Unternehmerische Risiken – erforschen, steuern und beherrschen?

„Unternehmerische Risiken – erforschen, steuern und beherrschen?“ 20. Sitzung des Arbeitskreises Bank- und Versicherungsgeschichte

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. (Ergo Group AG)
Ausrichter
Ergo Group AG
Veranstaltungsort
ERGO-Platz 1
PLZ
40198
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.12.2023 - 01.12.2023
Von
Sabrina Hennig, Allianz SE, München

Die 20. Sitzung des Arbeitskreises „Bank- und Versicherungsgeschichte“ fand im Hause der Ergo Group AG in Düsseldorf statt und beschäftigte sich mit dem Thema „Unternehmerische Risiken – erforschen, steuern und beherrschen?“ In ihren Arbeitskreistagungen beschäftigen sich die Mitglieder mit aktuellen Forschungsfragen und ermöglichen den wissenschaftlichen und praxisnahen Austausch.

FRIEDERIKE SATTLER (Frankfurt am Main) gab in ihren einführenden Worten einen Anstoß für generelle Überlegungen zum Zusammenhang von Risiko und rationalem Handeln. Das Handlungsmodell der Rationalität sei in Europa entstanden und setzte sich im 19. Jahrhundert immer mehr durch – Handlungsoptionen waren nun nicht mehr länger an einen klassischen Wertekanon gebunden. Die aktuelle interdisziplinäre Risikoforschung beschäftigt sich vor allem damit, wie die prinzipiell ungewisse, kontingente Zukunft für den Menschen prognostizierbar werden kann. Risikomanagement ist in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, Risiko einzuhegen – Ungewissheiten können in kalkulierbares Risiko transformiert werden. Dennoch: Es gibt immer neue Risiken, eine vollständige Risikobeherrschung ist daher unmöglich.

ANDREAS TRUSOW (Düsseldorf) sprach in seinem Impulsvortrag über das Risikomanagement bei der Ergo Group. Er definierte Versicherung als „Übernahme von Risiken“. Die Aufgabe des Risikomanagements bestehe darin, erstens Risiken mittels Modellbildungen kalkulierbar zu machen, zweitens einen fairen Preis für Kundinnen und Kunden anzubieten und drittens Risiken aktiv zu steuern, zu bewerten und zu managen. Modelle sind hierbei ein wichtiges Werkzeug – dennoch sei die Risikoeinschätzung eines einzelnen Menschen kaum möglich. Eine Lösung dieser Herausforderung sei, Kollektive zu bilden und diese sinnvoll zusammenzusetzen. Das Risikomanagement, wie wir es heute verstehen, entstand als Folge der Deregulierung der Versicherungsbranche, die mehr Freiraum bei der Preis- und Produktbildung für Versicherer bedeutete, und wurde in diesem Kontext eine Art Überwachungsinstanz. Ereignisse wie das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000, die Insolvenz der Mannheimer Leben im Jahr 2003, der Höhepunkt der Finanzkrise von 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmeldete, oder auch der Krieg in der Ukraine seit 2022 erforderten zunehmend einen stärkeren Fokus auf die Beobachtung qualitativer Risiken. Gerade das aktuelle Kriegsgeschehen zusammen mit der vorangegangenen Covid-Pandemie zeige, wie unvorhersehbar das Weltgeschehen sein kann. Finanzielle Resilienz etwa in Form einer soliden Kapitalausstattung und operative Resilienz im Sinne einer guten Vorbereitung auf das Unerwartete seien daher essenziell für ein erfolgreiches Risikomanagement.

