Beyond Beuys. Wege zu einer Zeitgeschichte der Künste

Beyond Beuys. Wege zu einer Zeitgeschichte der Künste

Organisatoren
Paul Nolte / Marla Heid / Theresa Angenlahr, Freie Universität Berlin (Sonderforschungsbereich 1512 Intervenierende Künste)
Ausrichter
Sonderforschungsbereich 1512 Intervenierende Künste
Veranstaltungsort
Grunewaldstraße 34
Förderer
Deutsche Forschungsgemeinschaft
PLZ
12165
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
24.11.2023 - 24.11.2023
Von
Marla Heid, Freie Universität Berlin

Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1512 „Intervenierende Künste“ nutzt zur Beschreibung politisch-involvierter künstlerischer Praxis den Begriff der intervenierenden Künste. Unter diesem Leitkonzept werden Fragen nach neuen Formen der Gesellschaftlichkeit von Kunst und der künstlerischen Hervorbringungen von Gesellschaft erforscht. Das Teilprojekt A05 „Gegenöffentlichkeiten? Zur gesellschaftspolitischen Verortung intervenierender Künste im postideologischen Zeitalter (1970–2010)“ untersucht – insbesondere anhand von Beispielen der deutsch-deutschen Geschichte seit 1945 – die politisch-sozialen Umstände und die diskursiven Strukturen von künstlerischen Eingriffen in den bildenden Künsten und deren Wandel im Laufe der Zeit. Indessen sind die Künste, vornehmlich die bildenden Künste, in der Geschichtswissenschaft nur von nachrangiger Bedeutung, zumal in der Neuesten und Zeitgeschichte. Daran haben der Aufstieg der Kulturgeschichte und der Visual Turn wenig geändert. Als ein maßgeblicher Faktor gesellschaftlicher Dynamiken werden sie kaum betrachtet; sie erscheinen bestenfalls als Indikator von Entwicklungen oder bloß illustrativ. Die Gruppe 47 oder Joseph Beuys mögen eine Ausnahme sein – für die deutsche Geschichte seit 1945 spielen die Künste und die Kunstschaffenden kaum eine Rolle in den gängigen Erzählungen und Interpretationen. Der Workshop verfolgte deshalb das Ziel, Forschende in diesem vielversprechenden emerging field einer Zeitgeschichte der Künste zusammenzubringen.

In seinem Einführungsvortrag fragte PAUL NOLTE (Berlin) nach den Gründen für die Vernachlässigung der Künste nicht nur in der deutschen Zeitgeschichte nach 1945, auch in weiterer Perspektive: Für frühere Epochen, etwa für die Frühe Neuzeit, sei das Thema viel wichtiger und erst recht habe der Blick auf die bildenden Künste, aber auch auf Musik, Literatur, Design und anderes mehr für die Jahrzehnte um 1900 – einschließlich der Weimarer Republik – zentrale Bedeutung gewonnen. Das Deutungsparadigma von Avantgarden und krisenhaft radikalisierter Moderne (zum Beispiel Detlev Peukert) ist ohne die Künste gar nicht vorstellbar. Man müsse genauer ausloten, ob ähnliche Dynamiken für die Jahrzehnte nach 1945 nur übersehen worden seien – oder ob der Einfluss der Künste auf größere soziokulturelle und politische Prozesse in dieser Zeit tatsächlich geringer war. Die erhebliche Bedeutung von Kunst und Künstler:innen in den sozialen Bewegungen und im Aktivismus des frühen 21. Jahrhunderts verändert das in jüngster Zeit möglicherweise wieder. Gleichwohl, so Nolte, sei die Leerstelle in erster Linie historiographisch zu erklären – und deshalb durch veränderte Akzentsetzungen zu füllen, ähnlich wie die Bedeutung von Wissen und Wissenschaft für die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zuletzt eindrucksvoll herausgearbeitet wurde und inzwischen größere Deutungen der Epoche prägt.

ALEXANDRA AXTMANN (Karlsruhe) präsentierte im Kontext der Kunst der Nachkriegszeit das Œuvre des Hamburger Malers Harald Duwe (1926–1984). Duwe gehört zu den wenig bekannten und zumeist in die Museumsdepots verbannten Künstler:innen der Nachkriegszeit, die entgegen der vorherrschenden gegenstandslosen Abstraktion an einem kritischen Realismus in der Tradition der Realisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts festhielten. Als politisch aktiver Maler und SPD-Mitglied seit 1969 griff er politische Themen und Diskussionen seiner Zeit wie den Frankfurter Auschwitz-Prozess und die mangelnde Vergangenheitsbewältigung, die Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung, aber auch umweltpolitische Probleme wie Ölkatastrophen und fehlende Müllentsorgung auf. Die Analyse der Ausstellungsgeschichten und Rezeptionsverläufe, so Axtmann, könnte Aufschluss darüber geben, welche Rolle Harald Duwes Kunst als Faktor oder Indikator spielte.

