Methoden und Quellen in der Gehörlosengeschichte

4. Tagung des DFG-Netzwerks Gehörlosengeschichte: Methoden und Quellen in der Gehörlosengeschichte

Organisatoren
Marion Schmidt, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Göttingen; Anja Werner, Forschungskolleg Transkulturelle Studien - Sammlung Perthes Gotha, Universität Erfurt; DFG Netzwerk Gehörlosengeschichte
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Fand statt
Digital
Vom - Bis
30.09.2022 -
Von
Paula Mund, Forschungskolleg Transkulturelle Studien - Sammlung Perthes Gotha, Universität Erfurt

„Wir sprechen hier von einer verlorenen Geschichte!“ Dieser Satz fiel während der vierten Tagung des DFG-Netzwerk Gehörlosengeschichte. Diese setzte die Diskussionen der vergangenen drei Workshops fort. Insbesondere stand die Frage im Vordergrund, wer eigentlich Gehörlosengeschichte schreiben soll und wessen Positionen allgemein repräsentiert werden.1 Forscher:innen der Deaf History verfolgen das Ziel die Geschichte von tauben Menschen zu sammeln, auszuwerten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Insbesondere soll auch die Deaf History in das Geschichtsbewusstsein der tauben und hörenden Menschen verankert werden.2 Der für 2024 geplante Sammelband und das Videoprojekt von Marion Schmidt und Anja Werner sind ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Besonderheit dieses Sammelbandes ist, dass es zu jeden dieser Beiträge ein kurzes Video in Gebärdensprache und mit Untertitel geben soll. So soll sichergestellt werden, dass der Sammelband auch gebärdensprachlich kommunizierenden Personen zugänglich ist.3

MARKUS SPÖHRER (Konstanz) präsentierte einen Beitrag über englischsprachige Kinderbücher und -comics über das Cochlea Implantat (CI) und taube Kinder. In seine ersten vorgestellten Beispiel ‚Kylie Gets a Cochlear Implant‘ 4 folgt diese, seiner Meinung nach, plakative Geschichte dem medizinischen Modell der Dis/abilities Studies in der jemand sein Gehör durch eine Krankheit oder ähnliches verliert und unglücklich sowie sozial exkludiert ist. Das CI wiederum steht für ein glückliches und soziales Leben. Im zweiten Beispiel ‚Let’s Hear it for Almigal‘ 5 findet eine differenziertere Darstellung des Hören mit CI statt. Allerdings werden bei beiden Comics der lange und mitunter auch schmerzhafte Prozess mit Operation, Anpassung des CIs und Reha nicht erwähnt. Es stellt eine undifferenzierte, schwarz-weiße und euphorische Darstellung des CIs dar. Das dritte und letzte Beispiel ‚El Deafo‘ ist im Gegensatz zu den beiden anderen Comics eine autobiografische Erzählung von Cece Bell. 6 Sie hat ihre persönlichen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend in einen Comic verarbeitet. Positiv hervorzuheben ist, dass hier auch der schleichende Verlust ihres Gehörs dargestellt wird. Zudem bekommt der oder die Leser:in durch die inneren Monologe einen guten Einblick in die Gedankenwelt der Hauptprotagonistin.7 Die anschließende Diskussion thematisierte die Funktion von Werbung und deren übertriebene Darstellung von Vorteilen sowie das bewusste Weglassen von Nachteilen. Zudem stellte sich die Frage nach der Perspektive der Gebärdensprache im Kontrast zum CI.

SYLIVIA WOLFF (Berlin) stellte eine historische Quelle von Franz Hermann Czech ‚Versinnlichte Denk- und Sprachlehre‘ von 1836/1844 vor. Nach einer ausführlichen zeitlichen und kontextuellen Einordnung der Quelle, präsentierte sie kurz die wesentlichen inhaltlichen Punkte des Buches: so die Gebärdensprache, das emotionale und kognitive Zusammenwirken sowie die verbalen und nonverbalen Zeichen. Nach Wolff verfolgte Czech mit seinem Werk das Ziel die Ausbildung von tauben und schwerhörigen Menschen voranzubringen. Dabei stellte seine ausführliche Vermittlung von Gebärden und Gebärdensprache sowie seine Entwicklung der Mimographie eine Besonderheit der damaligen Zeit dar.

