änderungs- und Vergleichswerte, woran erkennbar sei, dass Thukydides sich möglicher Ungenauigkeiten in den Zahlen bewusst war. Freitag resümierte, dass Thukydides ein nüchterner Beobachter gewesen sei, der seine historischen Überlegungen an Empirie maß und in seiner Akribie ein Distinktionsmerkmal zu anderen Historikern gesehen habe.

Mit der „Fragilität von Inszenierungen“ beschäftigte sich eine von MORITZ HINSCH (München) und SIMON LENTZSCH (Fribourg) organisierte Sektion. Dabei führten sie in das Panorama der mittleren Römischen Republik ein, die nach dem siegreichen Pyrrhoskrieg eine bisher nicht gekannte territoriale Ausdehnung und Vernetzung erreicht hatte, in der sowohl die Veteranen der Expansionskriege als auch unmittelbare politische Konkurrenten den Imperiumsträgern auf die Finger schauten. Dies wurde, so die Grundthese der Organisatoren, durch neue mediale Ausdrucksformen ermöglicht und befördert, die sich nicht zuletzt durch den kulturellen Austausch mit dem eroberten Griechischen Osten entwickelten. Allen Ausdrucksformen war dabei gemein, dass sie als Medien der Selbstdarstellung, gleichzeitig aber auch zur Dekonstruktion und Delegitimierung einer solchen benutzt werden konnten – ein Sachverhalt, der nicht selten zum Grundstein zahlreicher Konflikte werden sollte.

So behandelte MORITZ HINSCH (München) am Beispiel von Plautus' Komödie Miles gloriosus die aufkommende literarische Kritik an den militärischen und politischen Entscheidungsträgern der res publica. In Anlehnung an Erich Gruens These, der Plautus als aufmerksamen politischen Beobachter seiner Zeit aufgefasst hatte, verdeutlichte Hinsch den integralen politischen Charakter der römischen Komödiendichtung und ihre feste Verankerung als Medium der Populärkultur.4 Die Adaption griechischer Inhalte und ihre Anpassung an die römische Gedankenwelt und den Geschmack der Zeit habe Plautus eine durch eine vorgebliche kulturelle und geographische Distanz kaschierte Kommentierung zeitgenössischer Entwicklungen und Ereignisse ermöglicht. Diese sei durch eine „Hyperhellenisierung“, so Hinsch, bewusst karnevalesk verzerrt worden. Somit habe die Komödie Feldherren wie Soldaten den Spiegel vorgehalten und sie an die Rolle der Bürgergemeinschaft als Richterin über politische Karrieren erinnert.

SEMA KARATAŞ (Köln) wandte sich anschließend mit dem Handeln des römischen Feldherrn und fünfmaligen Konsuls Marcus Claudius Marcellus in Syrakus während des 2. Punischen Krieges einer in vielerlei Hinsicht fragilen Aushandlung imperialer Repräsentation zu. Nachdem Marcellus die langwierige Belagerung und schlussendliche Eroberung von Syrakus (212 v. Chr.) befehligt hatte, war es unter seinem Kommando zu Strafaktionen und umfassenden Plünderungen gekommen. Eine syrakusanische Gesandtschaft wandte sich schließlich an den Senat und führte dort eine Beschwerde über die harte Behandlung nach der Eroberung. Auch die mit Marcellus um Rang und Status konkurrierenden politischen Gegner entdeckten die Potentiale einer Thematisierung der Vorwürfe in der stadtrömischen Öffentlichkeit. Marcellus' letztlich erfolgreiche Verteidigung seines Prestiges unter Verweis auf das Kriegsrecht deutete Karataş als andauernden und lange Zeit offenen medialen Aushandlungsprozess. Die Ereignisse zeigten zudem die Beeinflussbarkeit und Fragilität politischer Stimmungen auf, sodass zuvor als üblich angesehene militärische Handlungen in einem vernetzten Reich jederzeit skandalisiert werden konnten.