Entlang der Neuhängung der Sammlung in der Hamburger Kunsthalle durch Harald Busch 1935, der darin integrierten Präsentation expressionistischer Werke sowie Werken des als jüdisch verfemten Max Liebermann und der Schließung der Ausstellung 1936 zeigte NEREIDA GYLLENSVÄRD (Hamburg), wie im Kontext der NS-Diskurse um eine politisch nutzbare „deutsche“ Kunst gerungen und deren Ausstellbarkeit zwischen Museen und Politik verhandelt wurde. Der Blick auf diesen kunstpolitischen Diskurs sollte einen Impuls für die Beschäftigung mit der Kunst ab 1945 setzen, da durch diesen Aushandlungsprozess innerhalb der Museen insbesondere dem seit 1937 meist als „entartet“ verfemten Expressionismus nach 1945 erneut intervenierende Kraft durch die Zuschreibung als nun anti-nationalsozialistische Kunst zukam, die ebenso in Gesellschaft und Politik ihren Widerhall fand.

FLORIAN KORN (Leipzig) richtete den Blick auf die künstlerischen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im geteilten Deutschland. Im Zentrum des Vortrags standen ausgewählte künstlerische Vergangenheitsverarbeitungen in der DDR sowie deren Rezeption in der Bundesrepublik. Im Verlauf der 1960er-Jahre setzten sich einige ostdeutsche Künstler:innen – jenseits des parteipolitisch propagierten Antifaschismus – mit der Shoah auseinander. Obwohl die entsprechenden Arbeiten oftmals in einem Spannungsverhältnis zum staatlichen Antifaschismus standen, lieferten Künstler:innen auf diese Weise kritische Impulse zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der DDR. Diese Interventionen wurden im Verlauf der 1970er-Jahre vereinzelt auch in privaten sowie kommunalen Galerien in der Bundesrepublik ausgestellt. Dabei erfuhren die Bilder in westdeutschen Zeitungen oftmals eine eindringliche Resonanz, die sich der erinnerungs- und kunstpolitischen Systemkonkurrenz zwischen beiden deutschen Staaten entzog. Kunst konnte demzufolge eine Brückenfunktion im deutsch-deutschen Erinnerungsdiskurs übernehmen.

THERESA ANGENLAHR (Berlin) zeichnete den Protest einer Gruppe Berliner Studierender und junger Kunstschaffender gegen die Deutsche Gesellschaft für bildende Kunst, den 1965 gegründeten ersten Kunstverein West-Berlins, nach und fragte, ob sich die Angriffe auf mehrere Ausstellungen des Vereins 1968/69 als Bildersturm fassen lassen. Der Bildersturm-Topos wird in der Kunstgeschichte für tätliche Angriffe auf Kunstwerke sowie im übertragenen Sinne auf Institutionen verwendet und hat in Abgrenzung zum Vandalismus immer ein konkretes Motiv. So können die rein verbalen Angriffe auf die Historienmalerei-Ausstellung „Le Salon Imaginaire“ laut Angenlahr als Bildersturm im übertragenen Sinne und die Beschädigung von Ausstellungsgut der „2. Weltausstellung Photographie“ als tätlicher Bildersturm begriffen werden. Als tieferliegende Motive dieser Angriffe identifizierte sie die Kritik der Gruppe an den Vergabepraktiken der hohen Fördersumme des Kunstvereins aus Lottomitteln sowie Vereinsstrukturen, die fördernden Mitgliedern kaum Beteiligungsmöglichkeiten boten. Verbale Störungsandrohungen gegen eine Andy-Warhol- sowie eine Josef-Albers-Ausstellung ließen sich hingegen nicht als Bildersturm charakterisieren, da sie sich explizit nicht gegen Ausstellungsinhalte richteten, sondern dazu dienten, der institutionellen Kritik am Kunstverein zusätzliches Gewicht zu verleihen.

