In between violence, sexualization and intimacy. Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust

In between violence, sexualization and intimacy. Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust

Organisatoren
Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster); in Kooperation mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und dem Program in Jewish Studies an der University of Colorado Boulder
PLZ
48149
Ort
Münster
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.03.2024 - 22.03.2024
Von
Kathrin Schulte, Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Für ein multikausales Verständnis des Nationalsozialismus ist ein genderhistorischer Ansatz kaum zu überschätzen. Gendervorstellungen waren im alltäglichen Leben, in privaten wie öffentlichen Räumen präsent und sind ebenso integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Rassenideologie, welche Massenverbrechen und den Holocaust ermöglichte. Sie bestimmten die individuellen Handlungsmöglichkeiten in verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Kontexten sowie Gesellschaften und Erinnerungskulturen nach 1945. Auf der zweitägigen internationalen Tagung in der Villa ten Hompel stellten die 65 Teilnehmenden die Bedeutung von intersektionalen Ansätzen, der Abkehr von heteronormativen Vorstellungen und dem Potential neuer Periodisierungen heraus. Die Fähigkeit der Fotografien, Genderkonstruktionen und Perspektiven von Täter*innen wie Verfolgten bildsprachlich zu transportieren sowie die Kategorie Raum stellten wiederkehrende Motive in den Vorträgen sowie Diskussionen dar, deren Berücksichtigung auch in zukünftiger Auseinandersetzung mit genderhistorischen Ansätzen vielversprechend erscheint.

THOMAS KÖHLER (Münster), Veranstalter der Tagung gemeinsam mit Karolin Baumann und Annina Hofferberth, begann seine Begrüßung mit dem Eingeständnis eines Desiderats: In dem 2023 von ihm mit herausgegebenen internationalen Sammelband „Polizei und Holocaust“1, welcher den Fokus auf aktuelle Methodiken der modernen Täterforschung legt, werden genderhistorische Analysen, beispielsweise in Bezug auf die Themen sexualisierte Gewalt und Liebesbeziehungen, nur in einzelnen Beiträgen gewählt. Die Tagung stellte deshalb Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust in den Fokus. Dass die Kategorie Geschlecht in der historischen Forschung noch oft eine Leerstelle bildet, verdeutlichte Köhler an Fotografien aus den Beständen des Geschichtsorts Villa ten Hompel: Viele NS-Täter hielten ihre Einsätze und ihren Alltag fotografisch fest. Während eine wissenschaftliche, auch fotohistorische Auseinandersetzung mit den Tätern bereits stattfindet, fehlt es noch oft an Forschung zu den auf diesen Fotografien durchaus präsenten weiblich gelesenen Personen – seien es Sekretärinnen, die während der NS-Zeit für den Befehlshaber der Ordnungspolizei in der Villa ten Hompel arbeiteten, Ehefrauen von Polizisten oder anderen NS-Tätern oder die verfolgten und ermordeten Frauen auf Fotos, die Gewaltverbrechen des Holocaust zeigen.

Doris Bergen betonte in einem Beitrag aus dem Jahr 2006 2 drei für die Erforschung sexualisierter Erniedrigung und Gewalt während des Holocaust wesentliche Aspekte: 1) Eine breite Definition sexueller und sexualisierter Gewalt, die die Vielfalt von Formen und Kategorien sowie der Orte und Räume dieser Gewaltakte beinhaltet; 2) die Berücksichtigung auch von Männern als Opfer und Männlichkeit als Ermöglichungsrahmen für Gewalt der meist männlich gelesenen Täter; 3) außerdem die Notwendigkeit, Gewalt gegen Jüdinnen:Juden in Beziehung zu der Gewalt gegen andere Gruppen zu setzen. Anhand dieser Aspekte gab ELIZABETH HARVEY (Nottingham/Berlin) in ihrer Keynote einen Überblick über die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sexueller bzw. sexualisierter Gewalt während des Nationalsozialismus und des Holocaust. Außerdem thematisierte sie aktuelle Debatten, darunter die Diskussion um „choiceless choices“, die sich mit der Frage nach den Handlungsräumen und der Entscheidungsfreiheit im Kontext von „sexuellem Tauschhandel“, also Sex als Mittel zum Überleben, befasst. Auch die Rolle von Fotos als Quellen sexueller bzw. sexualisierter Gewalt sei nicht zu unterschätzen, wie auch weitere Tagungsbeiträge zeigten – so seien die Fotos, die oft von Tätern aufgenommen wurden, bereits Ergebnis und Festschreibung einer Praxis der Erniedrigung und des Voyeurismus; häufig repräsentierten sie darüber hinaus den „male gaze“. Insbesondere Harveys aufgeworfene Frage nach Schärfung der Begrifflichkeiten sexualisierter und sexueller Gewalt wurde in der anschließenden Diskussion aufgenommen: Hier sei eine Unterscheidung von Vergewaltigungen und sexualisierten Handlungen entsprechend der Definition Waitman Wade Beorns sinnvoll, es bedürfe jedoch noch weiterer Verfeinerung der Definitionen.