Dass die Expansionsbestrebungen der Republik mitnichten nur Skandale und Konflikte nach sich zogen, konnte im Anschluss DOMINIK MASCHEK (Trier) mit einem Blick auf die baulichen Hinterlassenschaften der Periode zeigen. Auf Basis einer Auswertung monumentaler stadtrömischer Bauten gelang Maschek der Nachweis, dass die hergebrachte Deutungsweise der römischen Expansion als Elitenprojekt überholungsbedürftig sei. Stattdessen sei die römische Expansion als „kollektives Phänomen“ zu interpretieren. So zeige die materielle Kultur der mittleren Republik eine weitreichende Einbindung breiter Bevölkerungsschichten und eine ideologische Nutzbarmachung der Expansionsbestrebungen in der Kommunikation mit diesen. Als Beispiel verwies Maschek auf die Tradition der Weihung von Tempeln und Errichtung von Funktionsbauten aus Kriegsbeute. Erbeutete Güter blieben somit nicht nur der senatorischen Oberschicht vorbehalten, sondern wurden im kontinuierlichen Maße weiterverteilt. Diese Projekte trugen demnach zu einer Staats- und Identitätsbildung bei und lassen sich laut Maschek sowohl als top down- als auch als bottom up-Prozesse begreifen.

SIMON LENTZSCH (Fribourg) spürte hingegen der literarischen Konstruktion mittelrepublikanischer Geschichte in der Historiographie des 1. Jahrhunderts n. Chr. nach, wobei vor allem die unter Tiberius wirkenden Autoren Velleius Paterculus und Valerius Maximus in den Blick gerieten. Aus der Rückschau aus der Zeit des frühen Prinzipats, in der sich die einst eroberten Gebiete längst zu etablierten Provinzen entwickelt und die Bürgergemeinschaft nicht mehr zugleich als Bürgerheer fungierte, ergeben sich Lensch zufolge zahlreiche Möglichkeiten des Vergleichs und der Bewertung. Dabei ließen sich teils deutliche Unterschiede in der Herangehensweise der beiden kaiserzeitlichen Autoren feststellen. Bei Velleius erscheine die Kritik an einer übermäßigen Hellenisierung und dem luxuriösen und verschwenderischen Umgang mit Beutekunst leitend. Dabei wirke die mittlere Republik als Auftakt für die erbitterten Auseinandersetzungen und Bürgerkriege der späten Republik, die erst durch Augustus und Tiberius beendet und in einen wünschenswerten Zustand transformiert worden seien. Valerius Maximus lobe hingegen individuelle Tugendhaftigkeit und tadele ebenso individuelles Fehlverhalten, das folglich keineswegs als Kritik an einem Niedergang der kollektiven Moral verstanden werden könne. In einem resümierenden Kommentar hob ANGELA GANTER (Regensburg) die sich verändernden Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie einerseits sowie den nobiles und dem populus andererseits hervor, die durch die Expansion und ihre Folgen befördert worden und in fragile Aushandlungsprozesse getreten seien. Die Ergebnisse der Sektion böten dabei erste und wichtige Impulse für eine Neujustierung dieser Verhältnisse.

Die von ELISABETTA LUPI (Rostock), ALEXANDER MEEUS (Heidelberg) und ANABELLE THURN (Freiburg) organisierte Fachsektion beschäftigte sich mit dem Konzept des „Faktums“ als solchem. Das leitende Interesse war es folglich, den Mechanismen und Prozessen, in denen sich einzelne historische Narrative gegenüber anderen durchsetzen und so zu Fakten werden, auf den Grund zu gehen.5 Diesem Unterfangen folgten sie auf Basis ausgewählter Fallbeispiele aus der griechisch-römischen Ethnographie, Historiographie und Rhetorik.

ALEXANDER MEEUS (Heidelberg) lenkte dabei zu Beginn den Blick auf die äußerst beständige Tradition vorgeblicher ethnographischer Fakten, die entgegen empirischer Plausibilität fest im antiken Denken verankert gewesen seien. Diesen Prozess exemplifizierte er anhand der Homerischen Lotophagenbeschreibung, die Strabon in seiner Geographika übernahm, sowie des Judenexkurses in den Historiae des Tacitus. Den Umstand, dass diese von einem gebildeten Publikum leicht als unzutreffend zu enttarnenden Narrationen über einen langen Zeitraum unwidersprochen blieben, erklärte Meeus mit dem in der antiken Kultur tief verwurzelten Traditionalismus und Konsensualismus, der letztlich über das empirisch Plausible triumphiert habe.

