Jugend unter Verdacht. Junge Menschen als Problem im 18. und 19. Jahrhundert

Jugend unter Verdacht. Junge Menschen als Problem im 18. und 19. Jahrhundert

Organisatoren
DFG-Projekt „Jugendkriminalität in der ‚Sattelzeit‘“
PLZ
57072
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.03.2024 - 01.03.2024
Von
Michael Rocher, Department Erziehungswissenschaft, Universität Siegen

Jugend und junge Menschen dienen oftmals als Projektionsfläche für zahlreiche positive und/oder negative Zuschreibungen. Auf der Tagung wurde diskutiert, inwiefern Jugendliche zwischen 1750 und 1850 im Kontext sich sukzessive neu entwickelnder Institutionen und Wissensformen von Pädagogik, Anthropologie und Psychologie, aber auch z.B. der Kriminalpolitik und der Rettungshausbewegung, zu einem Objekt verschiedener Kontroll- und Bearbeitungsbestrebungen wurden.

Zur Einführung der Tagung, die vom DFG-geförderten Projekt „Jugendkriminalität in der ,Sattelzeit‘“ (Projektnummer: 449820027) durchgeführt wurde, stellte BERND DOLLINGER (Siegen) fest, dass es jugendliche Normverletzungen zu jeder Zeit in der Geschichte gegeben hat.1 Auch die Altersverteilung bei Eigentumsdelikten stellt sich wohl meist ähnlich dar: Die meisten Verbrechen begehen und begingen Jugendliche und junge Erwachsene, über 30-jährige stellten wesentlich geringere Prozentzahlen.2 Eine besonders aus der englischsprachigen Literatur stammende These lautet, dass sich um 1800 ein spezifisches Verständnis von Jugendkriminalität herausgebildet habe. Ein Ziel dieser Tagung war es, dem nachzuspüren sowie auch herauszuarbeiten, welche neuen erzieherischen Ansprüche an Jugend um 1800 geltend gemacht wurden.

Die Erziehung von Jugend verweist auf ein interdisziplinäres Feld, das auf der Tagung vielfältig aufgegriffen wurde. Auf die Disziplinierung der Prager Studenten in der Zeit des Vormärz ging etwa MIROSLAV VAŠIK (Prag) ein. Dabei fiel die Kontrolle der Studenten in Prag stärker aus als in Wien – diese erfolgte dennoch tendenziell aufgrund der Furcht vor devianten Verhaltensweisen der Studenten selbst, nicht wegen vermeintlicher politischer Betätigung im Sinne eines tschechischen Nationalismus. Zudem herrschten teilweise ungewöhnliche Vorstellungen vor, wie etwa die, mithilfe von Erbauungsreden auf die Disziplin der Studierenden einwirken zu können. Von einem anderen Beispiel, welches ebenfalls die Jugend aus „gutem Hause“ betraf, berichtete KATHRIN BERDELMANN (Berlin). Sie stellte ihre Forschungen zur am Ende des 18. Jahrhunderts am Pädagogium Regium (ein Internat für vermögende Familien auf dem Gelände der heutigen Franckeschen Stiftungen) etablierten Vierteljahrescensur vor. Darin wurden mit einer komplexen Systematik Beurteilungen einzelner Schüler vorgenommen, die ein facettenreiches Bild der individuellen Eigenheiten der jeweiligen Schüler zeichneten. Hauptkategorien der Abweichung vom pädagogischen Plan der Schulleitung waren „Unnatürlichkeit“ sowie „gesetzwidriges“ Verhalten der Schüler. Diese umfangreichen internen Beobachtungen und Versuche des Einwirkens in Richtung einer Verhaltensänderung wurden jedoch auf den Abschlussempfehlungen nicht vermerkt.