Innerhalb des ersten Panels zu Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen im Holocaust thematisierte MARTA HAVRYSHKO (Worcester, Massachusetts) die Ursachen, Muster und Auswirkungen sexualisierter und sexueller Gewalt gegen jüdische Frauen und Mädchen in der Ukraine. Beginnend mit den ersten Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung begingen nicht nur die deutschen Täter, sondern auch die lokale ukrainische Bevölkerung, ukrainische Polizisten sowie Soldaten der Roten Armee sexuelle Übergriffe an jüdischen Frauen und Mädchen – eine Form der Gewalt mit einer rassistischen Dimension. Havryshko verdeutlichte die Ausmaße dieser Verbrechen im Verlauf des Holocaust in unterschiedlichen Räumen, so auf den Straßen, in Lagern, Ghettos, im Kontext von Massenerschießungen oder in Verstecken und thematisierte die bereits von Elizabeth Harvey erwähnten „choiceless choices“, beispielsweise in Form von Prostitution im Ghetto- oder Lagerkontext als Überlebensstrategie. Das damit verbundene gesellschaftliche Tabu erschwerte die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen nach 1945. Die aufgezeigten Parallelen zu den Verbrechen, die im Rahmen des russischen Angriffskriegs seit 2022 gegen die Ukraine von russischen Soldaten begangen wurden und werden, aber auch die Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel insbesondere gegen jüdische Frauen bewiesen die Aktualität des Themas.

FLORIAN ZABRANSKY (Bonn) gab Einblick in seine Forschungen zu verschiedenen Formen von Männlichkeit, Emotionen und intimen Praktiken männlicher jüdischer Partisanen vor allem in der Ukraine und Belarus. Für viele Juden bot der Anschluss an eine Partisanengruppe eine der wenigen Optionen des Überlebens und Widerstands. Sie nutzten die Reproduktion militärischer Männlichkeit, um Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen und den sexualantisemitischen Vorurteilen der nichtjüdischen Partisanen zu begegnen, die oft zwischen den kämpfenden Juden und denjenigen, die in Lagern ermordet wurden, differenzierten. Die Erniedrigung und Zerstörung der Virilität dieser Männer war Teil der sexualisierten Gewalt. In Interviews mit überlebenden jüdischen Partisanen, Egodokumenten und Gerichtsakten dominieren Berichte über Rachefantasien, aber auch über den intimen Akt des Tötens. Deutlich wurden aber auch die Grenzen aktiver Handlungsmöglichkeiten von Juden in ihrem Überlebenskampf, sei es durch eine weiterhin geringe eigene Überlebenschance oder den oftmals totalen Verlust des familiären Umfelds.

Im zweiten Panel demonstrierte SARAH FRENKING (Erfurt) anhand des „internationalen Mädchenhandels“, dass auch nichtjüdische Frauen sexualisierte Ausbeutung als nationalsozialistische Herrschaftspraxis erlebten. Die Nationalsozialisten nutzten das bereits seit den 1920er-Jahren bestehende und antisemitisch konnotierte Narrativ des „Mädchenhandels“, zurückgehend auf den Titel der Publikation „Frankreich, Zentrale des Internationalen Mädchenhandels“ von Friedrich Seekel, um einerseits die deutsche Polizei mit der Einrichtung der „Zentralstelle zur Bekämpfung des Mädchenhandels“ institutionell zu erweitern und andererseits die Besatzung und den Krieg gegen Frankreich mit der angeblichen Bekämpfung desselben zu legitimieren. Dies zeigt das Beispiel der Auflösung und Zerstörung des Vieux Port-Viertels in Marseille 1943 auf Befehl Himmlers, bei der man 6.000 Personen verhaftete und das für antisemitische Propaganda ausgeschlachtet wurde. Gleichzeitig sicherte sich das NS-Regime, ebenso wie die Vichy-Regierung, das staatliche Monopol auf Prostitution. Frauen wurden etwa in Wehrmachtsbordelle in Frankreich und Tunesien oder in Bordelle für „fremdvölkische Arbeiter“ verschleppt.