Im Vergleich zur amerikanischen Deaf History ist die das Thema in Deutschland noch weitestgehend unerforscht und nicht institutionalisiert. Deswegen stellten sich den Moderatorinnen der Tagung folgende Fragen: Erstens, Gehörlosengeschichte wird in verschiedenen Disziplinen betrieben mit sehr unterschiedlichen Ansichten. Inwieweit bestimmt dies Methoden, Zugang zu Quellen? Inwieweit schränkt es Perspektiven und Austausch ein? Welche Quellen werden nicht oder zu wenig erforscht? Zweitens wurde die Frage nach einer Institutionalisierung der Deaf History gestellt und nach möglichen Kooperationspartner:innen gefragt. Drittens wurde über Einordnungen nachgedacht: Ist Gehörlosengeschichte im deutschsprachigen Raum gleichbedeutend mit der klassischen angloamerikanischen „Deaf History“? Welche Unterschiede gibt es, welche Auswirkungen hat das für die Forschung?

Die anschließende Diskussion befasste sich hauptsächlich mit der Beantwortung der ersten Leitfrage. Zum Beispiel wurde darauf aufmerksam gemacht, dass archivalische Quellen in den Provinzen noch relativ unerforscht sind. Des Weiteren wurde nachdrücklich bemerkt, dass damals auch schwerhörige Menschen zu den ‚taubstummen‘ Menschen zählten, wobei letzterer Begriff inzwischen tabuisiert ist. Die begriffliche Differenzierung, wie wir die heute kennen, wurde erst später vorgenommen. Folglich gestaltet es sich schwierig eine Kategorisierung vorheriger Zeiten vorzunehmen.

Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt war die Gebärdensprache. Die Etymologie und Herkunft einzelner Gebärden sind verloren gegangen, da kein Wörterbuch der Gebärden aus vergangenen Zeiten existiert. Das bedeutet, dass wir nicht rekonstruieren können, wie die Gebärden zu bestimmten Personengruppen in bestimmten Zeiten aussahen und welche Konnotation sie hatten. Es ist eine verlorene Geschichte, die zur Folge hat, dass taube Kinder ihre Geschichte kaum kennen, es ihnen somit schwer fällt eine Identität zu entwickeln und ihre Herkunft vermittelt zu bekommen. Außerdem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es einmal eine öffentliche geschriebene Geschichte und zum anderen eine mündliche überlieferte Geschichte in Gebärdensprache gibt. Erstere Überlieferung ist die, die überall in zumeist von hörenden Personen gestalteten Kontexten Eingang findet. Allerdings schließt das die Deaf Community aus, da die meisten tauben Menschen keinen Zugang zur niedergeschriebenen Geschichte haben und ihre Perspektiven unerwähnt bleiben. Zuletzt wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Linguistik keine anerkannte geschichtlich historische Sprachforschung als Grundlagenforschung gibt. Wie Marc Zaurov es in seiner Doktorarbeit verdeutlicht, wäre diese allerdings wichtig für die Arbeit mit historischem Material. Anja Werner liefert hier auch einen ersten Ansatzpunkt in ihrer Habilitationsschrift.8 für die Sektions kann das Fazit gezogen werden, dass es immer noch eine Diskrepanz zwischen der öffentlich-niedergeschriebenen Geschichte zumeist hörender Fachleute und der mündlich überlieferten Geschichte mittels Gebärdensprache innerhalb der Deaf Community gibt. Zudem sind viele Themenbereiche der Deaf History und Gehörlosengeschichte immer noch relativ unerforscht. Deswegen sind die Tagungen des DFG-Netzwerk Gehörlosengeschichte so bedeutsam.