ELENA FRANCHI (Trento) nahm hingegen die klassische athenische Geschichtsschreibung in den Blick und verband diese mit dem von Hans-Joachim Gehrke geprägten Konzept der „intentionalen Geschichte“.6 Das Beispiel der phokischen Geschichte zeige, dass einige der für die Phoker entscheidenden Ereignisse – die erfolglose Verteidigung der Thermopylen und die anschließende Zerstörung der Polis durch die Perser sowie der Zweite und Dritte Heilige Krieg – nur in athenischen Quellen überliefert sind. Die darin zum Ausdruck kommenden Berichte und Wertungen klassifiziert Franchi jedoch als Übernahme genuin phokischer Quellen. Das Auftreten phokischer Standpunkte in der athenischen Literatur zeuge dementsprechend von einem kontinuierlichen Dialog zwischen athenischen und phokischen Geschichtskonstruktionen, der letztlich einer (Selbst)Vergewisserung der gegenseitigen Bündnistreue gedient habe und eine ko-konstruierte intentionale athenisch-phokische Geschichte bedingt habe.

Anschließend wählte JONAS SCHERR (Stuttgart) ein vertiefendes kaiserzeitliches Beispiel, das einmal mehr Aushandlungsprozesse zwischen dem römisch-italischen Reichszentrum und der provinzialen Peripherie ins Bewusstsein rückte. Anhand der Person des mauretanischen Klientelkönigs Juba II., der seine Jugend als Sohn des besiegten numidischen Herrschers Juba I. in Italien verbracht hatte und dort mit römischer Gelehrsamkeit in Berührung gekommen war, führte Scherr vor, wie die Konstruktion eines gelehrten Expertentums gezielt eingesetzt werden konnte, um die prekäre politische Legitimation des Klientelkönigs zu steigern. Von der Beständigkeit des von Juba evozierten Selbstbildes als unermüdlich literarisch tätigem Herrscher zeuge sein bis in die Spätantike hinein reichender Nachruhm als rex litteratissimus.7 Darüber hinaus habe die gewählte Selbstrepräsentation auch der Etablierung Mauretaniens als Teil des griechisch-römischen Kulturkreises gedient.

Auch ELISABETTA LUPI (Rostock) widmete sich mit ihrem Blick auf die spätrepublikanische und frühkaiserzeitliche Rhetorik einer römischen Thematik. Im Vordergrund standen dabei der Umgang mit historischen exempla und ihre Funktionalität in unterschiedlichen rhetorischen Gattungen – von der Gerichtsrede über die Senatsrede bis hin zur informellen contio-Rede vor dem Volk. Dabei zeige sich, dass – anders als in den zuvor während der Sektion behandelten Kontexten – nicht immer älteren, traditionsreichen exempla (exempla vetera) der Vorzug vor neueren (exempla recentia/nova) gegeben worden sei. Entgegen den weit verbreiteten Wertungen von der traditionsversessenen und nur wenig alltagstauglichen Rhetorik habe die spätrepublikanische Redekunst eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Innovationen aufgewiesen. Insbesondere die Verwendung älterer exempla sei dadurch eingeschränkt worden, dass sie von der Gegenseite leicht mit Hinweisen auf ihre mangelnde Faktizität delegitimiert werden konnten. Lupi begründete diese grundsätzliche Verhandelbarkeit rhetorischer Konstruktionen auch mit ihren politisch-kulturellen Implikationen, sodass Konzepte wie der mos maiorum nicht mehr in Stein gemeißelt waren, sondern inhaltlich aktualisiert werden konnten.

Die Langlebigkeit festgefügter Narrative bis in die moderne Rezeption hinein war das Thema des Beitrags von ANNABELLE THURN (Freiburg) über das Motiv der (spät)römischen Dekadenz. Im modernen kollektiven Gedächtnis ist dieses Narrativ vor allem durch einen vielfach kritisierten Debattenbeitrag des damaligen FDP-Vorsitzenden und Vizekanzlers Guido Westerwelle verankert, der Hartz-IV-Empfängern einst mit Verweis auf vermeintlich antike Parallelen eine „Gratis-Mentalität“ vorgeworfen hatte.8 Anhand dieses und weiterer Beispiele verdeutlichte Thurn, dass das topische Konstrukt der angeblichen moralischen Verkommenheit und Unzulänglichkeit maßgeblicher Entscheidungsträger bereits eine spätantike Tradition aufweise und sich von diesem Zeitpunkt an immer weiter als Kulturmythos verselbstständigt habe, der sich auch heute noch hartnäckig und vom eigentlichen historischen Sachverhalt losgelöst halte und kaum mehr aufzubrechen sei. Diese komplexe Genese des Narrativs lasse eine Dekonstruktion „uninteressant und unmöglich“ erscheinen.