Sexualisierte Ausbeutung war außerdem ein integraler Bestandteil des Konzentrationslagersystems, wie ROBERT SOMMER (Berlin) anhand des von ihm eingeführten Begriffs der Sex-Zwangsarbeit in Lagerbordellen darlegte. 1943 verfügte Himmler die Einrichtung von Bordellen in zehn Konzentrationslagern, um die Produktivität der männlichen Häftlinge zu steigern. Frauen für die Bordellkommandos wurden in den KZ Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau unter falschen Versprechungen ausgewählt. Die meisten von ihnen waren als „asozial“ stigmatisierte und inhaftierte Frauen aus Deutschland, Polen und der Sowjetunion. Jüdische Frauen wurden in der Regel nicht zur Sex-Zwangsarbeit selektiert, da jüdische Häftlinge das Bordell nicht besuchen durften. An dieser Stelle verschränkten sich Sexismus und Misogynie mit einer rassistischen Komponente: Die Bordellbesuche waren lediglich einem kleinen Teil der meist westeuropäischen Häftlinge vorbehalten und wurden gemäß der rasse- und prostitutionspolitischen Vorgaben organisiert. In der Erinnerungskultur nach 1945 waren Sex-Zwangsarbeiterinnen, von denen einige die Arbeit im Bordell als Überlebenschance sahen, aufgrund gesellschaftlicher Tabus nicht präsent und wurden erst 2020 als „asozial“ Verfolgte des NS-Regimes anerkannt.

Vor barocker Kulisse im Festsaal des Erbdrostenhofes Münster sprach Thomas Köhler im Rahmen der öffentlichen Abendveranstaltung mit ELISSA MAILÄNDER (Paris) über ihr bald in englischer Übersetzung erscheinendes Buch zur Alltagsgeschichte von Intimität und Partnerschaft im Nationalsozialismus. Das Gespräch demonstrierte, dass ein alltagshistorischer Zugriff bei der Auseinandersetzung damit, was den Nationalsozialismus für insbesondere die jüngere deutsche heteronormativ gelesene Mehrheitsgesellschaft so attraktiv machte, durchaus gewinnbringend ist. Gerade das Private und Alltägliche seien hochpolitische Räume. Mailänder, die sich in ihren Forschungen bereits mit dem Alltag der Lageraufseherinnen im KZ Lublin-Majdanek auseinandergesetzt hatte, zeigte anhand verschiedener Biografien von Frauen, die sich in das rassistische nationalsozialistische Weltbild einpassten, dass gesellschaftliche Teilhabe eine Zustimmung zum Nationalsozialismus voraussetzte, den viele noch junge Frauen als ihr „Lebensprojekt“ ansahen. Für die oft unverheirateten Frauen bedeutete die Beteiligung finanzielle Unabhängigkeit und Verbindung zu gleichgesinnten Frauen. Lager wie die des BDM oder Sportlager, aber auch KZ (als Arbeitsplatz) dienten als Orte der Politisierung für eine homogene Gemeinschaft. Mailänder betonte den „inkludierenden Rassismus“, der vor allem als arische definierte Frauen neue Gestaltungsmöglichkeiten in einer patriarchalen Gesellschaft eröffnete. Als Grundlage dienten Egodokumente der Frauen, aus denen hervorgeht, dass diese von einer gesicherten Zukunft ausgingen, für die sie sich Pläne und Ziele ausmalen konnten. Für Verfolgte des NS-Regimes hingegen war ein entsprechender Alltag mit einer gesicherten und planbaren Zukunft nicht gegeben, was sich in einem Ungleichgewicht an überlieferten Egodokumenten widerspiegelt.

Auf kommunaler Ebene, am Beispiel Magdeburg, befasste sich VERENA MEIER (Heidelberg) im dritten Panel der Tagung mit intersektionalen Perspektiven auf die Verfolgungspraktiken von Sinti:zze und Rom:nja und deren Nachwirkungen in der SBZ und DDR. Seit Jahrhunderten manifestierte Vorurteile und Zuschreibungen verschränkten sich mit geschlechterspezifischen Stereotypen, so etwa in der (zugeschriebenen) Praktik des Wahrsagens oder in der Konstruktion devianten Sexualverhaltens von romani Frauen. Sie dienten dem NS-Regime als Rechtfertigung für Verfolgungsmaßnahmen. Auch die Verfolgung von Frauen durch die Polizei, die selbst keine Sintezza oder Romni waren, aber Beziehungen mit Sinti führten, war Teil der Untersuchung. Nach 1945 setzte sich in der SBZ und der DDR die Stigmatisierung der Sinti:zze und Rom:nja fort: Sie waren meist als „Asoziale“ verfolgt worden und waren daher nicht entschädigungsberechtigt. Hinzu kommt, dass entsprechende „Labels“ auch in der Nachkriegsgesellschaft dazu dienten, Erwartungen an das Verhalten der Menschen anzuzeigen. Das Zusammenwirken der Kategorien „race“, „class“ und „gender“ ist ein zentraler Ausgangspunkt von Verena Meiers Regionalstudie.