Auf Debatten um das Alter beim Verlassen der Schule bezüglich des niederen Schulwesens in der Kurmark am Anfang des 19. Jahrhunderts ging JOACHIM SCHOLZ (Bochum) ein. Dazu findet sich ein umfangreicher Quellenbestand im Brandenburger Landeshauptarchiv, auf dessen Grundlage die Debatte um die normative Regelung des Alters nachverfolgt werden kann. Der Oberkonsistorial- und Schulrat Bernhard Christoph Ludwig Natorp (1774–1846) führte diese mit zahlreichen Predigern und Schulmeistern der Kurmark. Der Kernpunkt war, ob Schüler:innen noch nach ihrer Konfirmation in die Schule gehen sollten, wobei es auch um ihre weitere Erziehung und Disziplinierung ging. In diesem Zeitraum zeigte sich aber noch keine nachhaltige Abkopplung von der Konfirmation und damit einhergehender Beendigung der Schulzeit – argumentativ wurde eine solche Abkoppelung allerdings weiterhin von Natorp und anderen befürwortet. Einzig im Falle einer späteren Konfirmation mit 15 Jahren wurde geregelt, dass dann Schulgeldzahlungen im Falle von Armut weiter übernommen wurden. HENDRIK HOLZMÜLLER (Münster) warf am Beispiel des Amsterdamer Waisenhaus und den dort festgesetzten Mädchen und jüngeren Frauen einen Blick auf damalige – und selbst gegenwärtig noch benutzte – stigmatisierende Zuschreibungen der Insassinnen. Anhand des Berichts eines Besuches der späteren preußischen Königin Luise von Mecklenburg-Strelitz (1776–1810), die wie andere zeitgenössische Besucher:innen die dortigen Frauen geradezu „vertierlicht“, ging er auf die einseitige Rezeption ein, in der bis heute kaum eine kritische Hinterfragung der Quellen erfolgt ist. Er zeichnete anhand der allerdings nur für begrenzte Zeiträume überlieferten Akten das Leben einiger Frauen nach, die wiederholt in das Zuchthaus eingewiesen wurden, auch aufgrund ihrer dort erfolgten Kriminalisierung und Stigmatisierung.

Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive analysierte MANUEL STÜBBECKE (Bückeburg), wie Kinder in den Grimmschen und späteren Märchensammlungen zur Ordnung gerufen wurden. Er ging dabei auf die Entwicklung des Niederschreibens der Märchen und mögliche Ziele der Autoren ein.

Erziehung durch Strafe war historisch stets auch ein Grundgedanke des Rechts. KARL HÄRTER (Darmstadt) stellte anhand der Policey im Kurfürstentum Mainz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anschaulich dar, in welchen Themenfeldern Jugend besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Gemäß der von ihm ausgewerteten Quellen waren 6,8 Prozent aller Verurteilten im Kurfürstentum zwischen 9 und 20 Jahren alt. Neben dem Alter ließ sich aber ein wesentlicher Unterschied zwischen Ober- und Unterschicht ausmachen. Bei Kindern aus „besseren“ Häusern wurde auf die Kontrolle der Eltern, der Kirche und gegebenenfalls auf den Schulmeister vertraut. Während die Unzucht, ein klassischerweise Mädchen und unverheirateten jungen Frauen zugeschriebenes Delikt, durch die Policey ab Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend entstigmatisiert wurde, verschärfte man die Maßnahmen gegen junge Vaganten. Hier war wie bei vielen Delikten ein Unterschied zwischen Landeskindern und Auswärtigen prägend. Junge inländische Vaganten wurden eher in Zucht-, Arbeitshäusern oder Festungshaft zur Arbeit „erzogen“. Ausländische Vaganten wurden entweder des Landes verwiesen oder in den inländischen Anstalten härter bestraft als die inländischen Vaganten. Besonders in diesem Feld der Vaganten lassen sich Altersdifferenzierungen in den Normen finden: eine Gruppe unter 10 Jahren, auf die stärker schulisch-erzieherisch eingewirkt werden sollte, sowie Gruppen von 10 bis 14 und von 14 bis 20 Jahren, auf die verstärkt mit Strafe und Haft reagiert wurde.

MICHAEL ROCHER (Siegen) präsentierte einige Ergebnisse des Siegener DFG-Projekts. Er stellte dabei präventive Logiken vor, die sich bezüglich der preußischen Policey bis Anfang des 19. Jahrhunderts erkennen lassen. Zentral ist dabei die Zuschreibung von jugendlicher Devianz. Bereits in der preußischen Policey (am Beispiel der Mark Brandenburg und dem Herzogtum Kleve-Mark) wurden Jugendliche selten direkt adressiert und die Zuschreibung einer spezifischen Alters-Problematik erfolgte vorrangig indirekt. Während jugendliche Ausschweifungen oder Sachbeschädigungen als gegeben dargestellt wurden und die Zuschreibung als deviant nur indirekt erfolgte, adressierte die Policey den jeweiligen Kontrollverbund direkt (also Hausvorsteher, Eltern, Schulmeister oder Vorgesetzte), da er die Jugend besser beaufsichtigen müsse. Sanktionen wurden zwar auch den Jugendlichen selbst angedroht, aber ebenso ihrem erwachsenen Umfeld, das seine Aufsichtspflichten verletzte. Diesen Anspruch steigerte das preußische Kultusministerium in den 1820er-Jahren, indem es nun sämtliche Quellen, die zu künftigen jugendlichen Verbrechen führten, zu „verstopfen“ trachtete. Dabei sind interne Memoria aus dem Ministerium an die Konsistorien und Schulcollegien überliefert, die Listen über Kinder führen sollten, die früher oder später sowieso, aufgrund ihres familiären Umfeldes, dem Kriminal-Gericht vorgeführt würden.