In der Sektion „Agentenbasierte Modellierung und die Vermögensverteilung im Imperium Romanum“ von BART DANON (Groningen), MYLES LAVAN (St. Andrews) und JOHN WEISWEILER (München) wurde die Vermögensverteilung im Römischen Reich anhand drei unterschiedlicher Faktoren simuliert. Zuerst wurde untersucht, inwieweit unterschiedliche Sterberaten das Gleichgewichtsniveau der Vermögensverteilung innerhalb der Bevölkerung beeinflussten. Zweitens wurde getestet, ob partielle Vererbung zu einem niedrigeren Gleichgewichtsniveau als die Primogenitur führte. Als drittes stand die Auswirkung unterschiedlicher Kapitalrenditen auf die Vermögenskonzentration und den Grad der sozioökonomischen Mobilität im Fokus. Die Sektion zeigte, dass computergestützte Modellierungen hilfreich sind, um die Auswirkungen von Entwicklungsfaktoren der Ungleichheit in der römischen Welt zu untersuchen.

JOHN WEISWEILER (München) erläuterte zu Beginn, dass die führenden Familien im Römischen Reich eine interessante Fallstudie darstellten, weil sie eine der ersten überregionalen Eliten der Geschichte konstituierten, die besser dokumentiert sei als die meisten vormodernen Eliten. Zudem sei die römische Eigentumsordnung äußerst einflussreich gewesen. Auf dieser Grundlage wurde ein Modell der römischen Vermögensverteilung mit begrenzten Parametern entworfen. Dieses Modell soll die Bewertung der Vermögensungleichheit im Römischen Reich als Ganzes ermöglichen und die generierten Daten für vergleichende Analysen nutzbar machen.

MYLES LAVAN (St. Andrews) konstatierte zunächst, dass sich Wirtschaftswissenschaftlern zufolge jede Volkswirtschaft ohne externe Schocks auf ein Gleichgewichtsniveau der Vermögensungleichheit zubewegt. Dabei verwies er auf Thomas Piketty und Gabriel Zucman, die argumentieren, dass multiplikative Zufallsschocks wie z.B. die Sterblichkeitsrate oder die Zahl erbender Kinder tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Vermögensverteilung haben.9 Weiter führte Lavan aus, dass solche Zufälle durch komplexe Muster entstehen, aber häufig verkannt würden, wodurch die Grenzen der auf Intuition basierten Argumentation aufgezeigt würden. Aus diesem Grund seien agentenbasierte Modelle eine gute Ergänzung, da sie potentiell zuverlässiger seien als bloße Intuition und zugänglicher als gleichungsbasierte Ansätze.

Anschließend beschrieb BART DANON (Groningen) den Ablauf des Experiments: Es wird mit 500 Personen und 100 Vermögenseinheiten gestartet. Das Vermögen einer Person setzt sich aus seinem Arbeits- und Kapitaleinkommen zusammen, wobei die Zahl hier auch Null betragen kann. Jedes Jahr spart jede Person drei Prozent ihres Einkommens., Daraus ergibt sich das Vermögen, welches jedes Jahr um 1% schrumpft. Im Grundmodell wurde dann von einer Sterberate von 3,9% ausgegangen. Die Verstorbenen wurden dann zu 38% von 0, zu 37% von 1, zu 11% von 2 und zu 14% von 3 Personen ersetzt. Dieser Mechanismus bildet folglich die Wohlstandsübertragung ab. Das Ergebnis war eine typische Wohlstandsverteilung, wie sie sich beispielsweise auch in der römischen Stadt Hermopolis findet. In zwei unterschiedlichen Szenarien wurde anschließend untersucht, wie sich die Vermögensverteilung bei einer Veränderung der Parameter abhängig von der Ansetzung der Sterberate verschiebt.

Zuletzt ordnete SITTA VON REDEN (Freiburg) die Ergebnisse der agentenbasierten Modellierung in den breiten Kontext der neueren Forschung zur römischen Wirtschaft ein und zeigte die Chancen und Risiken dieser Arbeitsweise auf. Von Reden betonte, dass die Vorträge ein notwendiges Umdenken bei der intuitiven Bewertung des Einflusses von Zufallsschocks auf die Vermögensverteilung römischer Gesellschaften aufzeigen. Ein Problem sei die Abbildung der Komplexität der römischen Wirtschaft. So könne ein agentenbasiertes Modell die vielfältigen Dynamiken der römischen Ungleichheit nicht vollumfänglich erfassen. Ebenso könnten die Auswirkungen verschiedener Faktoren auf die Ungleichheit, wie beispielsweise der Sklaverei, nicht eindeutig eruiert werden.