PHILIPP ERDMANN und JAN MATTHIAS HOFFROGGE (beide Münster) stellten in einem Werkstattbericht das Forschungs- und Gedenkprojekt der Stadt Münster zu sogenannten vergessenen Verfolgten vor, in dessen Rahmen u.a. die Akten der „Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege“ des kommunalen Gesundheitsamtes der Stadt Münster, das für die Durchsetzung des Erbgesundheitsgesetzes verantwortlich war, ausgewertet wurden. Mitarbeiter:innen der Beratungsstelle ordneten zwischen 1934 und 1945 beispielsweise Zwangssterilisationen an oder stuften Menschen als „asozial“ ein. Im Rahmen des Projekts konnten die Namen von über 300 Münsteraner:innen dokumentiert werden, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder aus sozialrassistischen Gründen verfolgt wurden. Zwei dieser auch online zugänglich gemachten Biografien stellten Erdmann und Hoffrogge vor. Die Forschungsergebnisse sollen unter anderem durch eine multiperspektivisch gestaltete Handreichung für Lehrkräfte an Schüler:innen vermittelt werden.

In der interfamiliären Tradierung der NS-Familiengeschichte lassen sich genderspezifische Dynamiken aufzeigen, argumentierte IRIS WACHSMUTH (Berlin) im vierten Panel der Tagung. Derartige Tradierungsdynamiken stellen in der Forschung noch oft Desiderate dar, obwohl sich, so Wachsmuth, eine enge Verflechtung familienhistorischer Narrative mit geschlechterspezifischen Aspekten nachweisen lässt: Zwischen Müttern und Töchtern sowie Vätern und Söhnen existieren spezifische Identifikations-, Projektions- und Abgrenzungsverhältnisse, die im Rahmen der jeweiligen Sozialisation den Umgang mit Erinnern und Vergessen, aber auch biografische Handlungsweisen („Familienaufträge“) prägen: Je nach Zusammenhang zwischen eigener Identitätsbildung und Verhältnis zu Familienmitgliedern kommt es eher zu Abgrenzungs- oder Annäherungsprozessen in Bezug auf die Taten der Vorfahr:innen. Auch lebenslange Loyalitätsbindungen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die NS-Familiengeschichte habe, so Wachsmuth abschließend, zudem großes Potential für eine Anwendung im pädagogischen Bereich.

JULIA NOAH MUNIER (Stuttgart) untersuchte transnationale Gendertradierungen anhand sexualisierter Deutungsmuster von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus in Filmen. Sexualisierte Nazifiguren sind fester Bestandteil (audio-)visueller und literarischer Repräsentation des Nationalsozialismus. In der Nachkriegszeit waren dies zunächst sexuell deviante Vertreter:innen des Regimes, später vom NS-Regime sexuell ausgebeutete oder unterdrückte Personen. Munier demonstrierte dies anhand der Filme „Das Weiße Haus am Rhein“ (2021) und „Germania anno zero“ (1948). Diese filmische Darstellung sexualisierter Nazifiguren produziere Voyeurismus, Angst, aber auch Distanz – der Inhalt der Filme, also der Nationalsozialismus, erscheint als verboten und obszön. Den Zuschauenden wird in einer heteronormativen Gesellschaft diese sexuelle Devianz und Obszönität als Abgrenzungsmittel, als Mittel des „otherings“, angeboten.

In ihrem Tagungskommentar betonte JULIA PAULUS (Münster) die Relevanz eines geschlechterhistorischen Zugangs und einer intersektionalen Perspektive in der Geschichtswissenschaft. Sie hob das Potential der Alltagsgeschichte hervor: Intimität, Heimlichkeit und Zärtlichkeit, die nicht zuletzt aufgrund ihrer strikt heteronormativen Geschlechterordnung auch gewaltvoll sein konnten, gelte es als Räume der Gewalt, aber auch als emanzipatorische Räume, in denen sich Handlungsmacht entfalten könne, zu betrachten. Als privat konnotierte Themen unter genderhistorischer Brille zu betrachten, bedeute auch, gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit zu dekonstruieren. Schließlich war die heteronormative Ordnung ein Instrument des Nationalsozialismus, nicht-heteronormative Gemeinschaften hingegen bisweilen Räume des Widerstandes und der Selbstermächtigung. Paulus appellierte, Begrifflichkeiten wie sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt weiter zu schärfen und Raumstrukturen als Elemente des NS-Terrors wahrzunehmen. Auch in den Gesellschaften und Demokratien nach 1945 wurden sexuelle Deutungsmuster des Nationalsozialismus übernommen, was häufig die Leugnung von Leid und Ohnmacht hinsichtlich sexualisierter Gewalterfahrungen zur Folge hatte.