In seinem Vortrag nahm DEREK HATTEMER (Basel) die Lebensversicherung in der Weimarer Republik und im NS-Staat in den Blick. Er wies einleitend auf das Forschungsdesiderat in der Geschichtswissenschaft bezüglich Kleinstlebensversicherungen hin, die selbst in Krisenzeiten stark wuchsen. Weiterhin warf Hattemer die Frage auf, weshalb Privatversicherungen im Zeitraum seiner Untersuchung überhaupt in Anspruch genommen wurden. Privatversicherer, wie etwa die Allianz oder die Victoria, waren bereits spätestens seit der Weimarer Republik fest etabliert. Trotz Krisen wie etwa der um die Frankfurter Allgemeine Versicherungs-AG (FAVAG) im Jahr 1929 konnten sich private Versicherungsunternehmen behaupten. Sie grenzten sich von den „Zwangsversicherungen“ ab, indem sie die moralische Qualität der Selbstverantwortung und das Prinzip der Freiwilligkeit betonten – dieses Bild und die Abgrenzung zur Sozialversicherung gestalteten ebenso die Vertreter der Versicherungswirtschaft aktiv mit. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten habe laut Hattemer auf die private Versicherungswirtschaft zunächst kaum Auswirkungen gehabt. Im Gegenteil: Viele Versicherer wie die Volksfürsorge als „Unternehmen der DAF“ hätten eng mit dem NS-Regime zusammengearbeitet. Die Privatversicherer erkannten außerdem, so eine These Hattemers, den Nutzen einer umfassenden Zusammenarbeit, was sich bereits in der Gründung des „Reichsverbands der Privatversicherung“ und dessen Umgestaltung in einen Verein zeigte. Zusammenfassend urteilte Hattemer, dass es sich um einen „prägenden Zeitraum für die Entwicklung dieser Industrie“ handelte.

BORIS GEHLEN (Stuttgart) gab mit seinem Referat über die „Bank voor Handel en Scheepvaart N.V.“ einen Einblick in das Forschungsprojekt zur Unternehmerfamilie Thyssen im 20. Jahrhundert, gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung (2008–2014). Die Scheepvaart Handelsgesellschaft der Familie Thyssen, die heute nicht mehr existiert, wurde am 05. Juli 1918 in den Niederlanden gegründet. Ziel und Zweck der Bankengründung waren zuvorderst höchst individuell: Die Familie Thyssen war mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges bestrebt, ihr Eigentum in Sicherheit zu bringen. Der Kompetenzbereich der Bank war nicht klar umrissen; sie war Konzernbank, Privatbank und eine Holding mit Eigentumsrechten an deutschen Produktionsunternehmen. Der Thyssen-Bornemisza-Komplex war vielfach verästelt, wodurch Eigentumsrechte verschleiert werden konnten. Die stillen Reserven überstiegen das Kapital um das Dreifache. Die Risiken des Geschäftsmodells waren vielseitig und bestanden vor allem in einem Klumpenrisiko der Konzernbank wegen des starken Fokus auf Thyssengas und den Vereinigten Stahlwerken, in einem politischen Risiko aufgrund der Wahrnehmung als „deutsches“ Unternehmen und in der Vermögensanlage in „Thyssen-Gold“, das die Briten zeitweise beschlagnahmt hatten. Die Bank begann sich seit den 1950er-Jahren neu auszurichten und nannte sich 1971 in „Thyssen-Bornemisza-Group N.V.“ um – nun mit dem Schwerpunkt auf ein globales, steueroptimiertes Portfoliomanagement und weiterhin mit dem Ziel, die Eigentumsrechte zu sichern.

In seinem Vortrag stellte NICOLAS HAFNER (Genf) Ergebnisse seiner Masterarbeit vor, die sich mit dem Schutz ausländischer Privatinvestoren – insbesondere in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren – befasste. Der Untersuchungszeitraum orientierte sich an der aktivsten Phase der Association for the Promotion and Protection of Private Foreign Investments (APPI), die in der Schweiz gegründet worden war. Die Direktoren setzten sich unter anderem aus Diplomaten, Juristen, Industriellen und Bankiers zusammen. Für die neugegründete Gesellschaft konnte auch der Bankier Hermann J. Abs gewonnen werden, der Jahrzehnte an der Spitze der Deutschen Bank stand, intensive Kontakte im Auslandsgeschäft pflegte und später Aufsichtsratsvorsitzender und -mitglied zahlreicher Aktiengesellschaften war. Ziel der APPI war es, ausländische Investitionen zu schützen und hierzu eine multilaterale Konvention zu etablieren, ein Investor-Staats-Schiedsverfahren einzuführen, vor allem aber internationale persönliche Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Überraschend dürfte sein, dass die Gesellschaft ein recht überschaubares Budget hatte, dafür aber eine vergleichsweise hohe Anzahl an Mitgliedern, die über ihre Mitgliedsbeiträge das Projekt finanzierten. Hafner bewertete das Projekt gemessen an den ursprünglich gesteckten Zielen als eigentlich erfolglos – dennoch gelang es den Mitgliedern, den öffentlichen Diskurs über ihre Kernthemen zu bestimmen.