DIANA PRELLER (Leipzig) stellte die Bibliothek für Hör- und Sprachgeschädigtenwesen in Leipzig vor. Diese stellt im deutschsprachigen Raum nach Einschätzung von Fachleuten die umfangreichste Sammelstätte auf diesem Gebiet dar. Die Bibliothek, ursprünglich als Museum gegründet, ist an der heutigen Landesschule mit dem Förderschwerpunkt Hören Förderzentrum Samuel Heinicke angeschlossen. Die oberste Etage der Bibliothek wurde nach einen Bombenangriff 1943 komplett zerstört. Es konnten nur 350 seltene und wertvolle Schriften, wenige Bilder und Kunstsammlungen, die ausgelagert waren, gerettet werden. 1950 wurde die Bibliothek unter der Leitung von Herbert Härtel (1908-1993) wieder aufgebaut. Mithilfe verschiedener Verlage aus dem In- und Ausland, Spenden von Schulen und Universitäten und der Hilfe von Wissenschaftler:innen sowie Gehörlosenverbänden konnte der Bestand der Bibliothek wieder vervollständigt und aktualisiert werden. Durch die Angliederung 1968 an die pädagogische Zentralbibliothek in Berlin konnte eine fachliche Sicherstellung der Bibliothek gewährleistet werden. Das hatte auch zur Folge, dass es neben einer fachlichen Anleitung, finanzielle Mittel zur Verfügung standen, um Bücher aus dem Ausland zu erwerben. Bis 2003 wurde die Bibliothek ausschließlich ehrenamtlich von Lehrer:innen der Landesschule mit dem Förderschwerpunkt Hören Förderzentrum Samuel Heinicke verwaltet. Doch der Arbeitsaufwand war für sie zu groß, weswegen sie seitdem Diana Preller als Bibliothekarin unterstützt. Im Laufe der Jahre stand der Fortbestand der Bibliothek immer mal wieder in Frage. Bis sie 2003 dann fest in die Förderstätte der Landesschule mit dem Förderschwerpunkt Hören Förderzentrum Samuel Heinicke integriert wurde.9

Des Weiteren berichtete Preller, dass in der Bibliothek Literatur aus verschiedenen Fachgebieten zu finden sind, z.B. aus der Audiologie, der Genetik, der Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik, der Hörgeräteakustik, und der Psychologie der Hör- und Sprachgeschädigten. Insgesamt umfasst die Bibliothek 3.400 Medien, wie Bücher, Zeitschriften, CDs, DVDs etc. Aber auch Handschriften bedeutsamer Persönlichkeiten, Abhandlungen, eine Kunstsammlung sowie eine Sondersammlung von Literatur, die von Personen mit einer Hörbeeinträchtigung verfasst wurden oder in der sie als Akteur:innen selbst vorkommen, sind in der Bibliothek zu finden. 10

Zum Abschluss der Tagung referierte SEBASTIAN SCHLINGHEIDER (Berlin) über den Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands e.V. (ReGeDe) in der Weimarer Republik. Schlingheider erläuterte die zwei wichtigsten Gründe für die Gründung des ReGeDe in der Weimarer Republik. Als ersten Grund führte er die Differenzierung von ‚taub geboren‘ oder ‚als Folge von dem Ersten Weltkrieg ertaubt‘ an. Diese Unterscheidung sorgte für eine Spaltung innerhalb der Menschen mit Hörbeeinträchtigungen, da sie vor dem Staat nicht gleichgestellt waren. Menschen, die als Folge des Ersten Weltkrieges ertaubten, erhielten Anerkennung und Entschädigungsleistungen, während die Menschen, die von Geburt an taub waren, als ‚minderwertig‘ angesehen wurden. Als zweiten Grund für die Gründung des ReGeDe diskutierte Schlingheider die Lex-Zwickau. Dieser Gesetzesvorschlag ging von einem Arzt aus und zielte darauf ab Kinder mit angeborener Taubheit, Blindheit und anderen Behinderungen zu sterilisieren. Das Ziel war die Dezimierung von Menschen mit Behinderungen. Betroffene, die sich weigerten, durften nicht heiraten. Gegen diesen Vorschlag protestierten viele Betroffene und deren Unterstützer:innen und wiesen darauf hin, dass Taubheit nicht vererbt wird.

Aus diesen beiden genannten Gründen ließ sich erahnen, dass eine Interessensvertretung der gehörlosen Menschen notwendig war, sodass 1927 bei einer Tagung mit gehörlosen und hörenden Menschen der Reichsverband der Gehörlosen gegründet wurde. Des Weiteren erläuterte Schlingheider die Konflikte des Reichsverbandes unter der Führung eines der ersten Gründungsmitglieder Fritz Albreghs, der eine rassistische und antisemitische Einstellung besaß. Zudem erörterte er die Attraktivität des Nationalsozialismus für Gehörlose und deren Unterstützung der der Nationalsozialisten durch den Reichsbverband.11 Abschließend resümierte Schlingheider die Tragik der Geschichte des Reichsverbandes in der Weimarer Republik. Einerseits habe der gehörlose Albreghs den Reichsverband mitgründet. Dieser habe mit seiner Art und seinem Verhalten jedoch für eine Spaltung innerhalb der gehörlosen Menschen gesorgt. Auf der anderen Seite hätten andere Protagonisten wie z.B. Willi Ballier einiges zum Positiven bewirken können, wenn nicht Krisenerscheinungen wie Massenarbeitslosigkeit, dessen Arbeit erschwerten. Die abschließende Diskussion thematisierte die massive antisemitische Hetze, die auch in der damaligen Gehörlosenzeitung ihren Widerhall fand.

