Programmierter Sieg? Vermeidbare Niederlage? Verlauf und Ausgang des Zweiten Weltkrieges im Spiegel struktur- und handlungsorientierter Erklaerungen. Jahrestagung des Deutschen Komitees fuer die Geschichte des Zweiten Weltkrieges am 23. und 24. Juni 2000.

Ein Tagungsbericht von Matthias Reiss

War der Zweite Weltkrieg ein "offenes Rennen" oder war sein Ausgang durch strukturelle Unterschiede hinsichtlich politischer Kultur, Ideologie sowie durch Disparitaeten in der Verteilung der menschlichen und materiellen Ressourcen vorentschieden? Ueber welche Handlungsspielraeume und -optionen verfuegten die beteiligten Grossmaechte, und warum waren sie in deren Nutzung derart unterschiedlich erfolgreich?

Um diese Grundsatzfragen der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges drehte sich am 23. und 24. Juni 2000 der Workshop des Deutschen Komitees fuer die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der zum zweiten Mal nach 1998 an der Universitaet der Bundeswehr Hamburg stattfand. Angestossen wurde die Diskussion durch Richard Overys Buch Why the Allies Won, das nun auch in deutscher Uebersetzung vorliegt. Nach einer Begruessung durch den Vizepraesidenten der Universitaet, Herrn Eckardt Optiz, leitete Bernd Wegner (Hamburg) das Werkstattgespraech mit einem kurzen historiographischen Abriss ein. In der deutschen Forschung habe sich waehrend der letzten zwei Jahrzehnte tendenziell ein Konsens dahingehend herausgebildet, dass Strukturen den Ausgang des Krieges vorentschieden haetten, waehrend Overy den waehrend des Krieges getroffenen Entscheidungen groesseres Gewicht einraeume.

Beide Ansaetze, so hob Wegner hervor, seien gegenlaeufig, jedoch nicht unvereinbar. Richard Overy (London) eroeffnete danach die Reihe der Vortragenden und kritisierte anhand von drei Punkten die verbreitete Tendenz, den Ausgang des Zweiten Weltkriegs durch die ueberwaeltigende materielle Ueberlegenheit der alliierten Seite zu erklaeren. Erstens werde oft vernachlaessigt, dass es Zeiten gab, in den Deutschland seinen Gegnern materiell ueberlegen war, und dass sich das materielle Verhaeltnis erst im Verlauf des Krieges veraenderte. Zudem werde zuwenig Aufmerksamkeit auf die Frage verwandt, wie die jeweiligen Ressourcen fuer die Kriegsfuehrung eingesetzt wurden oder welche vielfaeltigen strukturellen Defizite die Wirtschaft auf beiden Seiten behinderten. Zweitens beachte eine solche Erklaerung zuwenig die Bedeutung militaerischer Effizienz, besonders im taktischen Bereich, wo kleine aber wichtige Reformen den Ausgang erheblich mit beeinflussen koennten. Drittens koenne der Ausgang eines totalen Krieges nicht ohne Beachtung der moralischen Dimension verstanden werden. Was die Menschen dazu bewegt weiterzukaempfen, habe jedoch selten etwas mit dem wirtschaftlichen Potential zu tun. Die Achsenmaechte litten Overy zufolge in dieser Beziehung unter einem "moralischen Defizit"; sie waren die Aggressoren, und ihre Bevoelkerungen waren vergleichsweise weniger geneigt, bis zum Ende zu kaempfen.

Unabhaengig vom Zugang zu kriegswichtigen Ressourcen betonte Overy weitere wichtige Unterschiede zwischen beiden Seiten. Der offensichtlichste sei der zwischen ueberwiegend zivil orientierten und ueberwiegend militaristisch orientierten Gesellschaften. Unter den Bedingungen der totalen Mobilisierung erwiesen sich die letzteren als weniger effektiv bei der Nutzung ihrer vorhandenen Ressourcen. Die traditionell von militaerischen und buerokratischen Strukturen gepraegten Staaten haetten im Gegensatz zu den Alliierten auch geringere Faehigkeiten zur Improvisation gezeigt. In der UdSSR war die Improvisation eine Notwendigkeit, in Grossbritannien und den USA eine demokratische Angewohnheit.