Die Sektion „Fragile Fakten in den Geschichtswissenschaften“ von CHARLOTTE SCHUBERT (Leipzig) und CHRISTOPH SCHÄFER (Trier) verstand sich als innerhalb der Alten Geschichte als epochenübergreifende Diskussion über gleich zwei Probleme der Digital Humanities: So widmete sich die Debatte zum einen der Frage, inwiefern Studien und Ergebnisse der digitalen Geschichtswissenschaft reproduzierbar sind. Zum anderen wurde das Spannungsfeld zwischen einer benötigten Systematisierung innerhalb der Digital Humanities und deren Vereinbarkeit mit den hermeneutisch arbeitenden Geschichtswissenschaften deutlich. In dieser Sektion wurde auf längere Vorträge verzichtet, um eine ausführliche Diskussion zu gewährleisten und zum Schluss der Sektion die Rolle der Fachgesellschaften problembezogen zu thematisieren. Die Teilnehmenden des Panels gaben deshalb lediglich zu Beginn jeweils eine kurze Stellungnahme zur Problematik ab, die an dieser Stelle nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern themenbezogen wiedergegeben werden.

Zu Beginn wies MAREIKE KÖNIG (Paris) anhand des Topic Modeling darauf hin, dass nicht alle digitalen Methoden reproduzierbar sind. Da die Ergebnisse derartiger Methoden aber nicht für sich sprechen könnten, müssten sie zwangsläufig interpretiert bzw. hermeneutisch gedeutet werden. Die Geschichtswissenschaft müsse sich deshalb mit dem Gegensatz zwischen algorithmischen Methoden und hermeneutischem Denken auseinandersetzen. WERNER RIESS (Hamburg) verwies darauf, dass in jeder auf Algorithmen basierten Arbeit auch immer Hermeneutik steckt, da schon die Auswahl der eingespeisten Daten einen hermeneutischen Prozess darstelle. Es sei deutlich zu machen, warum die entsprechenden Daten ausgewählt wurden, um eine Reproduzierbarkeit zu ermöglichen. WOLFGANG SPICKERMANN (Graz) forderte die Entwicklung einer Hermeneutik des Digitalen, um die scheinbare Unvereinbarkeit von Reproduzierbarkeit und Hermeneutik zusammenzubringen. Dafür müssten einzelne Arbeitsschritte deutlich gemacht werden, um Nachvollziehbarkeit zu schaffen.

Auch SILKE SCHWANDT (Bielefeld) betonte die Notwendigkeit, die Arbeitsweisen bei digitalen Methoden transparenter aufzuzeigen. Zugleich hinterfragte sie, ob Reproduzierbarkeit (naturwissenschaftlicher Ansatz) und Nachvollziehbarkeit (hermeneutisches Arbeiten) überhaupt so eng miteinander verbunden werden könnten. Die Geschichtswissenschaft solle deshalb das interdisziplinäre Feld nutzen und Anforderungen zum Umgang mit Daten festlegen, um beispielsweise Unsicherheiten in Datensätzen markieren zu können. Diesen Ansatz griff auch LEIF SCHEUERMANN (Trier) auf und postulierte, dass es zentral sei zu eruieren, ob die Geschichtswissenschaft hermeneutische Prozesse algorithmisch formulieren könne. Dabei müsse klar gemacht werden, wo mit Blick auf die Vagheit der Daten bei einer solchen Arbeitsweise die Grenzen liegen.

PASCAL WARNKING (Trier) erläuterte, dass es für die Frage der Reproduzierbarkeit zentral sei, ob die Anwender:innen auf Basis technischer Gesichtspunkte theoretisch, vor allem aber praktisch dazu in der Lage sind, Ergebnisse bei gleichbleibenden Algorithmen zu reproduzieren. Warnking warb deshalb für die Einbindung digitaler Methoden in die universitäre Lehre. Einen positiven Bericht zur Einbindung digitaler Methoden lieferte auch der Sozialwissenschaftler ROGER BERGER (Leipzig).

Die anschließende Diskussion zeigte, dass digitale Methoden, Informatikkenntnisse und Programmiersprache in der Geschichtswissenschaft immer größere Relevanz erfahren und in die universitäre Lehre integriert werden sollten. Allerdings wurde anhand der Fragen in der Diskussion deutlich, dass die Kenntnisse der Teilnehmenden des Plenums zu digitalen Methoden in der Geschichtswissenschaft stark variieren.