Wie auch die drei vorangegangenen Tagungen des DFG-Netzwerks Gehörlosengeschichte verdeutlicht haben, besteht interdisziplinäres Forschungsinteresse an der Deaf History, auch wenn diese in Deutschland im Vergleich zu den USA noch relativ am Anfang steht. Neben dem Zugang zu Quellen steht auch die Methodik im Vordergrund, denn die unterschiedlichen Fachrichtungen bringen ihre diversen Arbeitsmethoden mit. Als Ausblick für zukünftige Forschungen kann festgestellt werden, dass insbesondere die Aufarbeitung der Perspektive der tauben und schwerhörigen Menschen wichtig ist und weiter vorangetrieben werden muss. Es lassen sich dort Diskrepanzen zwischen der niedergeschrieben öffentlichen Geschichte und den Perspektiven tauber sowie schwerhöriger Menschen finden.

Konferenzübersicht:

Markus Spöhrer (Konstanz): Taubheit im Graphic Novel El Deafo

Sylvia Wolff (Berlin): Franz Hermann Czech „Versinnlichte Denk- und Sprachlehre“

Diana Preller (Leipzig): Virtuelle Einführung in die Spezialbibliothek Gehörlosenwesen Leipzig

Diskussion zu Methoden, Quellen und neuen Herangehensweisen an „Deaf History“ im deutschsprachigen Raum

Sebastian Schlingheider (Berlin): Der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands e. V. in der Weimarer Republik

Anmerkungen:
1 Vera Blaser, Gehörlosengeschichte als Community History. Herausforderungen und neue Ansätze im (Wissens-)Austausch zwischen Wissenschaft und Stakeholdern, In: H-Soz-Kult, 16.11.2021, URL: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127702 (08.11.2022).
2 Helmut Vogel, Deaf History. Einführung, URL: http://www.deafhistorynow.de/zur-deaf-history.html (08.11.2022).
3 2019 erschien der erste Sammelband von Marion Schmidt und Anja Werner. Marion Schmidt u.a. (Hrsg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2019.
4 C. Marilyn Rose, Kylie Gets a Cochlear Implant, Houston 2013.
5 Wendy Kupfer, Let’s Hear it for Almigal, Boynton Beach 2012.
6 Cece Bell, El Deafo, New York 2014.
7 Mehr dazu in: Anna Grebe u.a.: Popular Narratives of the Cochlear Implant, In: Arno Görgen u.a. (Hrsg.): Handbook of Popular Culture and Biomedicine. Knowledge in the Life Sciences as Cultural Artefact, Wiesbaden 2019, S. 229-243; Markus Spöhrer, Bilder der gelungenen Kommunikation“: Das Cochlea-Implantat in sozialen und medizinischen Denkkollektiven, in: Das Zeichen 95 (2013), S. 382–389.
8 Anja Werner, Deaf History als Wissenschaftsgeschichte: Internationale Wandlungsprozesse von Fachdiskursen über Taubheit unter besonderer Berücksichtigung der Perspektiven tauber und hörender Akteur:innen im geteilten Deutschland, 1945–2002, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Universität Erfurt 2022.
9 Reinhard Müller, Steckbrief einer Spezialbibliothek. Die Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigtenwesen in Leipzig, in: Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen, Nr. 1 (2011), S. 50–52.
10 Landesschule mit dem Förderschwerpunkt Hören Förderzentrum Samuel Heinicke: https://www.landesschule-fuer-hoergeschaedigte.sachsen.de/209.htm (23.11.2022).
11 Sebastian Schlingheider, Auch wir sind Volksgenossen!“ Der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (1927–1943), unveröffentlichte Masterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 2021.

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