In Deutschland sei dagegen der Hoehepunkt der Produktion erst erreicht worden, als das Land durch den Bombenkrieg zu einer flexibleren Kriegsanstrengungen gezwungen wurde. Schliesslich habe die Relation von militaerischem Personal zu militaerischem Kapital die Alliierten beguenstigt. Grossbritannien und die USA haetten beide, anstatt grosse Armeen zu mobilisieren, sich auf kapitalintensive Formen der Kriegsfuehrung (strategischer Bombenkrieg, Seekrieg) konzentriert, die ihrer wirtschaftlichen Staerke sowie den Erwartungen ihrer Bevoelkerungen entsprachen. Dies alles habe die Niederlage der Achsenmaechte jedoch nicht unvermeidlich gemacht, betonte Overy. Der Erfolg der Alliierten gegen die hocheffektiven Militaermaschinerien Japans und Deutschlands koenne nicht als selbstverstaendlich hingenommen werden. Die Achsenstaaten verloren nicht einfach den Krieg; die Alliierten mussten ihn erst gewinnen.

Fuer Grossbritannien, so betonte Lothar Kettenacker (London) im Anschluss, sei der Krieg gegen Hitler eine Frage der Selbstachtung und nicht der materiellen Interessen gewesen. Der Krieg sei von Anbeginn als bellum justum konzipiert gewesen. In London habe man sich ganz bewusst auf einen Abnutzungskrieg eingestellt, alle "Friedensinitiativen" Hitlers abgewehrt und auch schon frueh beschlossen, die eigenen Kriegsziele nicht zu praezisieren. An diesen entscheidenden Weichenstellungen habe sich auch mit der Regierungsuebernahme durch Churchill nichts geaendert, der es erst recht verstanden habe, in der Stunde der aeussersten Bedraengnis die moralischen Instinkte der Nation zu mobilisieren. Gerade weil Churchill in scheinbar aussichtsloser Lage auf Sieg setzte, sei er sich bewusst gewesen, dass der Krieg ohne Verbuendete nicht zu gewinnen war. Seine Regierung habe sich in der Folgezeit als die Zentralagentur einer im Entstehen begriffenen "Grand Alliance" gegen das NS-Regime verstanden.

In dieser Funktion hatte Grossbritannien Kettenacker zufolge entscheidenden Anteil an der Ausdehnung des europaeischen Krieges zum Weltkrieg, indem es durch die gemeinsame Kriegfuehrung mit Washington (CCS) und das Buendnis mit Moskau seit Mai 1942 die Bruecke zwischen den USA und der Sowjetunion bildete. Damit sei die Niederlage der Wehrmacht vorprogrammiert gewesen. Schon von Mitte 1942 liess sich die britische Regierung als erste Macht der Anti-Hitler-Koalition die Modalitaeten fuer die voelkerrechtliche Beendigung des Allianzkrieges angelegen sein. Der eigentliche Anteil Grossbritanniens am Sieg ueber Hitler lag Kettenacker zufolge weniger im Aufgebot grosser materiellen Ressourcen (wie im Fall der USA) oder grosser "manpower" (wie im Fall der UdSSR), als vielmehr im moralischen Widerstandswillen und in der Allianzdiplomatie.

Bernd Greiner (Hamburg) betonte in seinem Vortrag, dass keine Gesellschaft in den 30er Jahren politisch, wirtschaftlich, militaerisch und moralisch so wenig auf einen Krieg, geschweige denn einen "totalen Krieg", vorbereitet gewesen sei wie die USA. Hierfuer fuehrte er drei wesentliche Gruende an: den tief in der Gesellschaft verankerten politischen Isolationismus, den traditionellen Antimilitarismus der amerikanischen Gesellschaft; der sich in der Zwischenkriegszeit in niedrigen Ruestungsausgaben ausdrueckte und zu einer Demotivierung und einer Krise im professionellen Selbstverstaendnis der Streitkraefte fuehrte; sowie die innenpolitische Schwaeche der U.S.-Regierung, die fuer die Verschaerfung der wirtschaftlichen Depression 1937/38 verantwortlich gemacht wurde. Dennoch haetten wenige Jahre ausgereicht, um die USA zu einer militaerischen Supermacht werden zu lassen. Dahinter stand nach Greiner ein gesellschaftlicher Transformationsprozess, eine wie in einem Treibhaus verdichtete Veraenderung aller Bereiche gesellschaftlichen und privaten Lebens, die er anhand von zwoelf Thesen diskutierte, darunter Ausfuehrungen zu Roosevelts "charismatischer Fuehrung", zur Integration durch Selbstbeteiligung, zur besonderen Rolle wirtschaftlicher Eliten und zur Rekrutierung einer Generation militaerischer Fuehrungskraefte, die als Manager und Logistiker entscheidende Qualifikationen fuer eine erfolgreiche Kriegfuehrung mitbrachten.