Im letzten Referat der Tagung trug FILIP BATSELÉ (Gent) Ergebnisse seines abgeschlossenen Dissertationsprojekts vor. Im Fokus stand die 1956 in Köln gegründete Gesellschaft zur Förderung des Schutzes von Auslandsinvestitionen e. V., auch „Kölner Gesellschaft“ genannt. Eng mit dieser Gründung verbunden war wiederum Hermann J. Abs. Unter den 24 Gründern befanden sich – ähnlich wie bei der APPI – Bankiers, Industrielle, Anwälte und Politiker – vor allem der CDU. Die Mitgliederzahl nahm zwischen 1961 und 2002 allerdings rapide ab, die finanzielle Lage war zeitweise ebenso bedenklich. Der Fokus der Organisation lag auf der Forderung der Rückgabe der während und nach dem Zweiten Weltkrieg konfiszierten deutschen Besitztümer in den USA. Zum einen sollte mit der Wiedererlangung der Besitztümer in den USA ein Präzedenzfall geschaffen werden, der auf andere Länder übertragen werden könnte, zum anderen sollte Privatvermögen im Ausland generell geschützt werden. Hans Dölle, Leiter des Max-Planck-Instituts für Internationales Privatrecht, entwarf hierfür eine „Magna Charta“, die zwar von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rezipiert wurde, aber niemals vertragliche Verbindlichkeit erlangte. Die weiteren Aktivitäten der Gesellschaft kreisten um Lobbyarbeit, die Bereitstellung von Informationen und die Abhaltung von Konferenzen. 2010 löste sie sich schließlich auf.

Die anschließende Diskussion war sehr lebendig und zeigte, dass das Forschungsfeld „Risiko“ interdisziplinär und von höchster Relevanz ist. Zudem wurde deutlich, dass besonders Fragen zur Versicherungsgeschichte immer noch Desiderate der historischen Forschung bilden. Die Konkurrenz zwischen Banken und Versicherern, die Frage nach Verlust oder Etablierung von Vertrauen – etwa nach dem FAVAG-Skandal im Jahr 1929 – erwiesen sich als wiederkehrende Diskussionspunkte und bilden sicherlich auch für künftige Sitzungen und Forschungsarbeiten Anknüpfungspunkte.

Konferenzübersicht:

Friederike Sattler (Frankfurt am Main): Begrüßung und Einführung

Andreas Trusow (Düsseldorf): Begrüßung und Vortrag. Risikomanagement bei ERGO – aktuelle Trends

Derek Hattemer (Basel): Private Vorsorge zwischen Weimar und Drittem Reich. Die Gestaltung eines deutschen Massenmarkts für Lebensversicherungen (1924–1939)

Boris Gehlen (Stuttgart): Risiken als Anreiz? Die Metamorphosen der Bank voor Handel en Scheepvaart N.V. von einer Konzernbank zu einer globalen Finanzinvestorin (1918–1971)

Nicolas Hafner (Genf): Internationale Investorenrechte: der Schutz von ausländischen Privatinvestitionen, Dekolonisierung und die APPI

Filip Batselé (Gent): Protecting the German Investor Against Political Risks: The Gesellschaft zur Förderung des Schutzes von Auslandsinvestitionen e.V. (1956–2010)

Abschlussdiskussion