Grenzen und Möglichkeiten zeitgeschichtlicher Erforschung sexualisierter Gewalt

Grenzen und Möglichkeiten zeitgeschichtlicher Erforschung sexualisierter Gewalt. Forschungsinteressen im Konflikt zwischen Archivrecht und Datenschutz

Organisatoren
Arbeitskreis Missbrauchsforschung in der Kommission für Zeitgeschichte e.V., Bonn
PLZ
97070
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.03.2024 -
Von
Martin Fischer, Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte, Universität Erfurt

Bei der in den vergangenen Jahren begonnenen Erforschung der sexualisierten Gewalt treten immer wieder Spannungen bei den in ihren Disziplinen unterschiedlichen und jeweils berechtigten Interessen von Forschung, Archivrecht und Datenschutz auf. Dabei stellt sich die Frage nach den rechtlichen Bedingungen für die Missbrauchsforschung. Die Diskussion um den Zugang und die Auswertung von Archivalien, insbesondere von Personalakten (Was darf und sollte eingesehen werden?) sowie die Dokumentation der Forschungsdaten (bspw. Zeitzeugeninterviews) spielen dabei eine bedeutende Rolle. Zudem müssen Aspekte der Veröffentlichung von Namen und Vorgängen gegeneinander abgewogen werden, die von den beteiligten Akteuren aus Wissenschaft und Archiven teils unterschiedlich bewertet werden. Nicht zuletzt unterliegt Archivgut, welches im Rahmen der Missbrauchsforschung (inkl. Rechtsgutachten) entsteht, einer besonderen Schutzwürdigkeit. Vor diesem Hintergrund lud der „Arbeitskreis Missbrauchsforschung der Kommission für Zeitgeschichte e.V.“ am 14. März 2024 zu einem Workshop an die Universität Würzburg, um Forschende, Datenschützer und Archivare zusammen ins Gespräch zu bringen.

Eröffnet wurde der Workshop mit einem Impulsvortrag von CHRISTIAN POKORNY (Bonn), der in seinem Beitrag darstellte, dass der Datenschutz die Forschung nicht einschränken, sondern den privilegierten Zugang zum Archivgut grundsätzlich ermöglichen soll. Die konkreten Forschungsfragen und -interessen würden von den Forscherinnen und Forschern definiert. Im Vorfeld des Forschungsvorhabens sollte zwischen Wissenschaftlern und Archivaren die Frage der Verantwortlichkeiten geklärt werden: im Blick auf die Einsicht personenbezogener Daten, den Umgang mit diesen Daten im Verlauf des Forschungsprozesses, die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse sowie die Frage der Verarbeitung und Nutzung für weitere Zwecke (ist hier beispielsweise bei einem Anschlussprojekt eine Zweckänderung zulässig). Beim Datenschutz seien die verschiedenen archivrechtlichen Bestimmungen (Archivgesetze der Länder, Bundesarchivgesetz, kirchliches Archivrecht) zu beachten. Im katholischen Kirchenrecht seien dies die Canones 486-491 des Codex Iuris Canonici. Unerlässlich sei die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die in Art. 89 (1) den Datenschutz in der Forschung regele und eine Privilegierung für Wissenschaft und Forschung festschreibe. Die Ausformung der Datenschutzgrundsätze für wissenschaftliche und historische Zwecke erfolge durch das Bundesdatenschutzgesetz in § 27: Betroffenenrechte und Forschungsinteresse müssten abgewogen und personenbezogene Merkmale anonymisiert sowie bei der Erhebung der Forschungsdaten gesondert abgespeichert werden. Zudem sei bei der Veröffentlichung der Ergebnisse eine Einwilligung der Betroffenen notwendig, es sei denn die Veröffentlichung sei für die zeitgeschichtliche Forschung unerlässlich – dies bedeute also einen Begründungsaufwand.