Bernd Bonwetsch (Bochum) nahm mit seinem Referat ueber die Sowjetunion am naechsten Tag die Diskussion wieder auf. Die UdSSR habe, so betonte er, den groessten Anteil zum Sieg ueber Deutschland beigetragen. Bis einschliesslich Stalingrad habe sie den deutschen Angriff weitgehend auf sich allein gestellt abgewehrt, und die anschliessenden Siege ueber die Wehrmacht an der Ostfront seien weniger durch die militaerischen Handlungen der Alliierten in Europa als durch Hilfslieferungen (Lend-Lease) erleichtert worden. Nach allen relevanten objektiven Parametern habe Deutschland die UdSSR nie besiegen koennen, die sich eben nicht als der ertraeumte "Koloss auf toenernen Fuessen" erwies. Die Sowjetunion fiel nicht auseinander, und die Bevoelkerung konnte zu einer enormen Kraftanstrengung mobilisiert werden.

Der Verlauf des Krieges spiegelte Bonwetsch zufolge aber nicht die objektiven Kraefteverhaeltnisse wieder. Die anfaenglichen katastrophalen Niederlagen der Roten Armee, die die Moskauer Fuehrung im Herbst 1941 sogar kurzzeitig an einen verlustreichen Separatfrieden denken liessen, seien nur zu einem geringen Teil mit dem Ueberraschungsmoment und mit militaerisch-technischen Vorteilen der Wehrmacht bei Kriegsbeginn zu erklaeren. Die UdSSR war strategisch auf den Krieg vorbereitet, die Wirtschaft war wie die deutsche eine "Kriegswirtschaft im Frieden", aber radikaler als diese auf einen Krieg des Materials umgestellt. Trotz eines erheblichen Rueckgangs der Industrieproduktion fiel die sowjetische Produktion wichtiger Ruestungsgueter auch 1941/42 nicht unter die deutsche, die sie schon ab 1942 um ein Vielfaches uebertraf. Die Hauptursachen fuer die anfaenglichen Katastrophen lagen nach Bonwetsch im System des Stalinismus und dem persoenlichen Einfluss Stalins. Sie fuehrten 1941/42 zur Ausschaltung militaerischer Optionen wie Defensive und Rueckzug, zur professionellen Verunsicherung des Offizierskorps durch Misstrauen (Kommissar-Institution) sowie Panik- und Verratsvorwuerfen als Erklaerung fuer Niederlagen. Negativ habe sich auch die Einmischung Stalins in die strategisch-operative Planung ausgewirkt, durch die die Erfolge der Roten Armee waehrend des Winters 1941/42 im Fruehjahr 1942 wieder verspielt wurden. Seit den Rueckschlaegen des Sommers habe es jedoch einen Lernprozess gegeben, als dessen Resultat der Professionalitaet des Militaers Vorrang vor politisch-militaerischem Voluntarismus eingeraeumt worden sei. Die schon bei Kriegsbeginn bestehende numerische Ueberlegenheit in Bezug auf Menschen und Material sei dann angesichts der schwindenden deutschen Ressourcen mit Macht zur Geltung gebracht worden.

Bernhard R. Kroener (Potsdam) wies in seinem Referat darauf hin, dass die seit 1933 forcierte deutsche Aufruestung in ihrem Umfang zwar beeindruckend war, hinsichtlich ihrer gleichzeitigen Vernetzung mit militaerischen, politischen und oekonomischen Strukturen, durch die sie eine gewisse Dauerhaftigkeit haette erringen koennen, jedoch unueberwindliche Defizite aufwies. Diese verhinderten, da systemimmanent, selbst unter den Bedingungen militaerischer Erfolge einen Gesamtsieg und konnten spaeter angesichts einer sich rapide verschlechternden Lage schliesslich nicht mehr wirkungsvoll abgebaut werden. Dies gelte ebenso fuer die handlungsleitenden und rahmensetzenden Entscheidungsstrukturen wie auch fuer die zur Kriegfuehrung notwendige materielle und personellen Ressourcenmobilisierung.