Die zweitägige internationale Tagung machte überaus deutlich, welche Potentiale die anfangs von Thomas Köhler als Desiderat markierten genderhistorischen Zugänge zu Nationalsozialismus und Holocaust bieten. Zahlreiche Tagungsbeiträge zu sexualisierter bzw. sexueller Gewalt, zu Intimität, Privatheit, Liebe und Sexualität boten intersektionale und transnationale Ansätze und demonstrierten das Potential der Kategorie Geschlecht für die NS-Forschung. Diese war während des Nationalsozialismus, in den Nachkriegsgesellschaften und bis in die Gegenwart hinein ein Instrument der gesellschaftlichen Normierung und verdient als solches die Aufmerksamkeit einer kritischen Geschichtswissenschaft und einer auf demokratischen Diskurs ausgerichteten Gedenkstättenlandschaft. Ein solches Aufmerken hat in Münster stattgefunden und es ist zu hoffen, dass die vielfältigen Impulse nachhaltig in der Fachdisziplin und die Vermittlungsarbeit Eingang finden und weiter an analytischer Bedeutung gewinnen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Thomas Köhler (Münster)

Keynote
Elizabeth Harvey (Nottingham): Geschlechterhistorische Zugänge zum Thema sexualisierter Erniedrigung und Gewalt während des Holocaust: Fragen, Kategorien, Quellen

Panel 1: Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen im Holocaust
Moderation: Isabel Heinemann (Bayreuth)

Marta Havryshko (Worcester, Massachusetts): War against Women’s bodies. Sexual violence during the Holocaust in Ukraine

Florian Zabransky (Bonn): Agency and Vulnerability: Conceptualising Male Jewish Intimacy during the Holocaust

Panel 2: Sexualisierte Ausbeutung als NS-Herrschaftspraxis
Moderation: Naomi Roth (Münster)

Sarah Frenking (Erfurt): „Frankreich. Zentrale des internationalen Mädchenhandels“. Prostitution, Mobilität und die polizeiliche Bekämpfung der ‚Unterwelt‘, 1933–1945

Robert Sommer (Berlin): Lagerbordelle. Sex-Zwangsarbeit als integraler Bestandteil der Geschichte der NS-Konzentrationslager

Gesprächsabend im Festsaal des Erbdrostenhofs

Begrüßung: Stefan Querl (Leiter des Geschichtsorts Villa ten Hompel)

Grußwort: Georg Lunemann (Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe)

Thomas Köhler (Münster) im Gespräch mit Elissa Mailänder (Paris): Liebe, Ehe, Sexualität: Eine Alltagsgeschichte der Intimität und Partnerschaft im Nationalsozialismus (1930–1950)

Panel 3: Kommunale Ausgrenzungspraktiken und die ‚verleugneten Verfolgten‘
Moderation: Karolin Baumann (Münster)

Verena Meier (Heidelberg): Intersektionale Perspektiven auf die Verfolgungspraktiken von Sinti:zze und Rom:nja bei der Magdeburger Kriminalpolizei und deren Nachwirkungen in der SBZ/DDR

Philipp Erdmann / Jan Matthias Hoffrogge (Münster): Münsters „vergessene“ Verfolgte in historischer Forschung und Bildung. Ein Projektbericht

Panel 4: Gendertradierungen – familiär, transgenerational, transnational
Moderation: Annina Hofferberth (Münster)

Iris Wachsmuth (Berlin): Doing gender in der Tradierungsforschung zum NS

Julia Noah Munier (Stuttgart): Sexualisierte Deutungsmuster von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus als erinnerungskulturelle Praktiken der Subjektivierung

Tagungskommentar
Julia Paulus (Münster)

Anmerkungen:
1 Thomas Köhler u.a. (Hrsg.), Polizei und Holocaust: Eine Generation Nach Christopher Brownings Ordinary Men, Paderborn 2023.
2 Doris L. Bergen, Sexual Violence in the Holocaust: Unique and Typical?, in: Dagmar Herzog (Hrsg.), The Holocaust in International Perspective: Lessons and Legacies, Vol. VII, Evanston 2006, S. 179–200.

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