In einem zweiten Impulsvortrag sprach LUTZ RAPHAEL (Trier), der leitend an einer Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Trier beteiligt und Mitglied der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Trier ist, über das Spannungsverhältnis von Forschung und Datenschutz in der Missbrauchsforschung. Zunächst kritisierte er die vielfach vorzufindende Ausgangslage: So stehe einerseits bei vielen Archiven der Datenschutz nicht neben, sondern über den Rechten der Betroffenen; andererseits seien gleichzeitig die Forschenden mit der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit konfrontiert, aufzuklären und Licht in das Dunkel der Geschehnisse zu bringen. Der Datenschutz werde in der Auslegung oftmals als ein „Supergrundrecht“ interpretiert, was eine personenbezogene Forschung nahezu unmöglich mache. Zu beachten sei daher das europäische Datenschutzrecht, wonach Datenschutz und Personenschutz mit den Forschungsinteressen gleich zu behandeln seien. Es bestehe oftmals die Gefahr, dass in der Frage Einsichtnahme in die Akten oder nur Auskunftserteilung aus den Akten, die Einsichtnahme zum Ausnahmefall degradiert werde. Im Interesse der Forschungsfreiheit sei die Akteneinsicht jedoch notwendige Grundvoraussetzung jeder historischen Forschung. Nicht vor bzw. während des Forschungsprozesses, sondern erst bei der Veröffentlichung der Ergebnisse sei den Rechten der Täter und Betroffenen angemessen durch Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung Rechnung zu tragen. Eine weitere Gefahr sah Raphael in der Verweigerung des Zugangs zu oder gar der Löschung von bereits erhobenen Daten, etwa der im Rahmen von forensischen Gutachten von Beschuldigten aus den 2010er-Jahren oder auch aus den Plausibilitätsgesprächen mit Betroffenen für mögliche Entschädigungsleistungen der Bistümer. Diese seien inzwischen eine wichtige Quelle für die Missbrauchsforschung und sollten unbedingt archiviert und im Interesse der Forschung nutzbar werden. Letztlich ersparten sie auch eine Wiederbefragung der Betroffenen und verhinderten dadurch deren mögliche Retraumatisierung. Zudem würden Tagebücher von leitenden Persönlichkeiten des Bistums eine wichtige Quelle darstellen, da sie Auskunft über die Motive für deren Handeln geben können. Für eine zeithistorische Darstellung der Forschungsergebnisse könnte die Münsteraner Missbrauchsstudie als Orientierung dienen. Außerdem sprach sich Raphael dafür aus, aus datenschutzrechtlicher Sicht genau abzuwägen, wer als „Person der Zeitgeschichte“ gelten könne; Heimleiter und Schuldirektoren könnten durchaus hinzugezählt werden. Für die Zukunft bedürfe ein gemeinsames Vorgehen von Archivaren, Datenschützern und Forschenden. Für die langfristige Sicherung der erhobenen Forschungsdaten empfahl er die Archivierung (z.B. von Betroffenen-Interviews) an einem neutralen Ort (wie z.B. Bundesarchiv) anstatt eines kirchlichen Archivs.

Anstelle des erkrankten Referenten ANDREAS NESTL (München) wurde sein bereitgestellter Vortragstext in seinen wichtigsten Punkten in die Diskussion eingebracht. In der Regel unterliege Archivgut, das sexuellen Missbrauch zum Gegenstand habe, der Intimsphäre der betroffenen Tatopfer bzw. mitgeschädigten Zeugen, dies müsse auch nach Ablauf der Schutzfristen beachtet werden. Auch ein Täter habe ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte, dies gelte es zu beachten. Grundsätzlich erfolge aus Sicht des Archivars das Vorlegen der Akten unter strengen Auflagen, so seien die Namen von Tatopfern bei der Veröffentlichung zu anonymisieren, zudem könnten Angehörige eigene Rechte in Bezug auf die Veröffentlichung geltend machen.