Die Positionen zur Vereinbarkeit von Hermeneutik mit algorithmusbasiertem Arbeiten lagen hingegen sowohl bei den Beteiligten des Panels als auch im Plenum weit auseinander. Dabei war ein zentrales Problem, wie die Vagheit von Daten in Algorithmen verdeutlicht werden kann, um die hermeneutische Methode der Plausibilität deutlich machen zu können. Dieses Ergebnis zeigte umso mehr, dass es dringend einheitlicher Leitlinien für die Digitalen Geschichtswissenschaften bedarf. Zuletzt erfolgte deshalb ein Ausblick dazu, welche wichtigen Funktionen die Fachgesellschaften bei diesem Prozess übernehmen müssen.

Resümierend lässt sich festhalten, dass sich die althistorischen Fachsektionen auf dem Leipziger Historikertag dem Konzept der „Faktizität“ aus vielen unterschiedlichen Perspektiven näherten. So wurden nicht nur „empirische Fakten“ im eigentlichen Sinne zum Thema gemacht, sondern auch Narrative, Mythen und der faktenbasierte Umgang mit antiken Sachverhalten in der modernen Altertumswissenschaft. In der Zusammenschau schärften die vielseitig, international und hochkarätig besetzten Panels einmal mehr den Blick für den Konstruktcharakter historischer Narration und Sinnbildung, sodass nicht nur leicht zu entlarvende ethnographische Exkurse, sondern auch vermeintlich objektive hard facts wie Zahlenangaben stets zu hinterfragen sind. Wie eingangs erwähnt, zeichnet sich die Alte Geschichte aufgrund ihrer besonderen Überlieferungssituation durch ihre lange angesammelte Expertise für „fragile Fakten“ aus, die angesichts moderner Postfaktizitätsdiskurse auch in Zukunft weiterhin gefragt sein wird.

Anmerkungen:
1 Uwe Walter, Zuerst hauen sie alles kaputt, und hinterher stiften sie die Beute. Alte Geschichte in Leipzig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 5.10.2023, https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/roemische-geschichte-auf-dem-historikertag-in-leipzig-19200649.html (03.11.2023).
2 Aus organisatorischen Gründen können die Sektionen „Fiktionalisierung-Manipulation-Instrumentalisierung. Der Umgang mit historischen Fakten in den Quellen der frühen und hohen Kaiserzeit“ und „Panem et Circenses. Game Based Learning und Antike“ an dieser Stelle leider nicht besprochen werden. Für letztere sei an dieser Stelle auf den ausführlichen Sektionsbericht von Oliver Bräckel verwiesen; vgl. Oliver Bräckel, Tagungsbericht HT 2023: „Panem et Circenses“. Game-based learning und Antike, in: H-Soz-Kult, 28.10.2023, www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-139524 (03.11.2023).
3 Vgl. exemplarisch Geoffrey Lloyd, Methods and Problems in Greek Science. Selected Papers, Cambridge 1991.
4 Vgl. Erich S. Gruen, Studies in Greek Culture and Roman Policy (= Cincinnati Classical Studies New Series Bd. 7), Leiden u.a. 1990.
5 Vgl. hierzu den bereits erschienenen, ausführlichen Sektionsbericht von Daniel Emmelius; Daniel Emmelius, Tagungsbericht HT 2023: Zwischen Faktizität und Konstruktion. Fragile Fakten als historisches und historiographisches Problem der Alten Geschichte, in: H-Soz-Kult, 7.10.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-139154 (03.11.2023).
6 Vgl. exemplarisch Hans-Joachim Gehrke, Geschichte als Element antiker Kultur. Die Griechen und ihre Geschichte(n) (= Münchner Vorlesungen zu Antiken Welten Bd. 2), Berlin u.a. 2014.
7 Ampel. 38,2.
8 Guido Westerwelle, An die deutsche Mittelschicht denkt niemand, in: Welt online, 11.02.2010, https://www.welt.de/debatte/article6347490/An-die-deutsche-Mittelschicht-denkt-niemand.html, zuletzt gesehen 25.10.2023; vgl. auch o.A., Westerwelle warnt vor Vollversorgerstaat, in: Spiegel online, 11.02.2010, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/hartz-iv-debatte-westerwelle-warnt-vor-vollversorgerstaat-a-677163.html, 25.10.2023.
9 Vgl. Thomas Piketty, Capital in the 21st Century, Cambridge 2014; Thomas Piketty/Gabriel Zucman, Wealth and Inheritance on the Long Run, in: Anthony B. Adkinson/François Bourgignon (Hrsg.), Handbook of Income Distribution. Vol. 2B, Amsterdam 2015, S. 1304-1366.

Redaktion
Veröffentlicht am