Als Stadt, die sich als frei von Tradition und Geschichte begriff, sich entsprechend in öffentlichen Reden und Broschüren präsentierte und im Übrigen auch seitens der Presse in Reportagen, Radiofeatures oder Filmbeiträgen rezipiert und beschrieben wurde, setzte Wolfsburg auf vielfache Art und Weise darauf, über die Förderung der zeitgenössischen Kunst als "moderne" Stadt wahrgenommen zu werden. Ob bei der Gründung des Kunstvereins, der Schaffung des rasch auch überregional wahrgenommenen Kunstpreises, dem stringent betriebenen Aufbau einer städtischen Kunstsammlung oder dem Feld der Kunst im öffentlichen Raum – Kunst- und Kulturpolitik war in der "Wirtschaftswunderstadt" immer auch Imagepolitik. Dass diese nicht nur im lokalen Raum Wirkung zeigte, sondern auch die erhoffte überregionale Strahlkraft zu entfalten vermochte, zeigte ALEXANDER KRAUS (Wolfsburg) anhand dreier Kunstskandale aus den 1950er- und 1960er-Jahren, die er im Spannungsfeld von Stadtöffentlichkeit, demokratischer Teilhabe und Kultur- wie Imagepolitik verortete. Dabei kristallisierte sich heraus, welch aktiver und wirkmächtiger Akteur selbst eine damals noch mittelstädtische Kommune wie Wolfsburg im Feld der zeitgenössischen Kunst war. Eine Zeitgeschichte der Künste, so Kraus, könne schwerlich geschrieben werden, wenn der Fokus allein auf staatliche Kunstpreise, Großereignisse wie die documenta oder namhafte Museen gelegt werde.

„Abstraktion als Weltkunst“ – dieses Diktum Werner Haftmanns begleitete und bestimmte die Kunstgeschichtsschreibung für die westdeutsche Nachkriegskunst seit den 1950er-Jahren. Schon damals, jüngst aber in der Forschung deutlich verstärkt, hat sie allerdings eine kritische Hinterfragung erfahren. Nicht zuletzt auch, weil sie als künstlerische oder kunsthistorische Affirmation einer politischen Konfrontation diente. DOROTHEA SCHÖNE (Berlin) identifizierte relevante Akteur:innen und politische Interessen, die zu dieser Lesart der Kunstgeschichte geführt haben, benannte aber auch die Kritiker:innen und deren Herleitungen anderslautender Narrative. Sie formulierte die Arbeitsthese, dass spätestens Anfang der 1950er-Jahre ganz wesentlich auch ökonomische Interessen des Kunstmarktes, vor allem in Nordamerika, diese kunst- und kulturpolitisch dominierte Lesart forcierten.

Kunst und Pop werden nicht immer zusammengedacht, aber sie sollten es, so die Forderung von TOBIAS BECKER (Berlin). Andy Warhol war ein Popstar – dicht gefolgt von Joseph Beuys – und managte The Velvet Underground. Peter Blake entwarf für die Beatles das Cover für Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band. Yoko Ono hatte ihre Plastic Ono Band. Bob Dylan, David Bowie, Joni Mitchell und viele andere Popmusiker:innen griffen zum Pinsel oder zur Kamera. Der „Progressive Rock“ ist ohne Kunsthochschulen kaum denkbar. Dennoch werden Kunst und Pop als getrennte Systeme verstanden. Die Trennung nicht nur zwischen Kunst und Pop, sondern zwischen den Künsten ist allerdings Becker zufolge selbst künstlich und gehorcht eher akademischen Logiken der Trennung zwischen Musik-, Film-, Literatur-, Theater- und anderen Kunstwissenschaften. Wenn man jedoch nach Produktion und Konsumption, nach Personen, Räumen, Praktiken und Publikum frage, anstatt nach Genres, verschwänden solche Unterscheidungen schnell. Eine Zeitgeschichte der Künste täte deshalb gut daran, das Dazwischen, Graubereiche und Schnittmengen zu berücksichtigen.

Die Ambivalenz künstlerischer Aushandlungsprozesse zwischen Ost und West griff ANJA TACK (Potsdam) auf. In der DDR mussten sich die Künstler:innen permanent mit dem Versuch einer politischen Instrumentalisierung und mitunter restriktiven Interventionen in die Künste auseinandersetzen. In der Bundesrepublik hingegen korrespondierten die „Freiheit der Kunst“ und ein wachsender Kunstmarkt mit einem Ringen um eine sozialstaatliche Absicherung und finanzielle Förderung der Künstlerschaft. Anhand von Fallbeispielen untersuchte Tack das Spannungsfeld zwischen Künstler:innen und staatlichen Regulierungsversuchen in Ost und West sowie die sich nach 1989/90 ergebenden Perspektivwechsel.