Der Vortrag von KIRA KEßLER (Siegen) beleuchtete die Erhebungen des preußischen Kultusministeriums zur Jugendkriminalität von 1826–1849, die sowohl einen Einblick in die Verwaltungsprozesse zwischen Zentral-, Provinzial- sowie Unterbehörden als auch in das zeitgenössische Jugendbild und den Umgang mit delinquenter Jugend liefern. Sie kontextualisierte die Maßnahme mit anderen statistischen Erhebungen des 19. Jahrhunderts wie die Hardenberg-Hoffmann’sche Umfrage 1817 oder der unmittelbar vorgehenden Initiative Altensteins zur Erfassung der Kinderarbeit 1824/25. Anschließend stellte sie die Entstehung der Listen in den Regierungsbezirken Arnsberg und Düsseldorf vor, für die mit dem Vorhaben des Kultusministeriums nicht nur ein enormer Mehraufwand, sondern auch eine erhöhte Kontrolle durch die Zentralbehörde einherging. Nach einem kurzen Ausblick auf die zeitgenössische Rezeption der Erhebung, die beispielsweise vom Direktor des statischen Bureaus Johann Gottfried Hoffman sehr kritisch ausfiel, präsentierte die Vortragende erste statistische Auswertungen der Listen, die im Rahmen des Siegener DFG-Projekts entstanden sind. Die Auswertung am Beispiel des Regierungsbezirks Arnsberg zeigt, dass Diebstahl das vorherrschende Verbrechen darstellte und dass die Strafen sowie etwaige Besserungsmaßnahmen von vielen Differenzkategorien wie Geschlecht, Charakter, Stigmatisierung oder Alter abhängig waren.

Insgesamt konnte das vielschichtige Feld historischer Formen und Reaktionsmuster auf jugendliche Devianz im Rahmen der Tagung umfassend beleuchtet werden. Dabei wurde deutlich, wie mehrdimensional sich Erziehung und die soziale Kontrolle von Jugend darstellen konnten und wie unterschiedlich dem in Verwaltungsapparaten, der Justiz, dem Bildungs- und Armenwesen und gesellschaftlichen Diskursen begegnet wurde.

Konferenzübersicht:

Differenzierungen von Jugend

Ankommen und Begrüßung
Bernd Dollinger (Siegen)

Karl Härter (Darmstadt): Junge Menschen im Strafrecht Mitteleuropas während der Sattelzeit: Justiz- und Strafpraxis, juridische Diskurse und populäre Medien

Miroslav Vašík (Prag): Studenten im Prager Vormärz

Joachim Scholz (Bochum): Schulkindheit um 1800. Positionen zu Schulpflicht, Einschulung und Schulentlassung im Elementarschulwesen Brandenburg-Preußens

Hendrik Holzmüller (Münster): "wo die Mädchen von schlechter Lebensführung festgehalten sind" - Niederlandereisende im Amsterdamer Spinnhaus

Be- und Verarbeitung von Jugend, jugendlicher Devianz und Herstellung Sozialer Kontrolle

Kathrin Berdelmann (Berlin): Der Blick ins "Innere". Schülerbeobachtung und -beurteilung als Normierungspraxis am Pädagogium Regium 1786–1800

Kira Keßler (Siegen): Gezählte Jugend. Die Erhebungen des preußischen Kultusministeriums (1825–1849)

Sebastian Engelmann (Karlsruhe): Jugend für Gott. Christian Heinrich Zellers pietistische Deutung von Jugend und ihre pädagogische Kontrolle [fiel wegen Krankheit kurzfristig aus]

Manuel Stübecke (Bückeburg): Zur Ordnung rufen mit Frau Holle und der Kornmutter - Grimm und Mannhardt im Diskurs zur Besserung der Jugend

Michael Rocher (Siegen): Jugend unter Verdacht. Präventive Logiken - Jugendliche Devianz und Jugendkriminalität in der Zeit um 1800

Abschluss

Anmerkungen:
1 Paul Griffiths, Juvenile Delinquency in Time, in: Pamela Cox/Heather Shore (Hrsg.), Becoming delinquent. British and European youth, 1650–1950, Aldershot 2002, S. 23–40.
2 Peter King, Crime and law in England, 1750–1840, Cambridge 2006.

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