Die ideologische Grundposition des nationalsozialistischen Regimes, die den Krieg zur dauerhaften Daseinsform erhoben hatte, liess nach Kroener nur Ausbeutung und Vernichtung, nicht aber einen dauerhaften friedlichen Interessensausgleich zwischen den Maechten zu. Hinsichtlich sowohl der Kriegsspitzengliederung der Wehrmacht als auch der kriegswirtschaftlichen und demographischen Mobilisierung bestanden strukturelle Defizite, die in der vertikalen wie horizontalen Vernetzung der Entscheidungsprozesse gravierende Reibungsverluste provozierten und eine den strategischen Zielsetzungen adaequate Konzentration der vorhandenen Kraefte verhinderten. Diese Kombination aus ideologischen, strukturellen sowie oekonomischen und demographischen Elementen haetten den militaerischen und politischen Handlungsspielraum des Dritten Reiches waehrend des Zweiten Weltkrieges so sehr eingeengt, dass es zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sei, den Krieg aus eigener Anstrengung siegreich zu beenden.

Gerhard Krebs (Berlin) zufolge hatte Japan im Herbst 1941 durch das von ihm selbst provozierte Oelembargo der Westmaechte keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als einen Krieg gegen die ueberlegenen USA zu wagen, den es auf der Basis seiner Treibstoffvorraete etwa fuer zwei Jahre effektiv fuehren zu koennen glaubte. Durch eine Reihe von Blitzfeldzuegen sollte innerhalb eines halben Jahres der gesamte Raum zwischen Burma und dem Bismarck-Archipel unter japanische Herrschaft gebracht werden, um einem dann mutlosen Amerika einen Verhandlungsfrieden zu weitgehend japanischen Bedingungen abzuringen. Obwohl die Eroberungen in der Anfangsphase planmaessig durchgefuehrt wurden, errangen die Amerikaner schon ab Juni 1942 wichtige, wenn auch raeumlich begrenzte Siege, durch die Tokyo gezwungen wurde, seine staendig schrumpfende "unbedingt zu haltende Verteidigungszone" immer wieder neu zu definieren. Ab 1943 habe Japan das Ziel eines stufenweise zu erreichenden Weltfriedens verfolgt, dessen drei Schritte ein deutsch-sowjetischer Sonderfrieden durch japanische Vermittlung, ein Separatfrieden Japans mit China und ein deutsch-italienischer Friedensschluss mit den angelsaechsischen Maechten sein sollten. Dieses Konzept hatte jedoch keinerlei Chance auf Verwirklichung, so dass der Plan oppositioneller Kreise sich allmaehlich durchsetzte, die eine Kapitulation mit anschliessender enger Anlehnung an die USA befuerworteten, um eine bolschewistische Revolution in Japan und eine erhebliche Machtausweitung der UdSSR in Asien zu verhindern. Ein im Juli 1945 nach mehreren Kabinettswechseln vorgelegtes Kapitulationsangebot wurde von den Westmaechte aber nicht ernst genommen. Schliesslich kam es erst nach dem Abwurf der Atombombe zur Kapitulation, durch die ein erbitterter Kampf auf dem Boden des Mutterlandes oder gar ein kollektiver Selbstmord des japanischen Volkes vermieden wurde. In der lebhaften Abschlussdiskussion wurde u.a. der Frage nachgegangen, welche Rolle der Leidensfaehigkeit der Zivilbevoelkerung fuer den Kriegsverlauf zukam. Ebenfalls wurde diskutiert, wie die Bedeutung von Frontverlaeufen und Eroberungen im Kontext des Zweiten Weltkrieges - insbesondere unter dem Aspekt der "Ueberdehnung" - zu bewerten sei. Richard Overy betonte zum Abschluss noch einmal, dass die Frage "why the Allies won" und nicht "why Hitler lost" lauten muesse, wenn man den Ausgang des Krieges angemessen erklaeren wolle. Entsprechend dem Charakter der jaehrlichen Komiteetagungen als Werkstattgespaeche ist eine Publikation der Beitraege als Sammelband o.ae. nicht vorgesehen.

Auf der mit der Jahrestagung verbundenen Mitgliederversammlung des Weltkriegskomitees wurde ein neuer Vorstand, bestehend aus Bernd Wegner (als Vorsitzendem), Rolf- Dieter Mueller (Potsdam), Soenke Neitzel (Mainz) und Fritz Petrick (Greifswald) gewaehlt. Interessenten an der Arbeit des Komitees werden gebeten, sich an den Vorsitzenden (Anschrift: Universitaet der Bundeswehr Hamburg, Seminar fuer Geschichtswissenschaft, 22039 Hamburg) oder eines der anderen Vorstandsmitglieder zu wenden. Die Mitgliedschaft im Komitee steht grundsaetzlich allen Historikerinnen und Historikern offen, die sich professionell mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges befassen.





Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Matthias Reiss" <Matthias.Reiss@UniBw-Hamburg.DE>
Subject: Tagungsbericht: "Programmierter Sieg?"
Date: 02.11.2000


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