TOM KOLTERMANN (Potsdam) adressierte den Umgang mit Politik und Popmusik in der Geschichtswissenschaft. In der Forschung bestehe weitgehende Einigkeit darüber, dass der politische Kern populärer Musik eher im Umgang mit ihr als in den Stücken selbst liegt. Aus diesem Grund würden Historiker:innen meist analysieren, auf welche Art und Weise Pop instrumentalisiert wird. Koltermann hinterfragte die Dogmen, die noch durch zahlreiche Arbeiten geistern würden, wie etwa: Staat und authentische Rockmusik sind unvereinbar – veranschaulicht an der Veranstaltungsreihe „Rock für den Frieden“, die in der DDR der 1980er-Jahre eine zeitweise durchaus erfolgreiche Versöhnung der Interessen von Parteiführung, Musiker:innen und Fans darstellte. Zukünftig sollten auch solche Politisierungsprozesse in den Blick genommen werden, bei denen nicht offensiv für revolutionäre Veränderungen geworben wurde. Dasselbe gilt für die in vielen Arbeiten immer noch prägende Distanz zu sogenannten Mainstream-Produkten. Marktgängigkeit sei zu oft suspekt und der Blick auf breitenwirksame Medien- und Unterhaltungsformate bleibe ausgesprochen selektiv.

In der abschließenden Diskussion wurden verschiedene, das Forschungsfeld erweiternde Perspektiven erörtert. Zum einen kam die Frage auf, inwiefern sich ähnliche Phänomene wie jene im Workshop beobachteten und diskutierten auch auf andere Künste, etwa die Literatur, übertragen ließen. Weiterhin wurde eine bislang mangelhafte Betrachtung weiblicher Kunstschaffender moniert und somit eine Zeitgeschichte der Künste unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten als Desiderat konstatiert. Mit Blick auf den zeitlichen Rahmen wurde festgehalten, dass es wünschenswert wäre, auch das Kunstgeschehen in der Zeit nach 1989/90 künftig geschichtswissenschaftlich genauer zu beleuchten. Schließlich ist darüber hinaus die Einbringung transnationaler und globalgeschichtlicher Perspektiven in die historische Erforschung der Künste wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Einführung

Paul Nolte (Berlin): Die Künste in der (deutschen) Zeitgeschichte seit 1945 – eine Leerstelle?

Marla Heid (Berlin / Wien): Der SFB 1512 "Intervenierende Künste“ und seine Perspektiven auf die Zeitgeschichte der Künste

Panel 1: Nationalsozialismus und Nachkrieg
Moderation: Paul Nolte (Berlin)

Alexandra Axtmann (Karlsruhe): Harald Duwe und der kritische Realismus der Nachkriegszeit

Nereida Gyllensvärd (Hamburg): Akteur, Instrument, Mitläufer? Die kulturpolitische Rolle der Hamburger Kunsthalle im Nationalsozialismus

Florian Korn (Leipzig): Bilder der Erinnerung im geteilten Deutschland

Panel 2: Politisierung und Entpolitisierung
Moderation: Marla Heid (Berlin / Wien)

Theresa Angenlahr (Berlin): Der studentische Protest gegen die Deutsche Gesellschaft für bildende Kunst − ein Bildersturm?

Alexander Kraus (Wolfsburg): Der unterschätzte Akteur. Kunst als kommunalpolitisches Handlungsfeld

Dorothea Schöne (Berlin): Die Entpolitisierung der Kunst – Zur offenen und versteckten Politik in der Kunst und Kunstgeschichtsschreibung nach 1945

Panel 3: Popkultur und Dissens, Ost und West
Moderation: Theresa Angenlahr (Berlin)

Tobias Becker (Berlin): Kunst = Pop, Pop = Kunst?

Anja Tack (Potsdam): Nach den Regeln der Kunst? Künstlerische Aushandlungsprozesse zwischen Affirmation und Subversion in Ost und West

Tom Koltermann (Potsdam): Rockmusik als offizielle Staatskultur in der DDR? Vom Umgang mit Pop und Politisierung in der zeithistorischen Forschung

Abschlussdiskussion

Redaktion
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Deutsch
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