Den vierten Impuls-Vortrag hielt JOHANNES MERZ (München) zur Rechtspraxis in den kirchlichen Archiven. Für kirchliche Archive würden verschiedene Rechtsgrundlagen gelten: Zum einen der Codex Iuris Canonici und diözesane Normen, dann die Kirchliche Archivordnung (KAO) sowie das Kirchliche Datenschutzgesetz (KDG) und die Personalaktenordnung (PAO). In der KAO beschreibt § 9 die Schutzfristen und § 10 die Verkürzung der Schutzfristen, über die der Ortsordinarius zu entscheiden hat. Für alle deutsche Diözesen ist die PAO seit 1. Januar 2022 einheitlich in Kraft. Der Umgang mancher Archive zu Beginn der Missbrauchsforschung in den 2010er-Jahren zeigte noch eine gewisse „Wildwest-Phase“, in der ohne Rücksicht auf datenschutzrechtliche Fragen Akten vorgelegt wurden. Zudem werde die in § 15,1 PAO normierte Vorschrift, der Einwilligung der Betroffenen durch manche diözesane Ausführungsbestimmung gesondert geregelt bzw. für bestimmte Fälle außer Kraft gesetzt. Eine Musterordnung zur Regelung von Einsichts- und Auskunftsrechten habe die Deutsche Bischofskonferenz inzwischen erlassen (vgl. Würzburger Diözesanblatt 169, 2023, Nr. 3 v. 21.3.2023). In der Praxis zeige sich, dass Schutzfristverkürzungen für die Wissenschaft möglich sind. Aber es gebe keine überdiözesan einheitliche Verfahrenspraxis. Die aus dem Jahr 2014 stammenden Empfehlungen der Kommission für Wissenschaft und Kultur der Deutschen Bischofskonferenz regelten die Umsetzung der Bestimmungen noch weitgehend im Anschluss an tradierte Verfahrensmuster. Es zeige sich daher ein unterschiedlicher Grad der Standardisierung, so dass die Schutzfristverkürzung immer noch einen Ausnahmecharakter habe.

Abschließend erfolgte mit den Referenten eine Podiumsdiskussion, die von MARTIN PUSCH (München) moderiert wurde. So wurde diskutiert, dass die Datenschutz-Grundverordnung nicht als Beschränkung des Forschungszugangs verstanden werden soll, sondern dass es als eine „Privilegierungsordnung“ verstanden werden kann. Archive müssten nur ihren vorhandenen Spielraum ausnutzen, auch unter Einbeziehung von Juristen, denn oftmals sei es nicht im juristischen Bewusstsein, dass die DSGVO der wissenschaftlichen Forschung Möglichkeiten eröffnet und garantiert. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Diskutanten war der Hinweis, von den Erfahrungen mit dem Stasi-Unterlagengesetz im Hinblick auf die zeithistorische Täterforschung und die Frage des Datenschutzes zu lernen: So wurden in früheren Jahren nur bereits geschwärzte Stasi-Akten vorgelegt, nach einer Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes erfolgen mittlerweile größere Freiheiten für die Forschung, so dass ungeschwärzte, Originalakten eingesehen werden können. Ein dritter Punkt war die Frage des Löschungssurrogats. Akten müssen trotz DSGVO-Löschungsgebot dem Archiv angeboten werden. Das Archiv könne dann sichern, die abgebende Stelle muss die Daten dann löschen. Kontroverse Diskussionen gibt es hierzu im kirchlichen Bereich, ob auch unrechtmäßig erhobene Daten unter das Löschungssurrogat fallen (z.B. Sicherungskopien). In den Schlussplädoyers wurde nochmal die Bedeutung des Datenschutzes, der die Forschungsfreiheit garantiert, betont. Voraussetzung dafür sei, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Archivare und Archivarinnen vorhandene Spielräume verantwortlich wahrnehmen und auch sichern. Zudem sprachen sich die Referenten dafür aus, den begonnenen Dialog fortzusetzen.

Konferenzübersicht:

Referenten:
Christian Pokorny, Behörde des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationssicherheit, Bonn
Lutz Raphael, Senior-Forschungsprofessor für Neuere und Neueste Geschichte Universität Trier, Vorsitzender des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands, Trier
Andreas Nestl, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München
Johannes Merz, Direktor von Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising, München

Moderation:
Martin Pusch, Kanzlei Westphal, München

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Deutsch
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